Ulla Hahn
» Spiel der Zeit
Autor: | Ulla Hahn (Deutschland 2014) |
Titel: | Spiel der Zeit |
Ausgabe: | DVA, 2014 |
Erstanden: | Antiquarisch |
Im dritten Band des Aufbruchs der Hilla Palm aus rheinisch-katholischer Provinzenge spielen deren Zwänge eine große Rolle. So bei dem Drama der schwanger gewordenen Kommilitonin Grethe, die sich ausgerechnet ihrer »heilen Familie« nicht anvertrauen kann, ihrer Abtreibung und Flucht ins Kloster. Etwas unvermittelt, aber beeindruckend Hillas Gedicht zur verstümmelnden Brutalität der Beschneidung. Wieder die fesselnde Durchdringung persönlicher Entwicklung und quer gebürsteter BRD-Geschichte der Sechziger: Wie sie einer echten Liebe, Hugo, auf dem Ball als »Käfer« und »Raupe« begegnet. Hugo der sie aus ihrer Notzucht-Erstarrung löst, ihre Kapsel löst, sie wegstreichelt, sie zu Liebe und Begehrern zurückführt. Sie auf eben jener Lichtung des Geschehens das Wort sagen lässt – fantastisch. Eingebettet in Geschehen jener Zeit: Der Kuppelei-Paragraph der 60’er, der den Eros in die kirchliche Zwangsjacke pressen will. Der Ostermarsch 1967 in Essen, ein vielfältiges Erlebnis, alteingesessene Läden sterben an Penny&Co, die Lügen über den Mord an Benno Ohnesorge, wie man zu Hause die Demos erklärt – oh ja, nicht vergessen. Werbung: Ra-Ra Rachengold und der Spruch eines Fritz Teufel zum Gerichtsritual des Aufstehens: »Wenn’s der Wahrheitsfindung dient…«
Das (Er-)Leben mit Hugo, wieder aus reichem Hause, Hugo, der am Rhein ihre Wurzeln erfühlt, der von seinem Vater verachtet wird. Hugos Familie, Geld in irrealer, in surrealer Menge, die Burg derer von Breidenbachs, deren Gruft flüstert: Was willst Du hier, Hilla Palm? Die Tortur des gemeinsamen Abendessens auf der Burg, ihr »Arme-Leute-Gebiss«, Du kommst aus der Hefe! Aber Hilla steht zu ihren Eltern. Und zu ihrer Germanistik, die Begegnung mit der »Deutschen Ideologie, Marx/Engels statt dem Begriffsgetümmel der Linguisten: »Mit Liebe und Linguistik, Mao und Chaos genießen Hilla und Hugo ihren ersten Herbst nach dem ersten Sommer..«
Wie messerscharf die proletarische Hilla sieht, wie sich die Kleinbürger in Facetten der Studentenbewegung austoben. Selten ungerecht dagegen ihre Schilderung Rudi Dutschkes und seines Auftritts – warum so viel Unverständnis dem Beweger der 68’er?
Ja, es waren z.T. auch Schaukämpfe diese Teach-Ins der Zeit, wo mit dem Gehirnkasten geprotzt wurde, aber warum bleibt sie so seltsam distanziert zu dieser Bewegung? Warum rückt sie die Kommunistin Katja in die Nähe des Katholizismus?
Lukas van Keuken taucht auf, die Gemeinsamkeit von Christentum und Kommunismus. Letzterer ist gescheitert, aber wann ist das Christentum jemals realisiert worden?
Belebend die wilde Patschuli-Tante aus Kalifornien, die das Lied Scott McKenzies liebt, die Hymne des Flower Power, dann die Klinik des Onkels in Meran, die wahrhaft »irre« Geschichte des Dichters Ezra Pound, wie widersprüchlich darf ein Dichter sein, der »175’er« Richard, etwas viel für das Mädchen aus Dondorf?
Ihr Ärger über Facetten der Anti-Autoriären, festgemacht an der Sylvesterparty: »Alles, was ist, verdammen, aber selbst nichts Eigenes zustande zu bringen.« Fehlt da nicht nur noch »Geht doch rüber?«
Schön das Erleben im Onkelgarten, ».. solche Bäume haben ihre eigene Quelle – und wir Menschen brauchen die auch.« Dazu passt ihre Begegnung mit dem Einsiedler. Dagegen findet man in ihrer Analyse von Pound schon eine Frau Professorin Palm in spe.., erneute Ausflüge in dieser Richtung, denen Nicht-Sprachwissenschaftler kaum folgen können.
In der Demo gegen die Notstandsgesetze wird Hilla endlich politisch aktiv – oder doch nicht? Wie »unbürgerlich« die aussahen, die aus dem Berliner Zug kamen, auch hier wieder ein merkwürdig distanzierter Bericht, mehr journalistisch, denn echte Demo-Beteiligung. Für mich waren die damaligen Demonstrationen wichtige Veränderungen des Alltags und Menschwerdung. Und für die Autorin nur Objekt ihrer schriftstellerischen Tätigkeit? Worin steckt ihre Seele?
Klar, für Hilla Palm war in dieser Zeit die Zweisamkeit mit Hugo das Zentrum ihres Lebens, nicht die Politik – aber war die keiner kritischen Nachbetrachtung wert, die sie doch in anderem so explizit pflegt?
Aber immer wieder ihre Sprachspiele, so von einem Ferienjob als Restauranttesterin: »Testesser, Textesser, Festesser, Fettesser: Ende des Semesters passte ich in keine Hose mehr.«
Das eklige Familienfest der Breidenbachs, die giftige Aggression von Hugos Schwester, ihre »Sätze, die sich wie Hände von hinten um deinen Hals legen.« – wow!
Hugos Ekel ob der Familie und seine effektvolle Lösung der Verlobungsanzeige.
Der katholische Kirchentag (für mich völlige Exotik), eine »Tüte« für Kardinal Frings (köstlich), die Randgruppe KHG, die Demo Heiligabend ’68 in der Gedächtniskirche, Veranstaltung abends mit Sölle und Böll, und selbst dabei kehrt die Autorin das Religiöse heraus, während sie Flower Power nicht verstehend karikiert – uff! Was für eine subjektive Chronistin!
Es ist Ulla Hahns sprachliche Er- oder Überhöhung des Alltags, was das Buch gleichzeitig schön und schwer macht, es stellenweise auch zerfasern lässt – wie Erinnerungen im Menschen eben sind. Mich verstört jedoch, dass sie bei aller Erinnerung nicht einmal versucht, den Herrschaftsmechanismus von Kirchen und eben auch der katholischen begreifbar zu machen, denn zu analysieren. Hat sie sich von diesem »Glauben« nie frei machen können? Stellenweise war es mir zu viel Geplaudere statt stringenter Erzählung, zu viel fiese Distanz vom Aufbruch der achtundsechziger und zuviel Kritik am Popanz von deren Randerscheinungen, statt Lob der zeitlichen Fernwirkung.
Auch wenn es für mich der schwächste Band des Hilla Palms Quartett war, allemal:
Sehr empfehlens- und lesenswert!
2018 rezensiert, Biografisches, DVA, Ulla Hahn, Zeitgeschichte