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Granin-Bahnbrecher

Daniil Gra­nin
» Bahn­bre­cher

Autor:Daniil Gra­nin (UdSSR, 1955)
Titel:Bahn­bre­cher
Über­set­zung:E. Mar­go­lis
Aus­gabe:Dietz Ver­lag, Bert­lin, DDR, 1959
Erstan­den:Anti­qua­risch via ZVAB

Das Cover des Buches

Der Tod des Autors in die­sem Jahr, war für mich Anlass, einen »Kon­vu­lut« sei­ner Werke beim ZVAB zu bestel­len. Ich bekam eine Rie­sen­aus­wahl von Wer­ken Granins, die auch in Exempla­ren der DDR-Zeit­schrift »Das Maga­zin« (die »Bück­ware« mit den Nack­ten) bzw. der Zeit­schrift »Sowjet-Lite­ra­tur« in Mos­kau (hier die deut­schen Aus­ga­ben) ver­öf­fent­licht wur­den. Gra­nin, der 2014 im Deut­schen Bun­des­tag sprach, galt immer als unan­ge­pass­ter, äußerst kri­ti­scher Schrift­stel­ler, was ihn in der DDR sehr beliebt machte (vgl. »Gele­sen im Mai 2016«). – So han­delt der »Bahn­bre­cher« (Granins ers­ter gro­ßer Roman, Ori­gnal­ti­tel »Die, die suchen«), eben zuerst in der »Sowjet-Lite­ra­tur« ver­öf­fent­licht, von einem Elek­tro-Inge­nieur Andrej (das war Gra­nin selbst von der Aus­bildung), der gegen alt­her­ge­brach­ten Trott, Besitz­standdenken und die träge Büro­kra­tie an sei­ner Idee fest­hält, ein neues radar­ge­stütz­tes Sys­tem zu ent­wi­ckeln, mit dem das Auf­spü­ren von Leitungs­störungen revo­lu­tio­niert würde. Was er sogar gegen eine ver­lo­gene pro­fes­so­rale Auto­ri­tät der Aka­de­mie durch­set­zen muss. – Mit weni­gen Feder­stri­chen ver­setzt Gra­nin den Leser in einen Kos­mos des Kraft­werks, der Labo­ran­ten, der tech­ni­schen Abtei­lung, der Men­schen und ihrer Bezie­hun­gen unter­ein­an­der, mensch­lich-rea­lis­tisch (kein »sozia­lis­ti­scher Rea­lis­mus«). Wobei man­ches noch eckig, unfer­tig wirkt. Gra­nin, der noch mit 94 Jah­ren schrieb, war hier erst 37.

Die Gerad­li­nig­keit des jun­gen Inge­nieurs macht auch vor einem sei­ner einst­mals bes­ten Freun­de nicht halt, der, selbst tech­nisch unfä­hig, als Büro­krat allem Neuen feind­lich gegen­über steht. Eine Kon­flikt­li­nie lau­tet: Soll man in der Abtei­lung mit ein­fa­chen Repa­ra­tu­ren viel Geld ver­die­nen, oder den Ver­dienst (vor­über­ge­hend) der Inno­va­tions-Ent­wick­lung zuguns­ten zu­rückstellen? Ein typi­sches Pro­blem der (sowjet.) Plan­wirt­schaft übri­gens, dem sich die­ses Buch zen­tral wid­met, genauso wie die Ten­denz vie­ler, auf der Arbeit eine mög­lichst ruhige Kugel zu schie­ben, mög­lichst viel abzu­stau­ben und sich ansons­ten der Vet­tern­wirt­schaft und der »pri­va­ten Wirt­schaft« zu wid­men; was in der DDR unter dem Spruch bekannt war: »Frei­tag ab eins, macht jeder seins.«

Im »Bahn­bre­cher« erlebt man haut­nah, wie kurz­sich­tige Funk­tio­näre Inno­va­tio­nen um kurz­fris­ti­ger Vor­teile wil­len nach Kräf­ten behin­dern (»bloß nix ris­kie­ren«) und Visio­näre wie den jun­gen Andrej mit Hin­ter­list zu blo­ckie­ren ver­su­chen, woge­gen sich der mit Hilfe eines auf­rech­ten Par­tei­funk­tio­närs, des Werk­lei­ters, aber auch einer an sei­ner Ent­wick­lung inter­es­sier­ten Armee zur Wehr zu set­zen ver­sucht. Seine Geg­ner zei­gen mit­un­ter Ein­sicht, ohne sich aus ihrer Rolle lösen zu kön­nen: »Sie haben Recht, .. Ich bin ein Lei­se­tre­ter und habe kein Rück­grat. Aber von mei­ner Sorte gibt es viele, .., ja, sehr viele.« – Die »Lei­se­tre­ter« ver­hin­dern sogar das Erschei­nen eines Arti­kels Andrej in einer wis­sen­schaft­li­chen Zeit­schrift, in der er die theo­re­ti­sche Fun­die­rung sei­ner Ent­wick­lung dar­legt. – Wie­viele Licht­jahre die­ses sowje­ti­sche Leben (der Roman dürfte in den Fünf­zi­ger Jah­ren des 20. Jhdts. spie­len) von unse­rer »west­li­chen« Rea­li­tät heute ent­fernt war, kommt in einem Pas­sus zum Aus­druck, wo Andrej eine andere Werks­abteilung um eine kleine Zeich­nung als Hil­fe­stel­lung bit­tet, deren Lei­ter Smo­rodin, das aber nicht unen­gelt­lich tun will : »Ihre Zukunft, Smoro­din, macht mir eben­falls Sor­gen. Das eigene Wis­sen als Einnahme­quelle betrach­ten….« Andrejs Nasen­flü­gel beb­ten angewidert.«

