
Irmtraud Gutschke
» Das Versprechen der Kraniche
Autor: | Irmtraut Gutschke (Deutschland, 2018) |
Titel: | Das Versprechen der Kraniche |
Ausgabe: | mdv Mitteldeutscher Verlag 2018 |
Erstanden: | Buchhandlung Volk, Recke |
Wenn es einen Autor gibt, dessen Bücher den magischen Zauber wiederholen, den man als Kind bei großartigen Büchern erlebt, dann ist es der Kirgise Dschingis Aitmatow! Seine »Dshamilja«, eine Diplomarbeit (!), wurde vom Franzosen Louis Aragon mit vollem Recht als schönste Liebesgeschichte der Welt bezeichnet. Aber da wären auch noch »Der Tag zieht den Jahrhundertweg«, »Du meine Pappel im roten Kopftuch«, »Der erste Lehrer«, »Goldspur der Garben«, »Abschied von Gülsary«, »Der weiße Dampfer«, und, und, und. Immer mit einem magischen Erzählzauber verbunden, der bannt, fesselt, eben verzaubert.
»Die Benommenheit nach der Lektüre, das Gefühl, eine Handbreit über dem Boden zu schweben…« sagt die Autorin Dr. Irmtraud Gutschke (S. 5) nach ihrer Erstlektüre von Dshamilja – im russischen Original, russisch vom kirgischen Autor Aitmatow.
Und eine Gänsehaut bekommt man auch, wenn die Autorin einen auf Aitmatows Spuren schickt. Ihre erste Reise auf diesen Spuren war 1972, damals als DDR Bürgerin. Und als Frau schwanger, in Hosen, mitten in einer patriarchalischen kirgischen Gesellschaft – das war schon etwas! Wo vieles dieser Patriarchen-Gesellschaft durchaus im Gegensatz zu damaligen sowjetischen Gesetzen stand, wie Aitmatow 1962 in der Prawda erzählt.
Ihre Diplomarbeit schreibt die Autorin über Aitmatow, auch über Dshamilja. Eine der Hauptfiguren dort ist der kleine Saït, der die verbotene Liebe zu Dshamilia – mit eigener Sehnsucht – beobachtet und so erzählt. Dabei spielt die Vermischung von alter Gentilordnung (in Kirgisien noch lange lebendig) mit unterschiedlich ausgeprägten islamischen und sowjetischen Traditionen eine Rolle.
Schon bei ihrer ersten Reise auf Aitmarows Spuren findet I. Gutschke Namen, Figuren aus seinen Romanen. Dass die Schülerin aus »Der erste Lehrer« jetzt Professorin in Frunse (jetzt Bischkek) ist. Auch dass Aitmatows Vater einer der ersten führenden Kommunisten in Kirgisien war und 1938 den Repressionen des großen Terrors zum Opfer fiel. Erst 1957 das feste Wissen, dass Aitmatows Vater tot ist. Einer von den 40-80.000 Kirgisen, die unter Stalin von Repressionen betroffen waren. Viel dazu im Buch von Aitmatow. Und dennoch: Kirgisien ist als einziger asiatischer Nachfolgestaat der UdSSR eine parlamentarische Demokratie geworden.

Aitmatow selbst geißelt, auch in der Prawda, archaisches Verhalten gegenüber Frauen. Wundersam das Verhalten der Leute aus seinem Dorf zu ihrem Dichter. Der Feudalismus im Entstehen, der alte Sitten und Gebräuche bewahren will. Die Romanfigur Djamilja, für Kirgisen ein Unding: Dort konnte eine Frau noch nicht einmal eine Scheidung beantragen. Die Rolle, die die Eisenbahn spielt: Verbindung in die Ferne und (für Aitmatow) nach Moskau. Der als 6jähriger mit dem Vater nach Moskau geht, mit 8 zurück ist im heimatlichen Ail, der Vater im Lager. Und mit 14 Dienst im Ail tut (als Sekretär des Dorfsowjets), Einberufungen und Todesnachrichten überbringend. Im Band »Kindheit in Kirgisien«, den Friedrich Hitzer 1998 herausgibt, wird mehr über den Vater erzählt. Und die Autorin ist so offen, über die Verbindung von Aitmatow und ihrer persönlichen Entstalinisierung zu erzählen.
