Georg Hermann
» Doktor Herzfeld
Autor: | Georg Hermann (Deutschland, 1912/1916) |
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Titel: | Doktor Herzfeld |
Ausgabe: | Verlag Das Neue Berlin 1997 |
Erstanden: | Aus der 13-bändigen G. Hermann Ausgabe |
Dieser 5. Band der Hermann-Ausgabe des Verlags (leider unvollendet) enthält die beiden Romane um den Protagonisten Dr. Herzfeld: »Die Nacht« und »Schnee«. »Die Nacht« zeigt, teils einsam, teils im Dialog mit einem ehe- und lebensmüden Berliner Menschen (Dr. Herzfelds Freund) die Stadt-Schönheit Berlins aus der Sicht des Flaneurs, seines (aber nur seines) Bewusstseinsstroms. Die Protagonisten, schrecklich zerrissen, nicht immer glaubhaft, tragend fürs Geschehen. Schrecklich einsam, trotz Wiedersehen einer alten Geliebten, Schönheit einst, heruntergesunken zur Kokotte, mitten in der Großstadt, in den Krallen der schwarzen Katze Isolation. Das Tages- und das Nachtanlitz eines Cafés, eine Jeunesse Dorée Wilmersdorfer Bauernsöhne, die mit den Millionen aus den Grundstücksverkäufen ihrer Väter nichts anzufangen wissen. (Nächtliche) »Stunden, die ganz hell und durchsichtig sind wie Gletscherwasser«, und »immer die gleichen Nachtgestalten, wie Berlin vor mir lebt.«
Die Erzählung tragen die traumhaften Flanierszenen, Wanderungen durch den Tiergarten, durch Wilmersdorf, am Zoo, tagsüber und nachts, im Dunkeln leere Boulevards, quer durch die Stadt. S. 256: »Überall war man an der Arbeit, dem vordrängenden Ungeheuer Berlin den Weg zu ebnen.« – die Stadt im Wachstum. Es ist Dr. Herzfelds Heimat, Seite 265: »Auf breiten Wegen gehen seine Menschen, die er kennt, mit denen er sich eins fühlt.«
Herzfelds Gänge durch den Berliner Westen erinnern in ihrer Szenerie an den Flaneur Franz Hessel, treffend schöne Stadtbilder, Gänge in der Einsamkeit unter Millionen.
Melancholisch-schöne Stadtgänge
»Schnee« hat mir wesentlich besser gefallen, ist in sich wiederum sehr, sehr unterschiedlich, ein Epochenbruch, denn nun ist (Welt)-Krieg, 1916. Die nächtlichen Schneeflocken dirigierend, zeigt Hermann, dass er der kriegstreibenden nationalistischen Massensuggestion nicht erlegen ist. Die Stadt vernachlässigt, Klingelknöpfe, Fensterscheiben fehlen, Hunde sind abgeschafft ebenso wie Aufwartefrauen, Dienstmädchen auf halbem Lohn. Die uniformierten Lügen der Presse im Krieg, die Jugend »verblutet oder verblödet.«
Herzfeld dagegen, ein klassischer Gelehrter, noch ein Typ des vergangenen, des 19. Jahrhunderts, die Kutschfahrt zum Anhalter Bahnhof, nunmehr flanierend auf den Spuren seiner Erinnerungen. Die »Entmündigungsknaben«, die den Krieg am Laufen halten, die Brechmittel, die die Stadt bevölkern. Auf dem Bahnhof trifft er einen Trupp Soldaten, »… jeder von ihnen war früher ein Mensch«. Es ist keine unkritische Liebe zu Berlin, durch die ganze Latrine Berlins mußte man durch, bevor man nach draußen kam, das ist bei allen Großstädten so.
Seine Bahnreise – ab Anhalter Bahnhof – zeigt ein Durchgleiten von Raum und Zeit, markante Diskussionen im Abteil, S.428: »Wieviel weniger brauchten wir zu arbeiten, wenn wir nicht ewig wieder für neue Kriege schuften müssten.«
Eine Bahnreise (ab dem damals noch existierenden Anhalter-Bahnhof) zeigt ihn wieder als feinen Beobachter, er sieht die Schönheit einer Pappelallee, »Bruder Bauer«, das Bahnwärterhäuschen.
Nun aber kippt die Erzählung, es kippt in die Erinnerungen eines alten Mannes an die Verflossene, die in ihm etwas zum Schwingen gebracht hat. Aber was liebt man an einem »Rehchen«, seine eigene Jugend?
Das Rencontre mit einer jungen Schönheit, halb so alt wie Dr. Herzfeld, die einsame Absteige, eine gelungen blumig beschriebene Liebesnacht, eine Walpurgisnacht, eine Sommernacht. Drei Wochen später: Die Nachricht, dass sie geheiratet hat!
Ein Wiedersehen des alternden Flaneurs mit seiner Jugendliebe einer Nacht lässt der Autor leicht boshaft an der Realität scheitern, hochschwanger steht sie vor ihm, kein »Rehchen« mehr, in Berliner Direktheit mehr ein »Rehklops«.
So bleibt ihm die Beobachtung, z.B. die abgehende Ski-Karawane im Hotel:?
»Der da, Wandervogel, bald mit zerschossener Stirn.«
Er selbst »verweht« geradezu in einem langen Winterspaziergang zum?Ende des Buchs.
Seltsamerweise reflektiert dieser Dr. Herzfeld nie seine eigene Sonderrrolle, ein 60-65 jähriger Mann, weder geschäftlich noch militärisch unterwegs – in Zeiten der nahenden Vollmilitarisierung. Alles in feldgrau und er ohne jede Beteiligung, nur ungerührter Beobachter, eine seltsam künstliche, fast unvorstellbare Figur.
»Schnee« lebt von den inneren Monologen des Dr. Herzfeld, seinem Bewusstseinsstrom, den es aber nur von ihm gibt, keinem anderen. Das Augenwunder Berlin ist Dr. Herzfelds Lebenselixier, in all seiner Bindungslosigkeit. Immerhin ein, wenn auch sehr vorsichtiger Anti-Kriegsroman, auf der Ebene des individuellen Leidens, kaum politisch.
Die Gestalt des Herzfeld wirkt aus der Zeit gefallen. Aber ein kaum zu übertreffender Berlin Flaneur! »Schnee« aber hat mehr Substanz als die »Nacht«, liest sich besser. ist bissiger, übt Zeitkritik, lohnt sich insgesamt mehr.
Besonderer Berlin Roman
2020 rezensiert, Georg Hermann, Jahrhundert-Wechsel 19./20. Jahrhundert, Verlag Das Neue Berlin