Ulla Hahn
» Wir werden erwartet
Ulla Hahn: | (Deutschland, 2018) |
Titel: | Wir werden erwartet |
Ausgabe: | DVA, 2018 |
Erstanden: | Antiquarisch |
Mit dem vierten und letzten Band beschließt Ulla Hahn ihre großartige autobiographische Erzählung der sechziger/siebziger Jahre in dieser unserer Bundesrepublik. In der ihr alter Ego, Hilla Palm, die provinzielle Enge des katholischen Rheinlands in die Großstadt Hamburg verlässt, sich der DKP anschließt – und sie wieder verlässt. Dass es keine strenge Autobiographie ist, erkennt man schon am Auslassen der siebenjährigen Liaison mit dem Hamburger Schriftsteller (und seinerzeit ebenfalls. DKP-Mitglied) Peter Schütt; der darüber in seiner abwechslungsreichen Biografie (»Von Basbeck am Moor über Moskau nach Mekka«, vgl. https://mittelhaus.com/2019/05/31/peter-schuett-von-basbeck-am-moor-ueber-moskau-nach-mekka/) schreibt. Wiewohl ihre Hamburger Doktorandenzeit und die (politische und kulturelle) Arbeit der »Eppendorfer Landstr.« für Ulla Hahns Leben wichtige Etappen waren, gibt’s dazu nichts im Buch; nun gut, das Recht zum selektiven Schreiben ist ihr unbenommen.
Das Besondere, das Auszeichnende an U. Hahns Geschichte ist die bewegende Verknüpfung biografischen Erlebens mit bundesdeutscher Geschichte der 60er/70er aus einer alternativen Sicht, die in vielem dem Mainstream widerspricht und von »Leitmedien« meist Zugedecktes der Vergangenheit entreißt.
Anrührende Wesentlichkeit des Buchs die tragische Geschichte der Liebe zum behinderten, aus reichem Haus kommendem Hugo, mit fein beobachteten Facetten des gut isolierten Biotops reicher Bundesbürger, mitunter schrecklich zu ertragen. Dazu dichteste Erzählung und immer wortspielreich mit den Buchsteinen des Großvaters. Vieles der mir fremden, unverständlichen orthodox-katholischen (Trauer-)Riten der Hilla Palm musste mir meine Frau erklären, oft ohne Erfolg, diese Welt bleibt mir – auch nach der Lektüre U. Hahns – fremder als der Islam.
Auffallend die wiederkehrende Poesie ihrer Liebe zur Heimat, wie schwer der Abschied vom Dorf fällt, eine unglaubliche Verwurzelung, die doppelte Fremdheit im großen Hamburg (und der DKP); ihre drei grundverschiedenen (Lebens-)Gruppen, die Abschreckung der »Limousinen-Sozialisten«.
Auch hier wieder großes Geschichtsbuch der Hahn: Endlose Diskussionen in den Siebzigern, Lebenskultur-Emanzipation in geräumigen Altbau WGs mit Sperrmüllmöblierung (damals tatsächlich für Studenten erschwinglich). José, der Chilene, durchbricht Hillas Klagemauer (um Hugo) mit Pablo Nerudas Versen und hinterlässt ihr dessen »Großen Gesang«. Das Erleben der alten Genossen, die für ihre Überzeugung die Terrorlager der Nazis überlebten, Bekanntschaften mit »Literatur der Arbeitswelt«, die Erkenntnisfreude beim Lesen des kommunistischen Manifests, wie sie im Studium begreift, dass die Besitzenden mit ihren 3000 Wörtern die Arbeiter mit nur 300 Wörtern beherrschen (»Wissen ist Macht«). Wunderschön die Kreuze ihres Bruders Bertram (wird sehr wichtig für sie) für von den Nazis vernichteten sowjetischen Kriegsgefangenen. Brandts öffnende Ostpolitik, seine Restriktion des Radikalenerlasses, die sie (ausgerechnet) mit dem Hinweis auf die gefährliche Verführung der Moskautreuen entschuldigt und in ihren persönlichen Erfahrungen verniedlicht. Der von CIA und US-Außenminister Henry Kissinger unterstützte faschistische Putsch in Chile. Wichtige Schlaglichter aus der (Frauen-)Emanzipation: Erst 1977 gewährten CDU und FDP Frauen die volle Geschäftsfähigkeit.
Die lebensschöne Annäherung an den alternden Vater, die Lektüre des ihm wichtigen Sven Hedin, die Möglichkeit die eigene Wirklichkeit mit Buchmenschen zu erweitern, die Erkenntnis; S.360: »Weil man immer erst dann, wenn ein Lehrstück vorbei ist, weiß, dass man etwas dazu gelernt hat, was man gar nicht lernen wollte.« Der poetische Abschied von »Maria und Josef Palm«, meisterhaft, bewegend.
