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Annett Grösch­ner
» Schwe­bende Lasten

Autorin:Annett Grösch­ner
Titel:Schwe­bende Lasten
Aus­gabe:C. H. Beck Ver­lag Mün­chen, 2. Auf­lage 2025
Erstan­den:Buch­hand­lung Thaer, Ber­lin Friedenau

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»Schwe­bende Las­ten bezeich­nen in der Mecha­nik Objekte oder Gewichte, die mit Hilfe von Maschi­nen oder Vor­rich­tun­gen frei in der Luft bewegt oder gehal­ten wer­den.« Quelle. Tat­säch­lich geht es in dem Roman »Schwe­bende Las­ten« von Annett Grösch­ner um diese »schwe­ben­den Las­ten«, denn die Prot­ago­nis­tin ist auch Kran­füh­re­rin. Der Titel ist jedoch eher im über­tra­ge­nen Sinne gemeint: Wie kann Hanna die Las­ten des Lebens tra­gen und ertra­gen, ohne davon erdrückt zu wer­den? Diese Frage habe ich mir gleich zu Beginn des Romans gestellt, als ich fol­gende Sätze gele­sen hatte: »Dies ist die Geschichte der Blu­men­bin­de­rin und Kran­fah­re­rin Hanna Krause, die zwei Revo­lu­tio­nen, zwei Dik­ta­tu­ren, einen Auf­stand, zwei Welt­kriege und zwei Nie­der­la­gen, zwei Demo­kra­tien, den Kai­ser und andere Füh­rer, gute und schlechte Zei­ten erlebt hat, die bis auf ein paar Monate im Ber­lin der frü­hen 1930er Jahre nie aus Mag­de­burg her­aus­kam, sechs Kin­der gebo­ren hat und zwei davon nicht begra­ben konnte, was ihr nahe­ging bis zum Lebens­ende.« (S. 7). Zeigt sich hier weib­li­che Über­le­bens­kraft, Anpas­sungs­fä­hig­keit und die Auf­gabe eige­ner Wün­sche? Wir wer­den sehen!

Hanna Krause ist die Prot­ago­nis­tin des Romans und Mag­de­burg der Ort des Gesche­hens. Hanna wurde 1913 gebo­ren, hat also schon den 1.Weltkrieg mit­er­lebt, die Wei­ma­rer Repu­blik, die Zeit des Natio­nal­so­zia­lis­mus, den 2. Welt­krieg, die DDR und die Zeit der Wende. 1938 ist sie 25 Jahre alt und zum sechs­ten Mal schwan­ger. Dass die Frau frucht­bare und unfrucht­bare Tage hat, weiß sie nicht. Wenn Karl, ihr Ehe­mann, ange­trun­ken nach Hause kommt, muss er auf der Küchen­bank schla­fen. »Eine bes­sere Form der Gebur­ten­kon­trolle kannte Hanna nicht.« (S. 42). Hanna ist Blu­men­händ­le­rin, ist stolz dar­auf, dass sie einen eige­nen Laden hat. Die Blu­men sind für Hanna lebens­wich­tig und bie­ten ihr Trost, wenn alles über sie zusam­men zu bre­chen scheint. Hanna spricht mit ihren Blu­men, die auch Bot­schaf­ten ver­mit­teln kön­nen. »Wenn Hanna der Mei­nung war, dass die Fal­schen sich gefun­den hat­ten, band sie Trä­nen­des Herz in den Hoch­zeits­strauß.« (S. 48). Ansons­ten bin­det sie Myr­ten­kränze, auch für ihre eigene Hoch­zeit, die jetzt hin­ter dem Laden­tisch hän­gen. »Ver­trock­net, aber solide, wie ihre Bezie­hung zu Karl. Alles hatte seine Ord­nung. Bei genaue­rem Hin­se­hen sahen sie aus wie Hand­schel­len.« (S. 48). Dann beginnt der 2. Welt­krieg, die Män­ner wer­den ein­ge­zo­gen und »ver­san­ken im Schlamm mit ihrer Welt­spit­zen­tech­nik oder fan­den den Tod in der Maschine, die sie selbst her­ge­stellt hat­ten.« (S. 73). Im Sep­tem­ber 1944 sucht Hanna mit ihren Kin­dern Schutz in der Neu­stadt, deren Bewoh­ner von Karl so beschrie­ben wer­den: »Sieg­fried, Hagen, Euphe­mia. Namen wie ein End­sieg.« (S. 116). Hier fin­det sie kei­nen Schutz vor den Bom­ben, der Luft­schutz­wart lässt sie mit ihren Kin­der nicht in den Bun­ker: »In der Kir­che ist noch ein Kel­ler. Da schützt sie Gott.« (S. 117). Hier wird sie mit ihren Kin­der ver­schüt­tet aber geret­tet. Bein Hin­aus­tre­ten ins Freie wird ihr Sohn Johan­nes von einer Feu­er­walze ver­schlun­gen. Seine kleine Schwes­ter Eli­sa­beth zit­tert am gan­zen Leib und sagt: »Johan­nes. Er ist weg­ge­flo­gen.« (S. 120). Hier wird detail­ge­nau beschrie­ben, was Krieg für jeden ein­zel­nen Men­schen bedeu­tet und sollte von jedem gele­sen wer­den, der heut­zu­tage von »Kriegs­tüch­tig­keit« spricht.

