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Ulla-Hahn-Spiel-der-Zeit-230

Ulla Hahn
» Spiel der Zeit

Autor:Ulla Hahn (Deutsch­land 2014)
Titel:Spiel der Zeit
Aus­gabe:DVA, 2014
Erstan­den:Anti­qua­risch

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Im drit­ten Band des Auf­bruchs der Hilla Palm aus rhei­nisch-katho­li­scher Pro­vinz­enge spie­len deren Zwänge eine große Rolle. So bei dem Drama der schwan­ger gewor­de­nen Kom­mi­li­to­nin Gre­the, die sich aus­ge­rech­net ihrer »hei­len Fami­lie« nicht anver­trauen kann, ihrer Abtrei­bung und Flucht ins Klos­ter. Etwas unver­mit­telt, aber beein­dru­ckend Hil­las Gedicht zur ver­stüm­meln­den Bru­ta­li­tät der Beschnei­dung. Wie­der die fes­selnde Durch­drin­gung per­sön­li­cher Ent­wick­lung und quer gebürs­te­ter BRD-Geschichte der Sech­zi­ger: Wie sie einer ech­ten Liebe, Hugo, auf dem Ball als »Käfer« und »Raupe« begeg­net. Hugo der sie aus ihrer Not­zucht-Erstar­rung löst, ihre Kap­sel löst, sie weg­strei­chelt, sie zu Liebe und Begeh­rern zurück­führt. Sie auf eben jener Lich­tung des Gesche­hens das Wort sagen lässt – fan­tas­tisch. Ein­ge­bet­tet in Gesche­hen jener Zeit: Der Kup­pe­lei-Para­graph der 60’er, der den Eros in die kirch­li­che Zwangs­ja­cke pres­sen will. Der Oster­marsch 1967 in Essen, ein viel­fäl­ti­ges Erleb­nis, alt­ein­ge­ses­sene Läden ster­ben an Penny&Co, die Lügen über den Mord an Benno Ohnes­orge, wie man zu Hause die Demos erklärt – oh ja, nicht ver­ges­sen. Wer­bung: Ra-Ra Rachen­gold und der Spruch eines Fritz Teu­fel zum Gerichts­ri­tual des Auf­ste­hens: »Wenn’s der Wahr­heits­fin­dung dient…«

Das (Er-)Leben mit Hugo, wie­der aus rei­chem Hause, Hugo, der am Rhein ihre Wur­zeln erfühlt, der von sei­nem Vater ver­ach­tet wird. Hugos Fami­lie, Geld in irrea­ler, in sur­rea­ler Menge, die Burg derer von Brei­den­bachs, deren Gruft flüs­tert: Was willst Du hier, Hilla Palm? Die Tor­tur des gemein­sa­men Abend­essens auf der Burg, ihr »Arme-Leute-Gebiss«, Du kommst aus der Hefe! Aber Hilla steht zu ihren Eltern. Und zu ihrer Ger­ma­nis­tik, die Begeg­nung mit der »Deut­schen Ideo­lo­gie, Marx/Engels statt dem Begriffs­ge­tüm­mel der Lin­gu­is­ten: »Mit Liebe und Lin­gu­is­tik, Mao und Chaos genie­ßen Hilla und Hugo ihren ers­ten Herbst nach dem ers­ten Sommer..«

Wie mes­ser­scharf die pro­le­ta­ri­sche Hilla sieht, wie sich die Klein­bür­ger in Facet­ten der Stu­den­ten­be­we­gung aus­to­ben. Sel­ten unge­recht dage­gen ihre Schil­de­rung Rudi Dutsch­kes und sei­nes Auf­tritts – warum so viel Unver­ständ­nis dem Bewe­ger der 68’er?

Ja, es waren z.T. auch Schau­kämpfe diese Teach-Ins der Zeit, wo mit dem Gehirn­kas­ten geprotzt wurde, aber warum bleibt sie so selt­sam distan­ziert zu die­ser Bewe­gung? Warum rückt sie die Kom­mu­nis­tin Katja in die Nähe des Katholizismus?

Lukas van Keu­ken taucht auf, die Gemein­sam­keit von Chris­ten­tum und Kom­mu­nis­mus. Letz­te­rer ist geschei­tert, aber wann ist das Chris­ten­tum jemals rea­li­siert worden?

