Jørn Riel
» Sangen for livet (Gesang fürs Leben)
Autor: | Jørn Riel (Dänemark, 1989) |
Titel: | Sangen for livet |
Ausgabe: | Lindhardt og Ringhof, 1989, 6. Ausgabe, 1. Auflage 2014, dänische Originalfassung |
Erstanden: | Pankebuch in Berlin Pankow |
Dies ist ein sogenannter »Slægtsroman« des dänischen Vielschreibers Jørn Riel, also ein Roman, der die Geschichte einer Familie, eines Geschlechts, über den Verlauf der Jahrhunderte erzählt. Beispiele für diese Art Romane sind »Kristin Lavranstochter« der Norwegerin Sigrid Undset. Oder in neuerer Zeit die Dina-Trilogie der Herbjørg Wassmo, ebenfalls aus Norwegen.
Der Däne Riel, der 18 Jahre auf Grönland verbracht hat, führt die Leser mit seinen Slægtsromanen tief in dieses Nordland hinein, zu den Völkern der Inuit, aber auch zu anderen Menschen, Indianer-Völkern, Skandinaviern (aus Norwegen und Island) auf der großen Insel. Die erscheint als ein Schmelzpunkt unterschiedlicher Völker, die aber nicht immer friedlich miteinander auskommen. Brutalität, Mord, Blutrache, Grausamkeit sind auch Teil des Lebens von Menschen, die eng verzahnt mit der sie umgebenden Natur leben.
Riel erzählt dies über fast 1000 Jahre am Beispiel eines Inuit-Stammes, die sich auf Vorfahren wie den Jäger Heq, aber auch die sagenumwobene Tewee-Soo, seine Frau beziehen. Wobei gerade Tewee-Soo als eigentliche Hare-Indianerin (Nordwest-Territorien) deutlich die Einflüsse verschiedener Stämme und Völker auf und in Grönland deutlich macht.
Deren Geschichten stets von Mund zu Mund weitergegeben wurden, um sie bis in die heutige Zeit lebendig zu halten. Tewee-So bekam ihren Namen direkt von Manitu, dem großen Geist der Indianer, ihr Name bedeutet »Der, der immer wandert«, Gendern war seinerzeit noch nicht »in«.
Erst Soré, eine Frau von heute, ist die erste, die beginnt, die Geschichte ihrer Vorfahren schriftlich niederzulegen. Sie als bekannte Erzählerin bezweifelt lange, ob das überhaupt geht, wenn die Zuhörer nicht ihre Augen sehen können, was die sprechen?
Aber sie schreibt das auf Grönländisch auf, auch wenn sie das schlecht buchstabieren kann. Wie der Autor ihren Kampf mit den festzuhaltenden Buchstaben schildert, ist eines von vielen Highlights. Sorés ihr Onkel Lûtivik ermahnt sie dazu: Denk immer daran, wem die Geschichte gehört. Womit ihr Volk und ihre Vorfahren gemeint sind. Und aufgrund auch Sorés schamanischer Fähigkeiten (S. 387): »Angunatik skrev din bog. Han talte gennem din sjæl og gav dig din historie« (Angunatik, unsere Ahnin, schrieb Dein Buch. Sie sprach durch Deine Seele und gab Dir Deine Geschichte.
Mitten in Grönland
Mich hat an den drei Büchern, die in diesem Band zusammengefasst werden, vor allem fasziniert, dass man mit ihrer Lektüre tief nach Grönland, in das Leben der Inuit und anderer Völker, ihre Geschichte und ihre Entwicklung hineintaucht. Etwas um den schnöden Alltag völlig zu vergessen. Ich war erst skeptisch, ob ich die 500 Seiten auf Dänisch überhaupt packen würde – und konnte nach dem ersten Teil, »Heq’s Reise«, überhaupt nicht mehr davon lassen. Kann man etwas Besseres über einen Erzähler sagen?
In den Romanen Riels sticht eine sehr unbefangene Sexualität unter den Inuit hervor, worüber deutlich, aber nicht pornografisch vom Begehren und seiner Befriedigung gesprochen wird. Mitunter geht es auch rücksichtslos und gewaltsam gegenüber Frauen zu, was aber auch deren Rache nach sich ziehen kann.