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Annett Grösch­ner Foto: Sebas­tian Wells / OSTKREUZ / DER SPIEGEL | Quelle

Und Hanna? Den Glau­ben an Gott hat sie ver­lo­ren und den an die Men­schen auch. »Hanna exis­tierte. Nicht mehr und nicht weni­ger. Sie hatte ver­sucht, über die Men­schen nach­zu­den­ken, war aber zu kei­nem Ergeb­nis gekom­men, außer dass Blu­men ihr mensch­li­cher vor­ka­men als ihre eigene Gat­tung.« (S. 126).

Aus vie­len Situa­tio­nen ver­sucht Hanna das Posi­tive zu zie­hen. Ihr Mann Karl hatte einen Arbeits­un­fall und jetzt nur noch ein Bein. »Karls Unfall hat nicht nur Schat­ten­sei­ten. Jetzt kann er mir nicht mehr hin­ter­her­ren­nen, er kann mir nichts ver­bie­ten, er braucht mich. Wäh­rend ich weiß, ich schaff das auch ohne ihn.« (S. 146). Sie bringt ihre sechs Kin­der und ihren inva­li­den Ehe­mann mit ihrer Arbeit als Kran­füh­re­rin im Stahl­werk der DDR durch. Als Frau in einem Män­ner­be­ruf, da bekam die Frau mehr Lohn. Aber im Grunde ihres Her­zens ist sie Blu­men­bin­de­rin geblie­ben. Das zeigt Annett Grösch­ner auch dadurch, dass sie zu Beginn und zum Ende des Romans ein Gemälde erwähnt. Denn zu Beginn des Romans betritt ein Mann Han­nas Laden und zeigt ihr das Foto eines Gemäl­des und bit­tet sie die­sen Strauß zu bin­den. Hanna erkennt, dass das unmög­lich ist, weil die Blu­men nicht zur glei­chen Zeit blü­hen. Am Ende des Romans besucht sie mit ihren Töch­tern, das Museum in Den Haag, in dem das Gemälde von Bos­schart hängt. Hier ver­sucht sie als alte Frau mit den Zei­ge­fin­gern die Blü­ten zu zäh­len und ist ver­sun­ken »in die stille Zwie­spra­che, die sie mit jeder ein­zel­nen Blüte hielt.« (S. 265).

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Ambro­sius Bos­schaert, Blu­men­vase in einer Fens­ter­ni­sche | Quelle

Hanna hat sich – zu wel­cher Zeit auch immer – nicht den Mund ver­bie­ten las­sen. Aber »Hanna ist keine Wider­stands­kämp­fe­rin. Aber sie hat Momente, wo sie ein­fach nicht anders kann als Wider­stand, auch wenn es völ­lig unüber­legt ist. Sie kann nicht akzep­tie­ren, dass ihre jüngste Toch­ter in einem Arbei­ter­staat ins Gefäng­nis kommt. Und dass diese Toch­ter, bevor sie ins Gefäng­nis kommt, zur Strafe auf den Kran muss. Da stimmt für sie das Welt­bild nicht mehr. Das hat bei ihr was kaputt­ge­macht, ich glaube, das ging vie­len in der Gene­ra­tion so am Ende der DDR.« So Annett Grösch­ner in einem Inter­view. Quelle

Der Roman hat mich sehr beein­druckt, denn »Annett Grösch­ner erzählt wirk­lich­keits­s­att und unprä­ten­tiös von einer Mag­de­bur­ger Arbei­te­rin, die trotz aller Wid­rig­kei­ten vor allem eines blei­ben wollte: anstän­dig.« Quelle  Hanna ist eine Frau, die es sicher mil­lio­nen­fach gege­ben hat und immer noch gibt. Diese Frauen tau­chen aber kaum auf, weder in den Geschichts­bü­chern noch in Repor­ta­gen aus heu­ti­gen Kriegs­ge­bie­ten. Hanna ist eine eman­zi­pierte Frau, die weiß, was sie will und kann und bringt so ihre Fami­lie durch schwie­rigste Zeiten.

Sehr lesens­wert!


Nach­trag: Bei der Dis­kus­si­ons­ver­an­stal­tung mit Annett Groesch­ner wurde betont, dass gerade die Poli­ti­ker, die heute von »Kriegs­tüch­tig­keit« spre­chen und dabei von den Medien mas­siv unter­stützt wer­den, auch um Angst zu erzeu­gen, die­sen Roman lesen soll­ten. Zum 80. Jah­res­tag der Befrei­ung und der bedin­gungs­lo­sen Kapi­tu­la­tion Ber­lins am 2. Mai 1945 fand wie­der die jähr­li­che Ver­an­stal­tung im Schu­len­burg­ring 2 statt, orga­ni­siert von Gitti und Achim Dil­lin­ger. Hier betonte der Spre­cher der Haus­ge­mein­schaft, Achim Dil­lin­ger, dass man hoffe, dass bald wie­der Zei­ten ein­tre­ten, in denen sich eine Freund­schaft zwi­schen Rus­sen und Deut­schen wie­der ent­wi­ckeln könnten.

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© pri­vat

In den letz­ten Kriegs­ta­gen zwi­schen dem 16. April und dem 2. Mai 1945 star­ben auf deut­scher und sowje­ti­scher Seite ins­ge­samt rund 173.000 Sol­da­ten, wei­tere 480.000 Sol­da­ten wur­den ver­wun­det. Hier wei­tere Infor­ma­tio­nen über die jähr­lich statt­fin­dende Veranstaltung.

Unterschrift
Mar­gret Hövermann-Mittelhaus

20. Jahrhundert, 2025 rezensiert, Annett Gröschner, Arbeiterin, C. H. Beck Verlag, DDR, Emanzipation, Magdeburg