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Fatma Ayd­emir
» Dschinns

Autor:Fatma Ayd­emir
Titel:Dschinns
Aus­gabe:Han­ser Lite­ra­tur­ver­lag, 1. Auf­lage 2022, München
Erstan­den:von mei­ner Tochter

Fatma-Aydemir-DschinnsFatma Ayd­emir zum Titel ihres Romans:

»Für mich ist die Idee des Dschinns eher als ästhe­ti­sches Motiv inter­es­sant: als dif­fuse Angst, die sich nie voll­stän­dig grei­fen und aus­spre­chen lässt. Für jede Figur im Roman äußert sie sich anders, bei man­chen erscheint der Dschinn als plötz­li­ches Auf­blit­zen von Ver­dräng­tem, bei ande­ren im Kampf darum, einen Sinn im eige­nen Leben zu erkennen.«
https://​www​.han​ser​-lite​ra​tur​ver​lage​.de/​b​u​c​h​/​d​s​c​h​i​n​n​s​/​9​7​8​-​3​-​4​4​6​-​2​6​9​1​4​-9/

Der Roman han­delt von den zwei Figu­ren Hüseyin und Emine und deren erwach­se­nen Kindern.

Hüseyin gehört zu der Gast­ar­bei­ter­ge­nera­tion, die Ende der 70er Jahre nach Deutsch­land abge­wor­ben wurde.

Hüseyin kehrt nach 30 Jah­ren schwe­rer Arbeit nach Istan­bul zurück, um hier sei­nen Traum zu ver­wirk­li­chen – eine Eigen­tums­woh­nung zu erwer­ben. Eine »geräu­mige 3 + 1-Zim­mer-Woh­nung im vier­ten Stock, für die du fast drei­ßig Jahre gear­bei­tet und gespart hast.« (S. 9). Hüseyin kann diese Woh­nung jedoch nicht mehr genie­ßen, er stirbt uner­war­tet an einem Herzinfarkt.

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Die Schrift­stel­le­rin Fatma Ayd­emir auf dem Erlan­ger Poe­ten­fest 2017
© Amrei-Marie – Own work
Quelle: https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/1/1f/Fatma_Aydemir_2017_%28cropped%29.jpg

Die Fami­li­en­mit­glie­der fah­ren, emo­tio­nal auf­ge­la­den, getrennt zur Beer­di­gung nach Istan­bul – der Leich­nam muss einen Tag nach dem Tod beer­digt wer­den. Alle Fami­li­en­mit­glie­der tra­gen nicht nur ihre Trauer, son­dern auch Ver­let­zun­gen und Geheim­nisse mit nach Istan­bul – hier hat der Dschinn seine Funktion.

Jedes Fami­li­en­mit­glied hat ein eige­nes Kapi­tel im Buch, damit ändert sich die Erzähl­per­spek­tive immer wie­der und die Gedan­ken der ange­spro­che­nen Per­son zum Leben in Deutsch­land, zum Natio­na­lis­mus, zum Ras­sis­mus, zu Migra­tion und Gen­der­theo­rie wer­den vor­ge­stellt. Beson­ders aber das Ver­hält­nis der Fami­li­en­mit­glie­der unter ein­an­der, was weiß man über den ande­ren, viel­leicht wich­ti­ger: was weiß man nicht. So erfährt der Leser erst nach und nach den Grund, warum Hüseyin als Gast­ar­bei­ter nach Deutsch­land gekom­men ist, er ist Kurde und hat in der tür­ki­schen Armee gegen sein eige­nes Volk gekämpft. In Deutsch­land kann er – so hofft er – sich die­ser Gefah­ren­si­tua­tion ent­zie­hen. Auch seine Kin­der erfah­ren erst jetzt von ihren kur­di­schen Wur­zen. Aber:

