Annie Ernaux
» Die Jahre
Autor: | Annie Ernaux |
Titel: | Die Jahre |
Ausgabe: | Bibliothek Suhrkamp, Berlin 2017, 2. Auflage |
Erstanden: | antiquarisch, gelesen im Literaturkreis der Fürst Donnersmarck-Stiftung |
Auch wenn Annie Ernaux 15 Jahre älter ist, führt mich ihr Gesellschaftsporträt zurück in meine eigene Vergangenheit: »Für Mädchen war die Scham eine ständige Bedrohung. Wie man sich kleidete und schminkte, war immer ›zu‹ irgendwas: zu kurz, zu lang, zu tief ausgeschnitten, zu eng, zu durchsichtig, etc. «
(S. 74/75)
Auch sie ist aufgewachsen auf dem Land und musste, als sie das Gymnasium in der Stadt besuchte, schnell erkennen, »welcher sozialen Schicht (sie) … angehört – ihre Familie hat keinen Kühlschrank, kein Badezimmer, und wenn man aufs Klo will, muss man raus auf den Hof …«
(S. 67). Damit sind gleich zwei Bereiche, auf die sie immer wieder eingeht, vorgestellt: Die Frauenfrage und die Klassenfrage.
Annie Ernaux bezeichnet sich als ›Ethnologin ihrer selbst‹. Was versteht man darunter? »Die Ethnologie ist eine empirische und vergleichende Sozial- und Kulturwissenschaft, die die Vielfalt menschlicher Lebensweisen aus einer sowohl gegenwartsbezogenen als auch historisch verankerten Perspektive erforscht.« (https://de.wikipedia.org/wiki/Ethnologie) Ergänzung meinerseits: Annie Ernaux ist eine politisch engagierte feministische Schriftstellerin.
Als Leser hat man den Eindruck, sie würfelt in ›Die Jahre‹ persönliche Erinnerungen, Überschriften aus Zeitungen und Werbung, Filmtitel, Chansons und Redewendungen durcheinander. Es handelt sich jedoch nicht um ein Durcheinander, sondern mit Hilfe dieser Erinnerungsschnipsel führt sie uns durch das Leben der 60er, 70er, 80er und 90er Jahre und erklärt, wie sie das geworden ist, was sie heute ist. Auch eigene Erinnerungslücken werden wieder gefüllt:
»Man diskutierte, wie man sich ernähren, wie man gebären, wie man die Kinder erziehen, wie man unterrichten sollte, wie man mit sich und anderen in Einklang leben, wie man aus der Gesellschaft aussteigen konnte. Wie man sich ›ausdrücken‹ konnte: durch Töpfern, Weben, Gitarre spielen, Schmuckherstellen, Theaterspielen, Schreiben.« (S. 119)
Hier politische Äußerungen zu den 2000er Jahren: »Im Rausch der medialen Vereinfachungen glaubten die Leute tatsächlich an das technologische Feingefühl der Bomben, an einen ›sauberen Krieg‹ mit ›intelligenten Waffen‹, an ›Präzisionsschläge‹, und die Liberation sprach sogar von einem ‚zivilisierten Krieg‘.« (S. 179)
Fühlt man sich bei diesen Aussagen zum Krieg gegen Saddam Hussein teilweise nicht auch an die politische Situation heute erinnert?
Oder ihre Äußerungen zu den ›Gelbwesten‹ und ihren militanten Aktionen auf den Champs-Élysées: »Wenn man so lange nicht gehört wird, ist offensichtliche Gewalt vielleicht nicht gerade gerechtfertigt, aber verständlich. Ich habe wegen dieser Boutiquen und Banken nicht allzu viele Tränen vergossen.« (https://www.freitag.de/autoren/cbaron/literaturnobelpreis-fuer-annie-ernaux-eine-frau-ihrer-klasse)
Einen positiven Ausblick auf die Zukunft bietet uns Annie Ernaux eher nicht: »Die Banlieue würde wieder explodieren, im Nahostkonflikt war keine Lösung in Sicht. Und die Welt fuhr vor die Wand, wegen der Klimaerwärmung, der schmelzenden Polkappen, des Bienensterbens.« (S. 242)
Sie fordert uns jedoch auf, genau das zu verhindern!
Ein tolles Geschichtsbuch!
Margret Hövermann-Mittelhaus
2022 rezensiert, Annie Ernaux, Bibliothek Suhrkamp, Frankreich, Frauenemanzipation, Geschichte, Politik