Ulla Hahn
» Aufbruch
Autor: | Ulla Hahn (Deutschland 2009) |
Titel: | Aufbruch |
Ausgabe: | DVA 2010 Büchergilde |
Erstanden: | Büchergilde Gutenberg |
Der 2. Band des Hilla Palm Quintetts (Bd. 1 im April 2018), des autobiografischen Aufbruchs der Autorin aus rheinisch-katholischer Provinzenge. In der die Wortesammlerin weitere Stationen ihres Aufbruchs wiedergibt: Das Aufbaugymnasium mit lebendiger Lateinstunde, k.O. in Mathe, Literaturdiskussionen z.B. zu Bölls »Ansichten eines Clowns«. Mit Sprachspielen notierte Gespräche, Godehard, der Lover und Großkotz, das poetische Petting, G., der nicht versteht, wenn für Hilla im Lesen das Suchen zur Antwort geworden war. Die geniale Beschreibung des Essens für die niederen Stände bei Frau Direktor, der Blick nach Innen – Tanzen! Zur Musik der Beatles, Glück der Generation damit Aufwachsender. Aber – sie kommt aus keinem guten Stall – ätzende Arroganz der reich Geborenen. Die ganzen Widersprüche der Beziehung zum reichen Lover, der fantastisch erlebte 1. Opernbesuch, zu Hause gab’s Radio Luxemburg. Historisches: Alte Fernsehhighlights, der Auschwitzprozess, die Worte, die im 3. Reich verfolgt wurden wie Menschen. Die Nazisprache, »Wer die Herrschaft über die Sprache hat, hat die Herrschaft über die Menschen« – Erkenntnisse ihres Lehrers.
Nun die neue Zeit: Ein Supermarkt mit Selbstbedienung, das Ende der »Tante Emma Läden«, »Sale« statt Kommunikation. Aber der Blick in den Einkaufskorb verrät nun den sozialen Status.
Die Entsetzlichkeit ihrer Vergewaltigung, sie fällt darob ins Wortdesaster: Ich hieß das Opfer und das Opfer war selber schuld. Das Erleben trennt sie von der alten Zeit, »eingekapselt in gefrorene Tränen.« Das Unglück in Mathe und der Schulrat, der nach der Waldlichtung der Notzucht riecht.
Auf den Aufbruch mit ihren Wortsteinen folgt der erste der Lokalität, die Uni in der Großstadt Köln. Dabei die irrsinnigen Plusterrituale der damaligen »Magnifizenzen« an der Uni. Verständnisschwierigkeiten an der Uni, Ängste, wissenschaftliches Lesen: Wissen als Panzer gegen das Gefühl. Die kontaktlose Einsamkeit, in der Bibliothek hinter Büchern verschanzen, »zum Armsein ohne Angst fehlte mir das Selbstbewusstsein«. Ihr, die Tochter eines Proleten, ihr Vater, der ihr endlich gestehen konnte, ihm sei die Bücherliebe mit dem Ochsenziemer ausgetrieben worden.
Ihr Heimatdorf verändert sich nun auch, es war Stadt geworden.
Und wieder die schönen Erinnerungsstücke für ähnlich alte Leser: Gemeinsames Katalog ansehen, Bärenmarke+Glücksklee, Taxi nach Texas. Heute vergessen: Der katholische Index der verbotenen Bücher, mehr als 500, bis in die Sechziger. Dann das selbst verdiente Geld der Ferien-Fabrikarbeit, ihr Panzer der eintausend D-Mark.
Ihr Umzug ins katholische Studentinnenwohnheim, ein neuer großer Schritt aus der Provinz, der Abschied, die Memorabilia im Koffer, das erkämpfte Einzelzimmer, die »Dorfpflanze« ist gewachsen. Dazu rheinische Heiterkeitskrämpfe, toll, was sie aus dem Abschied im Bahnhof macht. Ihre impressionistische Schilderung der Zahnbehandlung, die hilflose Situation und die Verarbeitung der Lichtungs-Horrornacht, das Glück des Überstandenen. Das ist auch so typisch für den »Aufbruch«: immer wieder die Zauberei meisterhafter kleiner Szenen, so der Abriss der Gärtnerei der werdenden Stadt Dondorf. Und wie die Sprache der Hahn deutlich macht, was ihr die Situation bedeutet.
Manchmal gerät man in die Gefahr, in ihren Wortmeeren zu ertrinken und vermisst das Floß der stringenten Erzählung. Dabei erscheinen die Wortgewitter nicht immer der Inhaltslandschaft angemessen. Vielleicht ist da eher der Leser das Problem, auffällig, wie ich, als atheistisch erzogener Berliner, seinerzeit Großstadt + Universität völlig anders erlebt habe. Wie schwer es mir fällt, den ohnmächtigen Ängsten der Provinzlerin in der Metropole zu folgen, deren Darstellung eine Leistung der Autorin ist. Wie oft meine Frau – aus dem katholischen Osnabrücker Land – mir Hilla Palms Welt begreiflich machen musste. Dabei schildert sie hier nur die Enge, die Zwänge kommen erst im Folgeband. Ihre TV-Erinnerungen sind mir – eher glücklicherweise – erspart geblieben, unsere Familie hatte überhaupt keinen Fernseher.
Dennoch: Dat Hilla, mit Wortsteinen immer auf der Suche nach ihrer Geschichte und lange unbefreit von der Nacht auf der Lichtung – eigentlich großartig.
Großen Respekt, wie Ulla Hahn ihren persönlichen Aufbruch aus dem Dorf und zur Universität wieder mit Bildern unseres Landes vor 60 Jahren prägend stempelt, Geschichte plastisch, rheinisch speziell, werdend lässt.
Manchmal geschwätzig, nicht immer für einen unkatholischen Großstädter verständlich, weil zu fremd, insgesamt aber wieder:
Großartig!
2018 rezensiert, Biografisches, DVA/Büchergilde, Ulla Hahn, Zeitgeschichte