Allein 25 Filme entstanden noch zu Aitmatows Lebzeiten zu seinen Werken. Frau Gutschke war 1984 zu Gast in Aitmatows Familie und merkt an: Beim geringen Stand der kirgisischen Literatur war es nahezu ein Wunder, dass Aitmatows Werk schon 1958 zur Weltliteratur wurde. Und untrennbar mit der Sowjetunion verbunden ist. Und, S.76: »Aitmatow schöpft sein Glück (und seine Qual) beim Schreiben nicht aus seinen Einfällen schlechthin, sondern aus den sinnhaften Zusammenhängen…«
Es gibt im Buch viele (kleine) Literaturhinweise eingestreut, über die man sich zusammengefasst gefreut hätte. Dazu gehören »Der weiße Dampfer«, die »Legende der gehörnten Hirschmutter«, ein Gleichnis zur Zerstörung der Natur. Ebenso die Gleichnisse der Novelle »Scheckiger Hund, der am Meer entlang läuft.« Sehr schön die Bildtafeln, die Aitmatow im Laufe der Zeit zeigen und in seiner kirgisischen Heimat.
»Aitmatow lesen – das heißt über die eigene Wirklichkeit hinausgehoben zu werden, zu spüren, dass es etwas Größeres gibt im Leben, dass einem oft nur nicht bewusst gewesen ist. Dieses Größere ist viel mehr als eine gesellschaftliche Utopie. Doch diese Utopie war immer mit gemeint.« ; so stellt die Autorin den gesellschaftlichen Bezug von Aitmatows Werken her (S. 100). Und ergänzt mit einem Marx Zitat »Alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist« (S. 100). Mit dem Scheitern von DDR und UdSSR »nur noch eine sozialromantische Illusion?« (ebd.). Dabei ist die Wahrnehmung von Literatur durchaus bestimmt von den Verhältnissen, in denen man lebt. Aber »lesend bewegen wir uns in das Fremde, weg von den eigenen Sorgen« heißt es im Buch weiter. Und sie fügt Faszinierendes zum Schreiben Aitmatows im Kirgisischen oder Russischem und den Übersetzungen hinzu. »Wir lasen Goldspur der Garben«, die Russen »Mütterliches Feld«, die Kirgisen »Weg des Schnitters.« (S. 110). So die unterschiedliche Betitelung in unterschiedlichen Sprachen. Dazu viel über die Konflikte in »Abschied von Gülsary«. Oder so unendlich empfindsam Aitmatows Bemerkung am Schluss des »Weißen Dampfers«: das »kindliche Gewissen« sei im Menschen »wie der Keim im Samenkorn.« (S. 117).
Dann die Verweise auf Texte zu Aitmatows politischer Arbeit, er war Ansprechpartner für viele. Das Issyk-Kul Forum, eine frühe Basis für Gorbatschow, Mitgliedschaften des Autors in vielen internationalen Foren, ab 1986 für Perestroika engagiert. Das wiederkehrende Motiv: Die Schönheit der Erde, die Menschheit als Ganzes, dass ihr unbedingt die Erde nicht vernichtet. Das Ganze eingebettet ins Zeitgeschehen, Star Wars Pläne von Reagan, Glasnost&Perestroika, Abrüstungsverträge, die ND Seiten vor dem Druck nach Wandlitz zur Kontrolle transportiert. Das Reden war frei, doch das Publizieren nicht; so die Autorin zu ihrer Situation als Literaturredakteurin des ND in der DDR.

