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Lange-Winter

Gio­vanni Orelli
» Der lange Winter

Autor:Gio­vanni Orelli (Schweiz, 1963)
Titel:Der lange Winter
Aus­gabe:Lim­mat Ver­lag, 2019
Erstan­den:Ver­lags­web­seite / Buch­hand­lung Thaer, Berlin-Friedenau
Lange-Winter
Umschlag­bild von Niklaus Hasen­böh­ler »Auf in den Schnee­him­mel«
1993/ © Pro Lit­teris 2003

Mit der Neu­ge­stal­tung mei­nes Lite­ra­tur­blogs »altmodisch:lesen« fiel mir auf, dass ich nur wenige Bücher aus der Schweiz rezen­siert hatte. Erstaun­lich, weil ich über 12 Jahre beruf­lich dort unter­wegs war, Land, Leute, Struk­tu­ren, aber auch Kul­tur ken­nen gelernt hatte. Auf der Web­seite des Lim­mat­ver­lags stieß ich auf die­sen Titel, den mir dann die ört­li­che Buch­hand­lung mei­nes Ver­trau­ens besorgte. Ein schma­ler Band – und so ein Inhalt!

Aus dem klei­nen Bedretto-Tal im Tes­sin (unweit des Nufe­nen Pas­ses) erzählt G. Orelli eine dop­pelte Geschichte: Die eines Schnee­win­ters, das sein Dorf in den wei­ßen, eigent­lich feder­leich­ten Kris­tal­len begräbt. Und die der par­al­le­len Auf­lö­sung der dörf­li­chen Sied­lung zuguns­ten der Stadt. Womit so unend­lich viel verschwindet.

Und das ist in einer unfass­ba­ren Dichte, mit kör­per­li­cher Nähe erzählt, man spürt die Flo­cken schwe­ben, die haus­ho­hen Wäch­ten, der ver­fluchte, ewig schnee­graue Him­mel. Es scheint – auch des Schnees wegen – eine stille, lang ver­gan­gene Zeit, wo man sich der Liebe hal­ber ins Heu zurück­zie­hen konnte. Und was alle augen­zwin­kernd wuss­ten und ver­stan­den. Ero­ti­sche Anzie­hung wirkt in der Abge­schie­den­heit der Schnee­höh­len. »Jetzt, wo es immerzu schneit, scheint die Stille das Ein­zige zu sein, das von der Welt geblie­ben ist.«

Unauf­hör­li­cher Schnee, »… das Ver­schwin­den der Kenn­zei­chen der Pfade, die Grenz­li­nien, der Hecken auf den Wie­sen.« (S. 12). Und: »Wenn ich zu Bett gehe, hat der Schnee alle Tritte des Tages auf der Straße aus­ge­löscht.« Eine Ful­vias sagt: »Wenn wir noch eine Weile so abge­schlos­sen leben … als atme die Erde unter der Schnee­flä­che wie ein Mensch.« (S.45)

»… das Land, das sich im Nebel ver­liert, nachts stelle ich mir die Berge wie aus­ge­löscht vor.« (S. 50).

Der 4 m hohe Schnee wirkt nicht als reine Idylle, vor Jah­ren hat eine Lawine Tod und Zer­stö­rung gebracht, die Angst davor wird punkt­ge­nau erzählt. Es könnte wie­der pas­sie­ren, die Ein­woh­ner müs­sen sich in die Häu­ser des Dorf­kerns zurück zie­hen. S. 65: »Wir wer­den in drei, vier Häu­ser in der Dorf­mitte, nahe der Kir­che zie­hen, in die alten Häu­ser, die Höh­len ähn­li­cher sind als Woh­nun­gen.« Ein Flug­zeug kommt und wirft Brot ab, nach­dem sie mit Asche das Wort »Hilfe« auf ein Dach geschrie­ben haben.

Die Pläne zur Eva­ku­ie­rung des Dorfs sind heiß umstrit­ten: »Sol­len wir unser Haus, unser Gebiet, unsere Toten ver­las­sen?« Aber eine große Mehr­heit stimmt für die Eva­ku­ie­rung in die Stadt, in ver­schie­dene Städte, dabei wird von fast allen der Fort­gang als ein Weg­ge­hen für immer ver­stan­den. Nur: Die Regie­rung sagt auch, las­sen die Dorf­be­woh­ner die Eva­ku­ie­rung nicht zu, erhal­ten sie keine Hil­fen mehr und auch keine Anteile an den lan­des­wei­ten Spen­den. So lau­tet der resi­gnie­rende Abge­sang eines Dörf­lers: »All das, was wir sind und zu tun ver­ste­hen, könnt ihr von der ers­ten Brü­cke an die ihr kommt, hin­un­ter­wer­fen mit­samt den Holz­pan­tof­feln.« Den Drang der ehe­ma­li­gen Dörf­ler zur ent­frem­de­ten Arbeit in der Stadt kari­kiert G. Orelli so, S. 139: »Man­cher würde, gäbe man nur einen ordent­li­chen Tag­lohn, ein gut Teil des Lebens im Gefäng­nis verbringen.«

Giovanni-Orelli
Der Autor Gio­vanni Orelli
Umschlag­foto von Yvonne Böhler

Und doch sagen viele, in der Stadt geht’s leich­ter, »man braucht nur das Gewis­sen zuzu­de­cken, wie man es oben im Dorf mit den Mist­gru­ben macht.« (S. 149). Dem Erzäh­ler, der im Buch in einer gleich­zei­tig distan­zier­ten aber auch invol­vier­ten Rolle steht, resü­miert daher:

»Das Herz, das hat mir die Lawine aus­ge­tauscht, in dem sie Tag und Nacht drohte, mich nicht umbrachte, mich von hier fort­ge­trie­ben hat.« (S. 154).

Für die Ver­än­de­run­gen, die Tou­ris­ten und Indus­trie brin­gen, hat der Autor wenig Sym­pa­thie, auch nicht für ihre Hel­fer: »Bei den Bau­ern ist es leich­ter, man braucht ihnen nur einen Hau­fen Geld zu zei­gen, dann berei­ten sie sogar den Dun­kel­män­nern und Her­ren Abge­ord­ne­ten, die her­auf kom­men, um uns um Land und Was­ser zu brin­gen, einen freund­li­chen Emp­fang.« (S. 155).

Ein ein­zi­ges Mal geht er noch ins alte Dorf in den Ber­gen, sieht einige Bau­ern, die alte Häu­ser wie­der bele­ben, aber auch sizi­lia­ni­sche Arbei­ter, die Strom­mas­ten einer Hoch­span­nungs­lei­tung zementieren.

Er schließt seine Erzäh­lung ab: »Das Wild­huhn flog dicht über die leicht anstei­gen­den Wie­sen und erreichte den Wald, für sei­nen lan­gen Win­ter.« (S. 159). Eines der sehr weni­gen so inten­si­ven Bücher, das man lang­sam, Wort für Wort, Satz für Satz, nur in sehr klei­nen »Schlu­cken« genie­ßen kann, etwas wirk­lich Kostbares.

Es macht uns lang­sam, inmit­ten des Schnee­trei­bens mit dem gan­zen, lei­der ster­ben­den Dorf bekannt, mit all sei­nen oft skur­ril wir­ken­den Bewoh­nern. Es ist wie in »slow motion« geschrie­ben und so genießt man es auch.

Eine Aus­nah­me­er­zäh­lung in ihrer Intensität

2022 rezensiert, Giovanni Orelli, Limmat Verlag, Schweiz, Tessin, Winter