Bele­bend die wilde Pat­schuli-Tante aus Kali­for­nien, die das Lied Scott McKen­zies liebt, die Hymne des Flower Power, dann die Kli­nik des Onkels in Meran, die wahr­haft »irre« Geschichte des Dich­ters Ezra Pound, wie wider­sprüch­lich darf ein Dich­ter sein, der »175’er« Richard, etwas viel für das Mäd­chen aus Dondorf?

Ihr Ärger über Facet­ten der Anti-Auto­riä­ren, fest­ge­macht an der Syl­ves­ter­party: »Alles, was ist, ver­dam­men, aber selbst nichts Eige­nes zustande zu brin­gen.« Fehlt da nicht nur noch »Geht doch rüber?«

Schön das Erle­ben im Onkel­gar­ten, ».. sol­che Bäume haben ihre eigene Quelle – und wir Men­schen brau­chen die auch.« Dazu passt ihre Begeg­nung mit dem Ein­sied­ler. Dage­gen fin­det man in ihrer Ana­lyse von Pound schon eine Frau Pro­fes­so­rin Palm in spe.., erneute Aus­flüge in die­ser Rich­tung, denen Nicht-Sprach­wis­sen­schaft­ler kaum fol­gen können.

In der Demo gegen die Not­stands­ge­setze wird Hilla end­lich poli­tisch aktiv – oder doch nicht? Wie »unbür­ger­lich« die aus­sa­hen, die aus dem Ber­li­ner Zug kamen, auch hier wie­der ein merk­wür­dig distan­zier­ter Bericht, mehr jour­na­lis­tisch, denn echte Demo-Betei­li­gung. Für mich waren die dama­li­gen Demons­tra­tio­nen wich­tige Ver­än­de­run­gen des All­tags und Mensch­wer­dung. Und für die Autorin nur Objekt ihrer schrift­stel­le­ri­schen Tätig­keit? Worin steckt ihre Seele?

Klar, für Hilla Palm war in die­ser Zeit die Zwei­sam­keit mit Hugo das Zen­trum ihres Lebens, nicht die Poli­tik – aber war die kei­ner kri­ti­schen Nach­be­trach­tung wert, die sie doch in ande­rem so expli­zit pflegt?

Aber immer wie­der ihre Sprach­spiele, so von einem Feri­en­job als Restau­rant­tes­te­rin: »Test­esser, Tex­tes­ser, Fest­esser, Fett­esser: Ende des Semes­ters passte ich in keine Hose mehr.«

Das eklige Fami­li­en­fest der Brei­den­bachs, die gif­tige Aggres­sion von Hugos Schwes­ter, ihre »Sätze, die sich wie Hände von hin­ten um dei­nen Hals legen.« – wow!

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Die Autorin Ulla Hahn
Bild vom Cover

Hugos Ekel ob der Fami­lie und seine effekt­volle Lösung der Verlobungsanzeige.

Der katho­li­sche Kir­chen­tag (für mich völ­lige Exo­tik), eine »Tüte« für Kar­di­nal Frings (köst­lich), die Rand­gruppe KHG, die Demo Hei­lig­abend ’68 in der Gedächt­nis­kir­che, Ver­an­stal­tung abends mit Sölle und Böll, und selbst dabei kehrt die Autorin das Reli­giöse her­aus, wäh­rend sie Flower Power nicht ver­ste­hend kari­kiert – uff! Was für eine sub­jek­tive Chronistin!

Es ist Ulla Hahns sprach­li­che Er- oder Über­hö­hung des All­tags, was das Buch gleich­zei­tig schön und schwer macht, es stel­len­weise auch zer­fa­sern lässt – wie Erin­ne­run­gen im Men­schen eben sind. Mich ver­stört jedoch, dass sie bei aller Erin­ne­rung nicht ein­mal ver­sucht, den Herr­schafts­me­cha­nis­mus von Kir­chen und eben auch der katho­li­schen begreif­bar zu machen, denn zu ana­ly­sie­ren. Hat sie sich von die­sem »Glau­ben« nie frei machen kön­nen? Stel­len­weise war es mir zu viel Geplau­dere statt strin­gen­ter Erzäh­lung, zu viel fiese Distanz vom Auf­bruch der acht­und­sech­zi­ger und zuviel Kri­tik am Popanz von deren Rand­er­schei­nun­gen, statt Lob der zeit­li­chen Fernwirkung.

Auch wenn es für mich der schwächste Band des Hilla Palms Quar­tett war, allemal:

Sehr emp­feh­lens- und lesenswert!

2018 rezensiert, Biografisches, DVA, Ulla Hahn, Zeitgeschichte