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Oktobertag

Sigurd Hoel
» Ein Okto­ber­tag in Oslo

Autor:Sigurd Hoel (Nor­we­gen, 1931)
Titel:Ein Okto­ber­tag in Oslo
Aus­gabe:Hinstorff Rostock/DDR, 1990,
Über­set­zung:Sigurd Schmidt
Erstan­den:Anti­qua­risch, Hin­weis von Ketil Bjørnstad
Oktobertag
Cover in der Aus­gabe des Hinstorff Ver­lag Ros­tock / DDR

Vor­be­mer­kung: Auf Sigurd Hoel (1890-1960) wird in nor­we­gi­scher Lite­ra­tur oft genug hin­ge­wie­sen, so auch bei Ketil Bjørn­stad. Eine kurze Suche nach Hoel-Titeln im Anti­qua­riat ließ mich fün­dig wer­den. Und: Es war wie­der ein­mal eine Aus­gabe eines Skan­di­na­vi­ers im Hinstorff Ver­lag aus Ros­tock, wei­land in der DDR. Die­ser Ver­lag ist bis heute mit sei­nen Aus­ga­ben nor­di­scher Autoren für den Fan eine Fund­grube: Tarje Veesas (Das Eis­schloß, N), Tove Jans­son (Die Pup­pen­stube, Fi), Johan­nes v. Jen­sen (Him­mer­lands­ge­schich­ten, Dk), Sivar Arnér (Quer­bal­ken, S), Kris­tian Els­ter (N), Alex­an­der Kiel­land (N), Jens Bjør­ne­boe (N), Kjar­tan Fløg­stad (N). Um nur ein paar Autoren und Titel von Hinstorff zu nen­nen. Einer der Ver­lage, der wesent­lich zum Lese­land DDR bei­trug und Inter­na­tio­na­les ins Land brachte. Das ja selbst Wert dar­auf legte, einer der »Ost­see-Anrai­ner« zu sein und diese Ver­bun­den­heit auch lite­ra­risch zu pflegen.

So kamen DDR-Leser Jahr­zehnte frü­her als ihre west­deut­schen Lese­brü­der und Schwes­tern zu nor­di­scher Welt­li­te­ra­tur – zu DDR übli­chen Nied­rig­prei­sen, 6 bis7 Mark der DDR steht in unse­ren Hinstorff-Büchern.

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Der Autor Sigurd Hoel
Foto: © Pho­to­grapher: Stur­la­son Eier / Owner Insti­tu­tion: Nas­jo­nal­bi­blio­te­ket Norge/Oslo

Immer­hin wurde der Ver­lag – anders als sehr, sehr viele aus der DDR – nicht abge­wi­ckelt, geschluckt oder ver­ein­nahmt. Der Heise Ver­lag über­nahm und steu­erte das Pro­gramm in die Rich­tung »schöne meck­len­bur­gi­sche Hei­mat« um, wo man Franz Füh­mann, Ehm Welk und Fritz Reu­ter als Autoren wie­der fin­det: https://​www​.hinstorff​.de/

Ein Blick hin­ter die Fas­sade moder­ner Ehehöllen

So könnte man den Osloer Okto­ber­tag von Sigurd Hoel (1890-1960) auch über­schrei­ben. Hoel ein pro­mi­nen­ter nor­we­gi­scher Schrift­stel­ler »zwi­schen den Krie­gen«, einer der in unse­rer Riege Bücher von über 40 Schrei­ben­den aus dem Nor­den bis­her gefehlt hatte. Von ihm gab es drei wei­tere Titel über­setzt bei Hinstorff – bis­her alles nicht wie­der auf­ge­nom­men, also den Anti­qua­ria­ten überlassen.

Aus­ge­hend vom Ner­ven­zu­sam­men­bruch der jun­gen attrak­ti­ven Tor­dis Ravn, wird das Gesche­hen in einem Osloer Mehr­fa­mi­li­en­haus 1930 von im Grunde nur 24 Stun­den vor­ge­stellt. Mit ihrer Attrak­ti­vi­tät und der Arbeit als Man­ne­quin ist Frau Ravn näm­lich ande­ren (Ehe-)Frauen ein Dorn im Auge, den Män­nern dage­gen sticht sie in das­selbe. Wer so hübsch und anzie­hend ist, kann im mora­li­schen Urteil der bra­ven Bür­ger nur eines sein: eine Hure. Wovon nun wie­der so man­cher gelang­weilte Ehe­mann pro­fi­tiert, was heuch­le­ri­scher Weise nichts am Urteil über die junge Frau ändert. Tor­dis aber trägt es anonyme Briefe und Krei­de­ver­leum­dun­gen an der Woh­nung­tür ein.

