Lew Tolstoi
» Das Licht scheint in der Finsternis
Autor: | Lew Tolstoi (Russland, 1894-1900) |
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Titel: | Das Licht scheint in der Finsternis |
Übersetzung: | Werner Creutziger |
Ausgabe: | Rütten & Löning, 2. Auflage, 1976 |
Erstanden: | Antiquarisch, mit Hilfe eines Dresdener Sammlers |
Sehnsüchte
Die literarische Spannweite in unserem Berliner Literaturblog »altmodisch:lesen« halten wir bewusst weit. Wozu die sehr unterschiedlichen bibliophilen Interessen von Margret und mir beitragen. Dazu passt mein Sprung von der Rezension der dänischen feministischen Provokation »11%« im Oktober 2023 zu einem der Klassiker der russischen Literatur, zu Lew Tolstoi. Dessen 20-bändige Ausgabe von Rütten & Löning (Berlin/DDR) ich in diesem Jahr – dank eines Dresdener Sammlers – komplettieren konnte. Ich sammle aber nicht nur, ich lese auch, wozu der 10. Band mit dem Titel »Macht der Finsternis« gehört, er enthält die Dramen des Autors. Und dort hat mich ein Werk ganz besonders beeindruckt: »Und das Licht scheint in der Finsternis«.
Es ist kurz gesagt der Konflikt zwischen dem reichen Nikolai Iwanowitsch Sarynzew und seiner Familie, allen voran seine Frau Marja. Sarynzew, der selbst allen Bediensteten die Hand gibt, will dem Reichtum, den er doch der Armut der anderen verdankt, komplett entsagen. Alles Land verschenken bis auf 50 Deßjatinen, ins Gärtnerhäuschen ziehen und den Rest höchstpersönlich beackern. Frau und Familie sind entsetzt, Du musst den Kindern doch ein standesgemäßes Leben ermöglichen, so heißt ihr Argument.
Sarynzews Logik ist eine andere, er wendet sich gegen die Bestrafung des Holzraubs einiger Bauern, S. 251: »… in Wahheit habe ich überhaupt kein Recht auf diesen Wald – die Erde gehört allen, das heißt, sie gehört niemandem.«
Dabei erkennt er einen Grundkonflikt, S. 253 »Der Mensch ist nicht allein Geist, sondern Geist im Fleisch. Und das Fleisch drängt ihn, für sich selbst zu leben …«, womit der Drang erklärt wird, sich zu bereichern, statt für Gott zu leben. Im Folgenden kritisiert er die Kirche sehr heftig, angefangen bei der Schöpfungsgeschichte (… in sechs Tagen …), und sie seien im Besitz der vollen und ausschließlichen Wahrheiten. Bis hin zu allerlei eher lächerlichen Geschichten aus dem alten Testament, der Sündenvergebung, Christis Himmelfahrt etc. Und kleinen unverbildeten Kindern, die fragen, »… was die Welt und ihr Gesetz sei …«, »… hämmern ihm..mit allem Eifer schauderhafte Ungereimtheiten und Scheußlichkeiten ein und schreiben das auch noch Gott zu.«
Seinem Sohn Stopa, der überlegt zum Militär zu gehen (üblich für Nachkommen von Gutsherren) rät er entschieden ab, S. 261: »Aus eigenem Antrieb in den Militärdienst treten, das halte ich … für einen dummen, törichten Schritt, sofern der Betreffende nicht die ganze Widerwärtigkeit dieses Handwerks begreift …«. Und er weigert sich, ihm Geld zu geben, S. 261: »Mir gehören nicht die Früchte anderer Menschen. Das Geld, das ich ihm geben würde, müßte ich aus anderen herauspressen. Dazu habe ich kein Recht, ich kann es nicht.« So einfach kann man das Prinzip der Ausbeutung erklären, und dass die Reichen von den Armen leben.
Sarynzews denkt Existentielles, S. 262: »Man kann doch so nicht leben – nicht wissend wozu.« Muss aber akzeptieren, wie sich das aus Sicht seiner Frau darstellt, die ihn zu Recht darauf hinweist, dass ihre Mutterrolle ihr viele Pflichten auferlegt. Aber der Autor kehrt zu den existentiellen Fragen zurück, S. 262: »Ja, dann kommt das Alter, der Tod, und ich werde mich fragen, wozu habe ich gelebt?«
In einem langen Brief Sarynzews an seine Frau wird noch einmal die Unvereinbarkeit der Positionen der Eheleute deutlich, dem Wunsch des Mannes dem meisten Besitz zu entsagen zugunsten der Armen, steht die Aufgabe der Frau gegenüber, Familie und Kinder (standesgemäß) zu erhalten. Der Konflikt wird nicht gelöst, sondern verlagert, in dem Sarynzew seine Güter seiner Frau überschreibt. Den jungen Leuten aber wirft er deutlich ihr gutes Leben vor, während die Armen ab 3 Uhr morgens um ihre Existenz kämpfen. Die Kirche dagegen lehrt das Gegenteil vom Gesetz Gottes. S.282: »Ich weiss, das im Evangelium gesagt ist: Du sollst nur nicht töten …, die Kirche aber segnet die Kriegsheere.« Und weiter, S. 283: »Wir alle haben das Volk bestohlen, haben ihm den Boden gestohlen und dann das Gesetz aufgestellt: Du sollst nicht stehlen. Und die Kirche gibt zu allem ihren Segen.«
Gleichzeitig hat man mit dem Brief den Eindruck, als wenn Tolstoi selbst spricht. So sehr erinnern Brief und Diktion an die quälenden Überlegungen Tolstois der letzten Lebensjahre. Sein bisheriges Leben zugunsten der Armut und der Bauern aufzugeben; prägnant passend dazu der Film »Ein russischer Sommer«, der 2010 in den Kinos erschien, mit Christopher Plummer und Helen Mirren.
Das Drama zeigt in quälender Deutlichkeit den Konflikt, der aufgeklärte reiche Russen vor mehr als 100 Jahren prägte, S.318: »Den Morgen habe ich im Obdachlosenasyl verbracht, ich hab ein Kind einfach an Hunger sterben sehen … dann komme ich nach Hause und ich sehe, wie mein Sohn, der Schnösel, vom Lakaien verlangt, er solle ihm ein Glas Wasser bringen..« Und weiter, S. 319: »… man gibt einen Ball, … vergeudet Hunderte, während Menschen verhungern.« Deutliche Worte, nur der Verwandte Sarynzews, der Fürstensohn Boris, folgt ihm, indem er den Militärdienst konsequent verweigert, dafür selbst ins Irrenhaus geht. Sarynzew muss klein beigeben und fragt sich verzweifelt, ob er so sehr geirrt hat?
Es ist ein spätes Werk Tolstois (1896/1900), es trägt stark autobiografische Züge, es gibt viele der Ideen und Ideale des Schriftstellers wider. Gleichzeitig stellt er im Drama fundamentale Fragen der menschlichen Existenz. Fragen, die ich mir genauso stelle, je älter ich werde, die ich selten so in aller Deutlichkeit ausgesprochen gefunden habe. Fragen, die mehr als 125 Jahre später unveränderte fundamentale Bedeutung haben:
Etwas, was Weltliteratur auszeichnet.
2023 rezensiert, Armut, Berlin/DDR, Grundbesitzer, Helen Mirren, Kirche, Lew Tolstoi, Reichtum, Rütten & Löning