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55 tür­ki­sche Gast­ar­bei­ter kom­men am 27.11.1961 auf dem Flug­ha­fen in Düs­sel­dorf an.
© pic­ture alli­ance / dpa | Wolf­gang Hub)
Quelle: https://​www​.bpb​.de/​k​u​r​z​-​k​n​a​p​p​/​h​i​n​t​e​r​g​r​u​n​d​-​a​k​t​u​e​l​l​/​3​4​2​6​5​1​/​v​o​r​-​6​0​-​j​a​h​r​e​n​-​a​n​w​e​r​b​e​a​b​k​o​m​m​e​n​-​z​w​i​s​c​h​e​n​-​d​e​r​-​b​u​n​d​e​s​r​e​p​u​b​l​i​k​-​d​e​u​t​s​c​h​l​a​n​d​-​u​n​d​-​d​e​r​-​t​u​e​r​kei

»Deutsch­land war nicht das, was du dir erhofft hat­test, Hüseyin. Du hat­test dir ein neues Leben erhofft. Was du bekamst, war Ein­sam­keit, die nie ein neues Leben sein kann, denn Ein­sam­keit ist eine Schleife, ist die stän­dige Wie­der­ho­lung der­sel­ben Erin­ne­run­gen im Kopf, ist die Suche nach immer neuen Wun­den in längst ent­schwun­de­nen Ichs, ist die Sehn­sucht nach Men­schen, die man zurück­ge­las­sen hat.«  (S. 12)

Fatma Ayd­emir hat einen Roman geschrie­ben, der in die Ver­gan­gen­heit der 70er und 80er zurück­reicht, aber gleich­zei­tig auch in die Zukunft, denn sie zeigt uns die Ohn­macht der ein­zel­nen Gene­ra­tio­nen der tür­ki­schen Fami­lie in einer Gesell­schaft, die vom täg­li­chen Ras­sis­mus geprägt ist.

Fatma Ayd­emir im Interview:

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Gemein­same Demons­tra­tion von Deut­schen und Tür­ken am Tat­ort im Juni 1993
Quelle: Von Sir James, CC BY-SA 2.0 de, https://​com​mons​.wiki​me​dia​.org/​w​/​i​n​d​e​x​.​p​h​p​?​c​u​r​i​d​=​4​1​1​9​365

»Für mich sind das die Jahre, die in Deutsch­land von der All­ge­gen­wär­tig­keit rech­ter Gewalt geprägt war, und in der Tür­kei von Mas­sa­kern. Die Struk­tu­ren, die sich in den neun­zi­ger Jah­ren gebil­det haben, rei­chen bis ins Heute. Es gibt einen Zusam­men­hang zwi­schen Hanau und Solingen.«
https://​www​.han​ser​-lite​ra​tur​ver​lage​.de/​b​u​c​h​/​d​s​c​h​i​n​n​s​/​9​7​8​-​3​-​4​4​6​-​2​6​9​1​4​-​9​/​?​p​t​_​r​e​f​=​b​u​c​h​l​i​n​k​&​u​t​m​_​c​a​m​p​a​i​g​n​=​9​7​8​3​4​4​6​2​6​9​1​4​9​&​u​t​m​_​m​e​d​i​u​m​=​b​u​c​h​l​i​n​k​&​u​t​m​_​s​o​u​r​c​e​=​p​e​r​l​e​n​t​a​u​c​h​e​r​.de

Schade, dass Fatma Ayd­emir, obwohl sie mit ihrem Roman auf der Short­list stand, den Deut­schen Buch­preis nicht erhal­ten hat. Ich habe den Ein­druck, dass The­men wie sexu­elle Iden­ti­tät: homo­se­xu­ell; schwul; les­bisch; gay; homo; ver­zau­bert; warm. bise­xu­ell; bi; ambi­se­xu­ell; pan­se­xu­ell, queer, auf der Tages­ord­nung ste­hen und Buch­preise auch auf­grund des The­mas ver­ge­ben werden.

Unterschrift
Mar­gret Hövermann-Mittelhaus

2022 rezensiert, Fatma Aydemir, Gesellschaftsroman, Hanser Verlag, Migration, Rassismus, Türkei