In einer Rück­blende beleuch­tet der Autor aus der Sicht der Nach­barn die Situa­tion der gerade zusam­men­ge­bro­che­nen Tor­dis Ravn. Dabei kommt her­aus, dass sie alle eini­ges zu ver­ber­gen haben. So schreibt S. Hoel das Psy­cho­gramm eines Hau­ses, sei­ner Mie­ter. Sehr geschickt wickelt der Autor ein gan­zes Pan­op­ti­kum der Haus­be­woh­ner und ihres (Nicht-) Zusam­men­le­bens ab. Da ist Frau Wel­land, Zim­mer­ver­mie­te­rin, mit Angst vor allem und jedem, in Furcht vor der Ablö­sung ihrer Toch­ter, aber geschäfts­tüch­tig genug wegen der Woh­nungs­not von der in Tren­nung leben­den Frau Ravn einen unver­schäm­ten Preis zu nehmen.

Da ist der Minis­te­ri­al­rat Ribe, ein wah­rer Lebens­bü­ro­krat, »Das Salz­fass stand nicht an sei­nem Platz« bel­fert er seine Frau an. Die wie­derum nur in den ver­fes­tig­ten Lebens­ge­wohn­hei­ten ihres Man­nes lebt. Was Wun­der, dass sie Abwechs­lung in Sei­ten­sprün­gen sucht.

Der Groß­händ­ler Ham­mer, mit dem Haus­be­sit­zer Rechts­an­walt Eide in Geschäfte ver­wi­ckelt, hat auch keine rich­tige Ehe mehr. Seine Frau schreit, trotz zweier Kin­der ihre Ehe­mü­dig­keit gerade zu hin­aus. Gehei­ra­tet hat er sie auch nur, weil eigent­lich eine Rie­sen­erb­schaft zu erwar­ten war, eigent­lich. Jeden­falls hat sie ihn schon betrogen.

Dann ist da der Stu­dent, der auch schon mit Frau Ravn geschla­fen hat. Eigent­lich wollte sie mit ihm über etwas reden, es kam »irgend­wie« nicht dazu. Obwohl sie ihm gesagt hatte, dass sie nie­man­den hätte, dem sie sich anver­trauen könnte …

Dann ist da der Redak­teur Mall, ent­täuscht vom gan­zen Leben, kommt nie als Buch­au­tor groß her­aus, und sein Inne­res spricht (S. 97): »Er hört die kleine bit­tende Kna­ben­stimme in sich: Warum könnt Ihr denn nicht gut zu mir sein?« Auch Mal­ling hatte eine Affäre mit der Ravn, vier Monate sogar, trotz­dem hat er an einem ver­leum­de­ri­schen anony­men Brief gegen sie mit­ge­wirkt, ».… dass er sich an der Aktion in einer Art Selbst­hass betei­ligt hatte…« (S. 103).

So weit ist Haus­be­sit­zer Eide, ein wider­li­cher Neu­rei­cher, der sich in sei­nem Auf­stieg suhlt, wie die Sau im Mist, noch nicht. Aber er hat es sich gerade vor­ge­nom­men, ihre pre­käre Situa­tion im Hause aus­zu­nut­zen. Die wird er gera­dezu »erle­gen«, einst­wei­len begnügt er sich im Bett mit der Frau des Geschäfts­part­ners Ham­mer; deren Mann hätte ja sowieso keine dau­er­hafte Zukunft.

Auch die Ehe von Stu­di­en­rat Gabri­el­sen zeigt Schre­cken hin­ter der Fas­sade, mit sei­ner Frau spricht er seit 20 Jah­ren nicht mehr. Die ist die Ober­klatsch­tante des Hau­ses, hat eine Stimme wie eine Kreis­säge und er hofft, sie eines Tages zum Schwei­gen zu brin­gen. Sein Traum: »Sie hatte bloß einen ganz klei­nen Schlag­an­fall gehabt und saß im Ses­sel und war stumm.« (S. 107).

Und diese Häu­fung von Unrat hin­ter den schein­bar glat­ten Fas­sa­den mit­ten in der nor­we­gi­schen Haupt­stadt ent­wi­ckelt der Autor in einem eher neben­säch­li­chen Ton. Mit dem und sei­ner unglaub­li­chen Ansamm­lung mensch­li­cher Kata­stro­phen hält er den Leser kräf­tig in Span­nung. Nur in der bür­ger­li­chen Gesell­schaft sei­nes Lan­des, in der diese Geschich­ten ja behei­ma­tet sind, da wird der Autor sich nicht viel Freunde gemacht haben.

Der Kata­stro­phen­jo­ker – das Ehe­paar Ravn

Eher bei­läu­fig erfährt der Leser das Schick­sal des Zen­trums der Kata­stro­phe: Tor­dis Ravn ist ver­hei­ra­tet mit dem Che­mi­ker Ravn, lebt der­zeit getrennt. Herr Ravn steckt tief in For­schungs­ar­bei­ten, muss aber als Brot­be­ruf unge­liebte Stun­den geben, ein ihm unan­ge­neh­mer Zwie­spalt. Und nicht nur das: Die Frau, so sein sich stei­gern­des Credo, stört ihn bei der wis­sen­schaft­li­chen Arbeit. Zwar ist er auch in sie ver­liebt, fürch­tet aber per­ma­nent, dass sie ihn zum Wrack macht. Also noch eine Ehe, die vom All­tag zer­rie­ben wird, er gepresst zwi­schen For­schung und Gel­d­ar­beit, sie von Lan­ge­weile, Ein­sam­keit und Nicht-Ausgefülltsein.