Eine der schönsten Passagen dreht sich um Tyakutyik, eine Frau im Männerkörper, was dem Stamm ebenso einfach wie deutlich erklärt wird, er hatte zwei Seelen in seiner Brust. Aber auch er/sie findet eine Partnerin, aber eine Ehe, in der eine Frau die Rolle des Mannes übernimmt, was zugleich die Rolle des Ernährers bedeutet. Der kann, oder muss auch mehr als eine Frau und deren Kinder ernähren, wobei man sich im Zweifelsfall auch die Jagdbeute teilt.
Wer diese drei Romane lesen will, sollte Grönland, dem hohen Norden Interesse entgegen bringen und sich auf viele fremde Worte und Begriffe aus der Sprache der »Inuit« einlassen, die im Buch erklärt werden. Ebenso wie ein umfangreiches Namensregister, in dem ein Stammbaum allerdings der Übersicht geholfen hätte.
Die Reisebücher
Die Bücher werden auch nach den Reisen der Hauptpersonen benannt, zunächst ca. 1000 n. Chr. die von den Nordwest-Territorien (Kanada) nach Grönland, die Reise von Tewee-Soo und Heq. Dann eine Reise ganz um Grönland herum im 15. Jahrhundert, initiiert von Arluk, womit der Autor aber auch einen (zu) großen erzählerischen Sprung in die Mitte des 15. jahrhunderts macht. Wobei Arluk damals davon ausging, dass es eine Reise um die ganze Welt sei. Real spielten sich die Reisen (bis auf einen kleinen Teil) aber ausschließlich an der Küste ab, wo alle menschlichen Siedlungen lagen, im Osten und im Westen. Und gleichermaßen dicht besiedelt, nichts mehr mit Menschenleere wie zu Beginn der Erzählung.
Und schließlich in der heutigen Zeit spielen dann Sorés Reisen, nicht nur auf den Spuren ihrer Mutter Maria, sondern überhaupt ihrer Vorfahren.
Inuit, oder Eskimos wie man früher sagte, leben von der Jagd nach Tieren, das bestimmt ihren Alltag, Meerestiere, Bären, Moschusochsen, Seehunde, Vögel, Walrösser, Fische und Wale. Das bringt ihnen Eier, Fleisch, Nahrung aber auch Häute, Felle, Speck und Tran. Mit dem man kocht und heizt, Taschen, Decken und Kleidung fertigt. Ein äußerst naturnahes Leben, das die Inuit auch dazu zwang, vom heute kanadischen Territorium nach Grönland zu ziehen. Der Zug der Rentierherden war ausgeblieben. Und wo die Tiere damals keine Menschen treffen, folglich keine Angst vor ihnen haben und sich leichter fangen lassen.
Ob Arluks Rundreise um Grönland im Mittelalter wirklich reiner Neugier bzw. den schamanischen Erleuchtungen der Geister und Vorfahren entsprang, das lässt mich skeptisch sein. Aber eine schöne Geschichte ist es.
Lange Winter, leben im Dunklen von Vorräten, das Erzählen von Vorfahren, Geistern, Reisen, eigenen und fremden Erlebnisse macht einen großen Teil des Inuit-Lebens aus. In den Erzählungen leben ihre Vorfahren, ihre Geschlechter, ihre Geschichte. Gibt es etwas Schöneres als bei einer Erzählung einzuschlafen, fragt eine als große Erzählerin bekannte Innuut-Frau.
Und: Medienkonsum gab es ja damals nicht – wer vermag sich das vorzustellen?
Das Leben im Respekt der Vorfahren, die hohe Bedeutung der Tabus, der Geister und Mythen, denen sich nur Auserwählte in tiefer Meditation nähern können, dieser Zug wird den Lesern stets nahe gebracht. Es ist ein äußerst naturnahes Leben, das nur im Einklang mit der Umwelt funktioniert, deren Wunder der Schönheit den Inuit immer wieder gewärtig ist.