Wesentlicher Teil des abschließenden Bands des Hilla-Palm-Quartetts die Auseinandersetzung mit dem Kasernenhof-Kommunismus à la DDR und ihrer eigenen Teilhabe daran. Hillas Eintritt in die damalige DKP kommt sehr überraschend angesichts dessen, dass sie so lange politisch im abwartenden Abseits stand. Die Romreise mit dem Geliebten im Kontrast zur Politik – die machen derweil andere – wurde nur ein (katholischer) Glaube gegen einen (marxistischen) getauscht? Die Inklusion des »orthodox-marxistischen« Abschnitts ihrer politischen Reise verstärkt meinen seltsamen Eindruck der halbherzigen politischen Engagements der Ulla Hahn, nie scheint sie mit ganzer Person für ihre jeweilige Politik einzutreten, oft bezieht sie schnell distanzierte Positionen, scheint (im Nachhinein) die Kritik zu überwiegen – nur aus Irrtümern lernen? Warum nur wird so vieles mit dem mokant-ironischen Lächeln der besser wissenden Alten beschrieben?
Eine eigenartige Konstruktion ist die politisch superorthodoxe Marga, erst von ihr überzeugt lernend, dann abgestoßen, kann man politische Konflikte so billig personalisieren und eine Marga nicht als Mensch, sondern als Karikatur darstellen? Dagegen überzeugend die Abwehr von Dogmen, S. 349: »Einen Menschen gleichzusetzen mit seiner Meinung – davor wollte ich mich hüten«. Und Ihre Verbeugung vor den unbeugsamen Veteranen der (Hamburger) Arbeiterbewegung, so tief, dass sie fast nicht aus der DKP austreten mag.
Oder die bestechend erschriebene Verführbarkeit durch Einführungskurse in das Kapital, in denen sublim das Dogma von der Unfehlbarkeit der Partei einfließt. Dennoch findet sie nun ein moralisches Fundament für eine politische Theorie. Und wie sie (erste Lyrik), in Flugblättern und Zeitungsartikeln (DVZ, UZ) ihre politischen Erfahrungen verarbeitet, dabei selten gut geschildert der Gestehungsprozess an der Schreibmaschine. Die Freude an der Veröffentlichung von Lyrik, das Gedicht »Mein Vater«, die Dissertation, die Erlösung von vielem.
Die Kritik an dem Papierdeutsch der DKP-Parteiversammlungen, Gewalt gegen Kommunisten im Wahlkampf, Strafverfolgung dagegen »nicht im öffentlichen Interesse«, die Steigerung des Dogmatismus in den K-Gruppen. Aber auch platte Vorurteile von ihr (Vopos, die auf Bußgelder lauern) und mitunter »wessihafte« Beschreibungen von Grenzkontrollen und Geschichten aus der DDR, die deutlich machen, wie selten sie »drüben« war. Andererseits ersteht die ganze widersprüchliche DDR wieder auf in ihrer Beschreibung einer »Delegationsfahrt« in das andere Deutschland.
Dessen Spießer- und Stasi-Elend, das sie köstlich erschreckend in die Geschichte vom Mops auf der Mauer (Morgenstern) wickelt. Umgekehrt die arrogante Ablehnung der »Platte« – heute als komplettes Fehlurteil erscheinend.
Die DDR-Literatur, Anna Seghers, Maxi Wander, Christa Wolf, Irmtraud Morgner, die geliebte Brigitte Reimann, S. 516: »Ich hatte das versinkende Lesen in andere Leben nie verlernt, las die Geschichten aus der DDR mit derselben gläubigen Begeisterung wie einst die Großmutter ihre Heiligenlegenden«.
Die teilweise erbärmliche Diskussion unter DDR-Literaten insbesondere mit linientreuen Spießern, klammert sie nicht aus, bringt aber ihre DDR-Literatur nach der DDR-Besichtigung in den Keller.
Dennoch ätzend, dass alle Gespräche der DDR-Reise ausgespitzelt wurden, Hillas Konsequenz, Abwendung von der DKP, nur verständlich. Trotz Zögern (verursacht durch Peter Weiss, »Ästhetik des Widerstands«) erlebt sie den Tod einer Illusion. Sie gibt sich nicht auf, S. 620: »Mein Pol, um den sich die Nadel bewegte, die Sprache, die Schrift. Das bewirkt Unruhe, ein Leben lang.« Und setzt den Deutschen, den Linken, den Kommunisten, die für ein besseres Land gegen die Nazis Leben und Gesundheit geopfert haben, ein anrührendes lyrisches Gedenken am Ende ihres Buchs – danke Hilla Palm, Du sprichst mir aus dem Herzen. Bestechend die Fähigkeit der Hahn Lebensmomente ihrer Personen in ihren intensivsten Gefühlen in sprachmächtige Bilder zu kleiden, Emotionen in Wortbilder zu fassen, die eigenes Erleben, eigene Lebensstationen assoziieren, die (auf)wecken, nachfühlen lassen. Die Darstellung (linker) Politik erscheint mir nicht ihre Stärke zu sein, wohl aber die Menschen und ihre Beziehungen untereinander wiederzugeben, leuchten zu lassen aus kürzlich deutscher Vergangenheit. Und wohltuend ihr alternativer Blick auf jüngere deutsche Geschichte, ein Chapeau dieser Autorin.
Sehr empfehlenswert
2018 rezensiert, Biografisches, DVA, Ulla Hahn, Zeitgeschichte