Schlim­mer noch, er wäre Wis­sen­schaft­ler wegen eines inne­ren Wahr­heits­trie­bes gewor­den. Womit ihn die Strei­te­reien sei­ner Eltern und die klei­nen Lügen sei­ner Mut­ter zutiefst gestört haben. Und nun muss er ähn­li­ches bei sei­ner Frau erle­ben, Dr. Freud lässt grüßen.

Sei­nen Arbeits­an­sprü­chen hat sie sich voll­stän­dig unter­zu­ord­nen, eine Schwan­ger­schaft muss abge­trie­ben wer­den, finan­zi­ell wird’s auch immer knapper.

Nach dem halb­jähr­li­chen Honey­moon zeigt sich, dass es nicht zu einer ech­ten Bezie­hung zwi­schen den bei­den kommt, er betrügt sie mit einer engen Freun­din, sie lässt sich auf Aben­teuer ein, bleibt dabei ein­sam und will eigent­lich nur von ihm geliebt werden.

Ihm aber, tief in einem gera­dezu strind­ber­gia­ni­schen Frau­en­hass ist das unmög­lich. »… emp­fin­det er die Frau als Vam­pir, vom Teu­fel erfun­den, um ihn aus­zu­sau­gen.« (S. 246).

Dabei weiß er selbst: »Du hast ein Moral­prin­zip in Dir, das Dir Askese abver­langt, wenn Du in eine geis­tige Arbeit ver­tieft bist.« (S. 247). Das wie­derum kommt sozu­sa­gen mit einem schö­nen Gruß von August Strind­berg, dem skan­di­na­vi­schen Frau­en­has­ser per Excellence.

Tor­dis Ravn hat im Grunde keine Chance, ihr Ver­such, selbst Che­mie zu ler­nen wird abge­wehrt. Attrak­tiv zu sein, gilt als ver­werf­lich, ihre Man­ne­quin-Dasein sowieso. Und was will sie eigent­lich, die Schick­sale im gan­zen Haus zei­gen doch, sol­che »Nicht-Ehen« sind ein­fach die Normalität!

Am Ende kommt es zu einer Kata­stro­phe, jeden­falls für Tor­dis, aber die Frau des Ver­mie­ters Eide, und mit ihr alle ver­lo­ge­nen Heuch­ler des Hau­ses, darf befrie­digt fest­stel­len, S. 276: »Und nun ist Num­mer 27 doch wie­der ein anstän­di­ges Haus, nicht wahr Simon?«

Hinstorff-reihe
Ein­mal zusam­men­ge­stellt, kam doch etli­ches aus dem Hinstorff Ver­lag bei uns zusam­men. Dar­un­ter auch Ull­rich Plenz­dorf, Hinstorff war nicht nur »skan­di­na­visch«
Natür­lich sieht man, dass die Bücher gele­sen wor­den sind, natürlich!

Fazit: Das Beein­dru­ckende die­ses Romans ist die gera­dezu hin­ter­häl­tige Ent­blät­te­rung der see­li­schen und sozia­len Grau­sam­kei­ten, die hin­ter der Fas­sade eines gut­bür­ger­li­chen Miets­hau­ses in der nor­we­gi­schen Haupt­stadt ste­cken. Der Blick in die dort geleb­ten »Ehe­höl­len«, eine nach der ande­ren, grau­sig. Der nahezu chan­cen­lose Ver­such einer jun­gen Frau zu einer Bezie­hung mit Liebe und Mit­be­rech­ti­gung zu kom­men. Die gera­dezu »strind­ber­gia­ni­schen« frau­en­has­sen­den Tira­den des Ehe­manns Ravn gegen­über sei­ner Tor­dis waren für mich nur gestählt durch Strind­berg-Lek­tü­ren zu ertra­gen. Sei­ner­zeit (1930) war die offen ange­spro­chene Ero­tik, die rei­hen­weise Ehe­brü­che und Begeh­ren von Frauen auch noch Skandalthemen.

Letzt­lich aber ver­ar­bei­tet Sigurd Hoem etwas, was erst einige Jahre spä­ter von sei­nem schrei­ben­dem Lands­mann Aksel San­de­mose for­mu­liert wurde: Das Gesetz des Spieß­bür­gers, das Gesetz von Jante, vgl https://​mit​tel​haus​.com/​2​0​1​8​/​0​1​/​3​1​/​a​x​e​l​-​s​a​n​d​e​m​o​s​e​-​d​e​r​-​k​l​a​b​a​u​t​e​r​m​a​nn/

Sehr lesens­wert

2022 rezensiert, Gesetz von Jante, Hinstorff Verlag/DDR, Norwegen, Sigurd Hoel, Strindberg