S. 51 »Shanuq gik ofte at havet for at lade sig opfyldte af disse isfyldte højes skønhed« (Shanuq ging oft zum Meer, um sich von dieser großen, eisgefüllten Schönheit erfüllen zu lassen).
Naturnah gilt auch fürs Leben und Wohnen, egal ob im Zelt aus Fellen (feuchte Übergangszeit), Erd- oder Holzhütte (aus Walknochen und Treibgut) oder den Schnee-Iglus. Die es aber nur gibt, wenn der Schnee dafür passend ist und dem man ggfs. nachreisen muss. Schneestürme, Hungerphasen, Fangüberfluss, Tod durch das Meer und das Eis, prägen den wechselnden Alltag der Grönlandbewohner. Naturnah heißt auch zu sagen, der Wolf ist dem Menschen am ähnlichsten, denn er bringt seinesgleichen um.
Der Tod kann bei verschiedensten Gelegenheiten kommen, beim Jagen, auf dem Eis, im Schneesturm, durch Hunger oder Kampf mit Rivalen oder anderen Stämmen resp. Völkern.
Aber auch zum Tod haben die Inuit ein uns eher verblüffendes Verhältnis, S. 141: »..at døden beder om livet og får enten afslag eller tilbud. Døden er ikke tragisk. Den har værdighed.« (Wenn der Tod ums Leben bittet, bekommt er entweder eine Ab- oder eine Zusage. Der Tod ist nicht tragisch, er verkörpert Würde).
So wird die Grotte, in die sich seinerzeit Tewee-Soo zurückzieht, um dort zu sterben, geradezu sagenumwoben. Und für ihre Nachfahren über Generationen ein wichtiger mythischer Ort, um mit meditativer Konzentration den Geistern nahe zu kommen – sofern man schamanische Fertigkeiten entwickelt hat.
Die Inuit verstanden zu feiern, z. B. wenn Besucher kommen, gibt es ein Festmahl, S. 239: »Man havde spist til tungerne stod på højkant i mundene og maverne var hårdt og udspilede« (Man hatte gegessen, bis die Zungen hochkant in den Mündern standen und die Mägen hart und geweitet waren.)
Es ist – bedingt durch die Lebensweise ein auch durch Gewalt geprägtes Leben, Inuit gegen Indianer, Überfälle aus Hunger, Kampf um Vorräte, Stamm gegen Stamm, aber auch von Gewalt gegen Frauen und daraus folgender brutaler Rache. Die unterschiedliche Rolle der Frauen wird deutlich, beide Geschlechter können entscheiden, mit wem sie schlafen wollen, nicht immer muss es ehelich sein. Gewalt gegen Frauen kommt vor, Rache der Frau oder ihres Versorgers ebenfalls. Bei Entscheidungen eines Stammes spielen sie fast nie eine Rolle. Als Erzählerinnen und Bewahrerinnen der Vorfahren und deren Geschichte gibt es sie aber.
Die Versorgerrolle (meist eines Mannes)ist aber unabdingbar, genauso wie Nähen, Häute und Felle bereiten, Kochen, Kinder gebären und groß ziehen (von Frauen) existentiell erscheint.
Arluk erfährt am Ende seiner Reise, in der schamanischen Meditation an der Höhle seiner Ahnin Tewee-Soo (S. 345): »Du omrejste den verden,.. og opdagede at den var en ø i havet…..at forstå, at menneske i alle lande er ens, selv om sprog od udseende kan være en smule anderledes.« (Du hast die Welt umreist.. und entdeckt, das sie eine Insel im Meer war…. um zu verstehen, dass alle Menschen im Lande eins sind, selbst wenn die Sprache und das Aussehen ein bisschen anders sind.)
Grönland und Dänemark
Erst im letzten Reisebuch, dem von Soré im 20. Jahrhundert, kommt J. Riehl zum (komplizierten) Verhältnis zwischen Dänemark und Grönland.
Soré, die genau wie ihr Pflegeonkel kein Dänisch spricht, hat die Chance zur Bildung in Dänemark, schreibt aber über ihre 2 Jahre dort (S. 379):»Men den var ligesom en glasvæg mellem danskerne og mig. Og hvergang jeg løb mod dem gjorde det ondt.«(Es war gleichsam wie eine Glaswand zwischen den Dänen und mir. Und jedesmal, wenn ich dagegen lief, tat es weh.).