Die Systeme nähern sich ihrem Ende, 88/89 in der DDR, Diskussionen in der SU, 1986 stand die Veröffentlichung von »Die Richtstatt« auf der Kippe, I. Gutschke muss zu Hause, in der DDR, um ihre Rezension kämpfen. Der Diplomat Aitmatow, für die UdSSR, für die Heimat Kirgisien, der späte Roman »Kassandramal«, Zivilisationskritik in Science Fiction verpackt – völlig anders als frühere Werke Und 1994 mit Friedrich Hitzer in der Berliner Kulturbrauerei vorgestellt, Erstvorstellung! Erst später die russische Fassung, der Freund Hitzer, der ihm hilft, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wieder Fuß zu fassen. S.184: »Der Zerfall der Sowjetunion 1991 traf ihn ins Mark, zumal damit die Auflösung einer weitverzweigten literarischen Infrastruktur einher ging, ja auch die Auflösung eigener Machtpositionen und Einflussmöglichkeiten…Vielerorts würde fortan Ausland für ihn sein.«
Aitmatows Frauen, denen sich die Autorin mit ausgewählt schönen Szenen aus »Abschied von Gülsary« zuwendet. Die geliebte kirgisische Ballerina, nach dem Tod von Frau und Geliebter, die dritte Frau Aitmatows, 2 Kinder, der Sohn verwaltet heute das Erbe. Das Verwobensein seiner Werke mit Volkslegenden und Historie.
Kenntnisreiche Erinnerungen der Slawistin und Literaturredakteurin I. Gutschke über den 2008 verstorbenen kirgisischen Ausnahme-Schriftsteller, Politiker und Diplomaten Dschingis Aitmatow. Großartig, was man hier zu Aitmatows Werken und ihrer Enstehung lernt. Auch wenn nicht immer stringent gegliedert, für das Verständnis seines Schreibens ist ihr Text unbezahlbar. Bestechend ihr Geständnis, S. 197: »Manchmal denke ich, dass es auch die ausgiebige Aitmatow-Lektüre ist, der ich ein starkes Selbst verdanke.«
Es ist nicht nur ein Buch über Aitmatow, sondern auch ein Buch über die Zeit und die Gesellschaft, in der man es gelesen hat. Die Nähe der Autorin zu Aitmatow beeindruckt, man verspürt sofort den Impuls, ihn wieder zu lesen. Hätte sie etwas strukturierter gearbeitet, es wäre sogar als Nachschlagewerk zu Aitmatow geeignet. Allein die schönen Stellen, die die Autorin aus des Kirgisen Werk herauspickt, ist die Lektüre wert, das viel mehr als nur ein »best of Aitmatow« darstellt. Unmöglich die Vielfalt der Interpretationen, die Zitate der Glanzpunkte von Aitmatows Werk wieder zu geben – einfach selbst lesen!
Und abschließend, S. 197: »Jenes Versprechen der Kraniche, dass Liebe in einem bleibt, wenn man sie je in sich trug, dass nichts verloren geht und wenn, dann nur auf Zeit. So lange Du lebst, hüte in Dir tatkräftige Zuversicht, weil nach jedem Winter wieder Frühling wird. In Ewigkeit.«
Verpflichtend für Aitmatow-Leser
Anhang: Die Titelfigur von Aitmatows Erstling gibt es in unterschiedlichen Schreibweisen. Völlig untauglich sind die aus der angelsächsischen Welt, weil die kein »sch«, kein »tsch« und schon gar kein »schtsch« kennen und solche, im russischen häufige Laute, mühsamst umschreiben müssen. I. Gutschke schreibt daher »Djamila«, während der Schweizer Unionverlag, der heute die Rechte für deutschsprachige Aitmatow Ausgaben hält »Dshamilja« druckt. Daran halte ich mich, weil diese lautmalerische Schreibweise für mich einer russischen Aussprache am nächsten kommt.
Einigermaßen gelungen ein Zeit-Artikel: hier.
Einen netten Artikel zum Buch von I. Gutschke liefert das »Blättchen« unter: hier.
Die Autorin Dr. Irmtraud Gutschke ist in der Welt der Literatur auch heute aktiv, unter anderem mit Diskussionsveranstaltungen, Lesungen und Buchvorstellungen. Mehr erfährt man hier.
2018 rezensiert, Dschingis Aitmatow, Dshingis Aitmatow, Gorbatschow, Irmtraud Gutschke, Kirgisien, mdv Mitteldeutscher Verlag 2018, Perestroika, Russland, UdSSR