Giovanni Orelli
» Der lange Winter
Autor: | Giovanni Orelli (Schweiz, 1963) |
Titel: | Der lange Winter |
Ausgabe: | Limmat Verlag, 2019 |
Erstanden: | Verlagswebseite / Buchhandlung Thaer, Berlin-Friedenau |
Mit der Neugestaltung meines Literaturblogs »altmodisch:lesen« fiel mir auf, dass ich nur wenige Bücher aus der Schweiz rezensiert hatte. Erstaunlich, weil ich über 12 Jahre beruflich dort unterwegs war, Land, Leute, Strukturen, aber auch Kultur kennen gelernt hatte. Auf der Webseite des Limmatverlags stieß ich auf diesen Titel, den mir dann die örtliche Buchhandlung meines Vertrauens besorgte. Ein schmaler Band – und so ein Inhalt!
Aus dem kleinen Bedretto-Tal im Tessin (unweit des Nufenen Passes) erzählt G. Orelli eine doppelte Geschichte: Die eines Schneewinters, das sein Dorf in den weißen, eigentlich federleichten Kristallen begräbt. Und die der parallelen Auflösung der dörflichen Siedlung zugunsten der Stadt. Womit so unendlich viel verschwindet.
Und das ist in einer unfassbaren Dichte, mit körperlicher Nähe erzählt, man spürt die Flocken schweben, die haushohen Wächten, der verfluchte, ewig schneegraue Himmel. Es scheint – auch des Schnees wegen – eine stille, lang vergangene Zeit, wo man sich der Liebe halber ins Heu zurückziehen konnte. Und was alle augenzwinkernd wussten und verstanden. Erotische Anziehung wirkt in der Abgeschiedenheit der Schneehöhlen. »Jetzt, wo es immerzu schneit, scheint die Stille das Einzige zu sein, das von der Welt geblieben ist.«
Unaufhörlicher Schnee, »… das Verschwinden der Kennzeichen der Pfade, die Grenzlinien, der Hecken auf den Wiesen.« (S. 12). Und: »Wenn ich zu Bett gehe, hat der Schnee alle Tritte des Tages auf der Straße ausgelöscht.« Eine Fulvias sagt: »Wenn wir noch eine Weile so abgeschlossen leben … als atme die Erde unter der Schneefläche wie ein Mensch.« (S.45)
»… das Land, das sich im Nebel verliert, nachts stelle ich mir die Berge wie ausgelöscht vor.« (S. 50).
Der 4 m hohe Schnee wirkt nicht als reine Idylle, vor Jahren hat eine Lawine Tod und Zerstörung gebracht, die Angst davor wird punktgenau erzählt. Es könnte wieder passieren, die Einwohner müssen sich in die Häuser des Dorfkerns zurück ziehen. S. 65: »Wir werden in drei, vier Häuser in der Dorfmitte, nahe der Kirche ziehen, in die alten Häuser, die Höhlen ähnlicher sind als Wohnungen.« Ein Flugzeug kommt und wirft Brot ab, nachdem sie mit Asche das Wort »Hilfe« auf ein Dach geschrieben haben.
Die Pläne zur Evakuierung des Dorfs sind heiß umstritten: »Sollen wir unser Haus, unser Gebiet, unsere Toten verlassen?« Aber eine große Mehrheit stimmt für die Evakuierung in die Stadt, in verschiedene Städte, dabei wird von fast allen der Fortgang als ein Weggehen für immer verstanden. Nur: Die Regierung sagt auch, lassen die Dorfbewohner die Evakuierung nicht zu, erhalten sie keine Hilfen mehr und auch keine Anteile an den landesweiten Spenden. So lautet der resignierende Abgesang eines Dörflers: »All das, was wir sind und zu tun verstehen, könnt ihr von der ersten Brücke an die ihr kommt, hinunterwerfen mitsamt den Holzpantoffeln.« Den Drang der ehemaligen Dörfler zur entfremdeten Arbeit in der Stadt karikiert G. Orelli so, S. 139: »Mancher würde, gäbe man nur einen ordentlichen Taglohn, ein gut Teil des Lebens im Gefängnis verbringen.«
Und doch sagen viele, in der Stadt geht’s leichter, »man braucht nur das Gewissen zuzudecken, wie man es oben im Dorf mit den Mistgruben macht.« (S. 149). Dem Erzähler, der im Buch in einer gleichzeitig distanzierten aber auch involvierten Rolle steht, resümiert daher:
»Das Herz, das hat mir die Lawine ausgetauscht, in dem sie Tag und Nacht drohte, mich nicht umbrachte, mich von hier fortgetrieben hat.« (S. 154).
Für die Veränderungen, die Touristen und Industrie bringen, hat der Autor wenig Sympathie, auch nicht für ihre Helfer: »Bei den Bauern ist es leichter, man braucht ihnen nur einen Haufen Geld zu zeigen, dann bereiten sie sogar den Dunkelmännern und Herren Abgeordneten, die herauf kommen, um uns um Land und Wasser zu bringen, einen freundlichen Empfang.« (S. 155).
Ein einziges Mal geht er noch ins alte Dorf in den Bergen, sieht einige Bauern, die alte Häuser wieder beleben, aber auch sizilianische Arbeiter, die Strommasten einer Hochspannungsleitung zementieren.
Er schließt seine Erzählung ab: »Das Wildhuhn flog dicht über die leicht ansteigenden Wiesen und erreichte den Wald, für seinen langen Winter.« (S. 159). Eines der sehr wenigen so intensiven Bücher, das man langsam, Wort für Wort, Satz für Satz, nur in sehr kleinen »Schlucken« genießen kann, etwas wirklich Kostbares.
Es macht uns langsam, inmitten des Schneetreibens mit dem ganzen, leider sterbenden Dorf bekannt, mit all seinen oft skurril wirkenden Bewohnern. Es ist wie in »slow motion« geschrieben und so genießt man es auch.
Eine Ausnahmeerzählung in ihrer Intensität
2022 rezensiert, Giovanni Orelli, Limmat Verlag, Schweiz, Tessin, Winter