Harriet Straub
» Zerrissene Briefe
Autorin: | Harriet Straub |
Titel: | Zerrissene Briefe (1914), hrsg von Ludger Lütkehaus |
Ausgabe: | Kore Verlag, Freiburg 1990 |
Erstanden: | antiquarisch |
Der Titel ›Zerrissene Briefe‹ verwundert zunächst, denn zerrissene Briefe können nicht mehr gelesen werden, sind vernichtet worden. Hier ist der Titel jedoch zu verstehen als Briefe, die nicht zensiert und 1914 veröffentlicht wurden. Um das Besondere dieser Briefe zu verstehen, muss zunächst etwas über Harriet Straub gesagt werden. Sie wurde 1872 geboren, hat ihre Heimat und damit das katholische Milieu vermutlich 1889 verlassen und ist nach Berlin gezogen. Hier hat sie Kurse von Helene Lange besucht und ist das erste Mal mit der bürgerlichen Frauenbewegung in Berührung gekommen. Sie studierte anschließend Medizin und Philosophie in Berlin und Paris und legte hier das medizinische Staatsexamen ab, damit ist sie eine der ersten promovierten Medizinerinnen. Nun geht sie im Auftrag der französischen Regierung für zehn Jahre als Ärztin in die französisch kolonialisierte Sahara und forscht über die hygienischen und gesundheitlichen Verhältnisse der Wüstenbewohner. Insbesondere interessieren sie die Lebensverhältnisse der Frauen und deren Lebensformen im Harem.
Und jetzt wird sie als Schriftstellerin interessant, denn hier entstehen ihre fiktionalen Briefe. Für Schriftsteller Ende des 19. Jahrhunderts war es nichts Ungewöhnliches über den Orient zu schreiben, aber in erster Linie über die orientalische Frau, die die erotischen Phantasien der Männer beflügelte. Für Harriet Straub war es ein Weg zur Emanzipation, um sich vom Leben als Ehefrau, Hausfrau und Mutter zu befreien. In ihrem Werk ›Zerrissene Briefe› zeigt sich, dass sich ihr Blick auf die Welt ziemlich verändert hat, so hat sie sich von der katholischen Kirche immer weiter entfernt und sich dem Thema der Emanzipation der Frau immer mehr genähert. »Sie behaupten, ich wäre auf dem falschen Weg. Ja, zum Donnerwetter, mein Weg ist doch mein Weg, ob er nun falsch oder recht ist, ich ginge ihn doch nicht, wenn er mir nicht ret schiene.« (S. 14). Immer wieder formuliert sie sehr deutlich, hat aber auch eine ironische und sarkastische Ader. »Da kam der Mann, der Dichter und prägte das Wort Liebe und lehrte: wenn Frauen lieben, wollen sie dem Mann angehören; dann werden sie sein eigen …« (S. 70).
Sie fordert die Frauen auf, sich zu solidarisieren und endlich etwas in Bewegung zu setzen: »Hört auf den gellenden Notschrei eures Geschlechts und sucht endlich eure Antwort auf die Frage: Was heißt Weib sein?« (S. 77). Ein politisches Konzept oder eine politische Alternative zum System des Kaiserreichs bietet sie jedoch nicht, politische Gespräche finden kaum statt. So formuliert sie sehr allgemein: »Der Staat geht zugrunde, wenn die Familie sich löst? Ei so laß doch den alten Staat zugrunde gehen … Was ist denn diese vielgerühmte Kultur, deren Blüte unser Staat ist, anderes als eine fortlaufende Geschichte von Krieg und Hinterlist und Unterdrückung des Schwächeren. Und die Frauen gebären geduldig die Kinder, damit der Staat im nächsten Krieg genug Soldaten habe.« (S. 73).
»Harriet Straub ist eine Frau, die die Konventionen ihrer Zeit mit ihren humorvollen Texten voll bissigem Witz durchbrochen hat und ihrer Zeit damit viele Schritte voraus war.« Quelle
Daher sind ihre Texte auch heute noch sehr lesenswert, denn sie wollte aus der bürgerlichen Familiennorm ausbrechen, was ihr schon dadurch gelungen ist, dass sie Ende des 19. Jahrhunderts 10 Jahre lang als Ärztin in der Sahara tätig war. »Harriet Straub war … eine der wenigen Frauen ihrer Zeit, die sich weigerten, ihre persönlichen Unabhängigkeitsbestrebungen in der Ehe oder ›im Schoß der Kirche‹ ersticken zu lassen.« Quelle
Lesenswerte Briefe einer deutschen Ärztin tätig in der Sahara (1914)!
Margret Hövermann-Mittelhaus
2023 rezensiert, Feminismus, Harriet Straub, Kore Verlag, Sahara