Wilhelm Raabe
» Romane und Erzählungen, Band 1
Autor: | Wilhelm Raabe (Deutschland, 1857-1879) |
Titel: | Romane und Erzählungen, Band 1 |
Ausgabe: | Deutsche Buchgemeinschaft/Verlagsanstalt Hermann Klemm, 1954 |
Erstanden: | Aus einem Nachlass eines Berliner Freunds |
Sechs Titel enthält dieser Band, ich beschränke mich auf die Rezension der »Chronik der Sperlingsgasse« (Raabes bekanntestes Werk) und erwähne drei weitere interessante Titel. Raabe zu lesen, ist ein Eintauchen in eine andere Welt, eine andere Zeit, die »Sperlingsgasse« . Es ist ein Blick in ein biedermeierliches Berlin, mehr Klein- denn Haupt- oder gar Weltstadt. Raabe blättert ein schönes Panoptikum volksnaher Figuren auf, die Handwerker der Gasse, den Gelehrten Johannes Wacholder, ein sterbendes Kind armer Leute, den Schulmeister und verkannte Gelehrte, die Junggesellenwirtschaft des Zeichners Strobel, eine Auswandererfamilie, die »bleiche Tänzerin gegenüber«. Es ist noch eine sehr überschaubare Welt in der Gasse, man sieht sich, man beobachtet sich und lädt einander ein. Mit dem Versterben und dem Hinzuzug neuer Bewohner. die Vergänglichkeit betonend, lässt Raabe auch die neuen Entwicklungen der Stadt und des Landes einfließen, auch die sozialen Veränderungen. Kritische Worte zu des Deutschen Vaterland, die die soziale Not oft genug aus demselben vertreiben. Und er kennt auch (glühender Anhänger der Märzrevolution) Anklänge der sozialen Wirklichkeit, »Schaffe weiter Proletarier« läßt er dem Volk angesichts eines früh verstorbenen Kinds armer Arbeitereltern sagen. Und ein Weitgereister berichtet aus Frankreich, »wo das Volk reinen Tisch machte«. – Raabe ist auch ein großer Spötter, aus der bekannten Weinstube Lutter & Wegner am Gendarmenmarkt wird bei ihm »Butter & Wagner am Gänsemarkt«, und das eben dort gelegene neue Schauspielhaus verspottet er als »famose Musenbude«; die beiden Dome dort nennt sein Volksmund »Pfeffer- und Salzfass«.
Nach der insgesamt recht nachdenklichen »Sperlingsgasse« haben mir »Else von der Tanne«, »Zum wilden Mann« und »Frau Salome« am besten gefallen. Die mit ihrem Stöbern auch in der Adelssphäre nicht die Qualität der »Gasse« erreichen. Die Sperlingsgasse ist eine schöne, manchmal verschachtelte Erzählung über das Leben von klein- und gutbürgerlichen Bewohnern der aufstrebenden (Klein-)Stadt Berlin, oft spätromantisch, dann schon aufmüpfig demokratisch, immer wieder mit besten literarischen Anspielungen. In Ton und Gustos durchaus wechselhaft, und – leider zeitgemäß – auch mal mit grob frauenfeindlichen Zügen. Die »Sperlingsgasse« gilt als wichtiges Stück der »Berlin-Literatur«, was ich nur bedingt nachvollziehen konnte. Ingesamt:
Schöne, interessante spät-romantische Literatur mit demokratischen Anklängen
19. Jahrhundert, 2019 rezensiert, Berlin Roman, Deutsche Buchgemeinschaft, Wilhelm Raabe