Und ein alter (Seehund-)Fänger sagt zu ihr, S. 413: »Det er muligvis bedre at fange turister end sødyr…, men man bliver så afhængig af penge og butik, for turisterne kan ja ikke spises« (Möglicherweise wäre es besser, Touristen zu fangen statt Meerestiere, .. aber dann wird man so abhängig vom Geld und den Läden, denn die Touristen kann man ja nicht essen.)
Vieles ist in der Jetztzeit verändert, Schlittenhunde oft verboten und die Inuit dürfen nicht mehr überall jagen. Der Alkohol der Dänen verwüstet Grönländer, macht sie abhängig und schafft furchtbare Schicksale, so auch bei Sorés Mutter Maria.
Die erklärt ihrer Tochter, S. 431: »Vi Inuit har, så længe der kan huskes tilbage, haft vore sagn. De tilhører os, er vore rødder ned i fortiden.« (Wir Inuit haben, so lange man sich zurück erinnern kann, unsere Sagen. Die gehören uns, die sind unsere Wurzeln in der Vorzeit.)
Die Zeit der langen Erzählungen ist aber vorbei, heute hat man vieles, was einen beschäftigt, Radio, Bücher, Fernsehen. Grönland wird dänische Kolonie und selbst wenn es ein (dänisches) Amt ist, statt einer Kolonie wird, bleibt die Abhängigkeit, so befürchten einige.
Soré jedoch bleibt nicht nur Autorin, sie geht in die Kommunalpolitik, um Grönland zu ändern. In welche Richtung? Es soll mehr grönländisch werden!
Manchmal weiß man nicht, ob es die Sprache der Inuit oder die des Erzählers so bewusst einfach ist. Gefehlt haben mir auch Hinweise auf die kulturelle Entwicklung der Grönland Bewohner. Welch negative Rolle fremde Eroberer und insbesondere die dänischen Kolonialherren gespielt haben, taucht spät und zu sehr am Rande auf.
Die Personen, ihre Schicksale, ihre Beschreibungen stellen eher keine literarischen Ereignisse dar, die der Däne uns präsentiert. Aber es sind Erzählerlebnisse. Riel hat nicht die Geschmeidigkeit und das Talent einer Undset oder einer Herbjørg Wassmo, so packende Familienbilder entwirft er nicht. Aber er fesselt mit seinen Geschichten, er saugt die Leser tiefs ins Grönland, unter die Menschen, die dort über Jahrtausende leben. Er macht sie verständlich und schafft es damit auch, eine Distanz zu dem zu entwickeln, was wir heute wie selbstverständlich als ziviliertes Leben betrachten.
Ein Slægtsroman, der mitten nach Grönland führt
Nachtrag:
Ich habe die drei Bände des »Gesang fürs Leben« nach der dänischen Original-Ausgabe rezensiert, die bei Lindhardt og Ringhof erschienen ist:
Viele Bücher von Jørn Riel sind auch in deutscher Sprache beim Schweizer Unionsverlag zu bekommen:
- http://www.unionsverlag.com
- http://www.unionsverlag.com/info/title.asp?title_id=2555
Hier hießen die besprochenen Romane »Grönlandssaga«, mit dem Untertitel der jeweiligen Reise, also Heq, Arluk bzw. Soré. Heute werden die Ausgaben beim Union Verlag so benannt: »Der Raub der Stammesmutter«, »Arluks große Reise« und »Sorés Heimkehr«.
Auch einen Schuber, der alle 3 Bände enthält, gibt es.
Beim Berliner Avant Verlag (gerade mit dem Großen Berliner Verlagspreis ausgezeichnet) erschien zudem eine Graphic Novel Version, unter dem Titel »Grönlandssaga« mit Zeichnungen von Hervé Tanquerelle.
2022 rezensiert, Dänemark, dänische Originalfassung, Grönland, Inuit, Jørn Riel, Lindhardt og Ringhof Forlag