Wieso Ent­gelt, fragt er sich, wenn wir doch eigent­lich alle am glei­chen Ziel arbei­ten, wieso damit »schachern« ?

Nicht ver­ges­sen wird – neben der Schön­heit eines »Elektro­berufs« und dem Leid und Glück von For­schern – auch die per­sön­li­che Ent­wick­lung des jun­gen »Bahn­bre­chers«, der noch ler­nen muss, ein Labor zu lei­ten, mit Mit­ar­bei­tern umzu­ge­hen, eine pas­sende Gefähr­tin zu fin­den, zum Vor­ge­setz­ten zu rei­fen. Seine Lie­bes­ge­schichte mit der Zufalls­be­kannt­schaft Marina über­zeugt nicht ganz, aber wie Andrejs kon­se­quente Arbeits­hal­tung mit sei­nen pri­va­ten Sor­gen ver­knüpft wird – Respekt.

Hier merkt man schon eine manch­mal holz­schnitt­ar­tige Unfer­tig­keit des Autors, ohne dass es je pein­lich wird.

Daniil Granin, im Alter von knapp 90 Jahren
Daniil Gra­nin, im Alter von knapp 90 Jah­ren (Quelle)

Gra­nin greift immer wie­der Facet­ten eines untaug­li­chen (sowje­ti­schen) Wirt­schafts­sys­tems auf, wo immer wie­der Neu­ig­kei­ten nicht genutzt, ihr Ein­satz nicht voran getrie­ben wird, ein­fach weil es unbe­quem ist, sei­nen Lohn, das Gehalt bekommt man ja so auch; eine grund­le­gende Schwä­che der Wirt­schaft der SU und der DDR. Sawin, sei­nes Zei­chens mitt­le­rer KPdSU Funk­tio­när dazu: »Die bes­ten Schöp­fer sind oft zu zurück­hal­tend. um sich gegen die Schwät­zer durch­zu­set­zen.« Und bestechend die Ein­schät­zung eines beson­ders raf­fi­nier­ten, alle Innova­tion abweh­ren­den Dog­ma­ti­kers: »Äußer­lich scheint alles in Ord­nung zu sein … In Wirk­lich­keit aber ist das Gier nach Macht. Das hat Pota­penko ver­dor­ben. Ehr­geiz, Stre­ber­tum. Woher kommt das nur?« – Welch eine Meta­pher für macht­gie­rige selbst­süch­tige, aber eigent­lich unfä­hige Büro­kraten, die so kenn­zeich­nend für nega­tive Sei­ten des sowje­ti­schen Sys­tem waren.

Gra­nin wählt ein ziem­lich kra­chen­des Ende sei­nes Buchs, in einer Sit­zung des ent­schei­den­den Par­tei­kom­mit­tees erfolgt gera­dezu ein Auf­stand gegen die (her­kömm­li­che) Sit­zungs­lei­tung. Dr Vor­wurf des Ver­sto­ßes gegen das Prin­zip der kol­lek­ti­ven Lei­tung, ein Auf­stand gegen die, die alles für sich miss­brau­chen, die alles kaputt machen. Und bringt noch Span­nung hin­ein, weil das neue Such­ge­rät zunächst schein­bar ver­sagt – in Wirk­lich­keit aber noch mehr leis­tet als erwar­tet. – Sehr zu schät­zen bei der Per­so­nen­viel­falt und der Varia­bi­li­tät des rus­si­schen Namensge­brauchs ist auch ein ein­ge­leg­tes Per­so­nen­ver­zeich­nis, heute unter dem Dik­tat der Pro­fi­ta­bi­li­tät kaum mehr anzu­tref­fen­des Literatur-Gimmick.

Gra­nin zeigt sich mit sei­ner rea­li­täts­na­hen, unge­schmink­ten Kri­tik am sowje­ti­schen (Wirtschafts-)System als uner­schro­cke­ner Autor, der unbe­queme Wahr­hei­ten zum Kern des Buchs macht. Ob ein grö­ße­rer Ein­fluss von ehr­li­chen, offe­nen, undog­ma­ti­schen Men­schen wie ihm, das kra­chende Schei­tern des sowje­ti­schen Sys­tems hätte ver­hin­dern können?

Hoch­in­ter­es­sant!

2017 rezensiert, Bürokratie, Daniil Granin, Planwirtschaft