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Niviaq Kor­ne­li­us­sen
» Das Tal der Blumen

Autorin:Niviaq Kor­ne­li­us­sen
Titel:Das Tal der Blu­men (2020)
Über­set­ze­rin:Fran­ziska Hüther
Aus­gabe:btb Ver­lag, Mün­chen 2023, 1. Auflage
Erstan­den:Pan­ke­buch, Ber­lin Pankow

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Der Roman »Das Tal der Blu­men« von Niviaq Kor­ne­li­us­sen führt uns nach Grön­land. Und ich glaube, den Roman kann man nur ver­ste­hen, wenn man etwas mehr über die grön­län­di­sche Geschichte und Gesell­schaft weiß. Hier also eine ganz kurze Zusam­men­fas­sung: In Grön­land leb­ten in vor­ko­lo­nia­ler Zeit die Inuit bevor Grön­land im 18. Jahr­hun­dert von Däne­mark-Nor­we­gen kolo­ni­siert wurde und im 19. Jahr­hun­dert an Däne­mark fiel. 1953 wurde Grön­land deko­lo­ni­siert und in das König­reich Däne­mark ein­ge­glie­dert. Es began­nen umfang­rei­che Moder­ni­sie­rungs­maß­nahme, in Folge des­sen wur­den z.B. Tra­di­tio­nen der Inuit über Bord gewor­fen. Und jetzt began­nen die Pro­bleme, denn inner­halb von zwei Jahr­zehn­ten wurde die kolo­nia­li­sierte von Jagd und Fische­rei geprägte Gesell­schaft in einen indus­tria­li­sier­ten Staat umge­krem­pelt, der däni­schen Ansprü­chen genü­gen sollte. Ende der 60er Jahre begann der rasante Anstieg der Selbst­morde unter Jugend­li­chen, die ihr Selbst­ver­ständ­nis ver­lo­ren und Mühe hat­ten, einen Platz in der Gesell­schaft zu fin­den, denn in den Inuit-Fami­lien waren die männ­li­chen Jugend­li­chen wegen ihrer Rolle als Jäger und Ernäh­rer tra­di­tio­nel­ler­weise bevor­zugt. Die Selbst­mord­rate bei den jun­gen Mäd­chen ist jedoch genauso hoch, was auch daran lie­gen könnte, dass Däne­mark ver­suchte, aus der grön­län­di­schen Bevöl­ke­rung – den Inuit – Nord­dä­nen zu machen, indem z.B. die grön­län­di­sche Spra­che ver­bo­ten wurde. Grön­län­disch ist seit Jahr­zehn­ten allei­nige Amts­spra­che auf der Insel, aber fast alle Lehr­mit­tel ste­hen immer noch nur auf Dänisch zur Ver­fü­gung. Die Lehr­kräfte kom­men aus Däne­mark und spre­chen kein Grönländisch.

Fast einen Selbst­mord pro Woche gibt es in Grön­land, durch­schnitt­lich 50 Tote im Jahr. Warum? Eine Rolle spielt, dass die Jugend­li­chen wenig mit sich anzu­fan­gen wis­sen: »Wohn­klötze, viel Grau und wenig Leben. Es ist die in Beton gegos­sene Lan­ge­weile, die vie­len Jun­gen zu schaf­fen macht.« Quelle. Lei­den sie unter Depres­sio­nen und brau­chen pro­fes­sio­nelle Hilfe, kön­nen sie bei der Poli­zei anru­fen und war­ten, bis aus­ge­bil­dete Kräfte mit dem Hub­schrau­ber ein­ge­flo­gen kom­men. Inzwi­schen kli­cken sie sich online durch die moderne Welt und müs­sen fest­stel­len, dass sie den Stan­dard der Jugend Euro­pas nicht errei­chen wer­den. Aber das Wich­tigste: »Nur dar­über reden wol­len sie nicht. Isuma­mi­nik. Misch dich nicht ein, lau­tet ein altes Prin­zip.« Quelle

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Niviaq Kor­ne­li­us­sen . Foto Magnus Fröderberg/ nor​den​.org | Quelle

Die Alten erträn­ken diese Zer­ris­sen­heit in Alko­hol und geben das kul­tu­relle Trauma, immer noch abhän­gig von Däne­mark zu sein, in drit­ter Gene­ra­tion wei­ter. Aber Grön­län­disch sein ist eine Frage der Selbst­iden­ti­fi­ka­tion. Etwa 92 % der grön­län­di­schen Bevöl­ke­rung iden­ti­fi­zier­ten sich im Jahr 2019 damit.

Und jetzt ein Blick in die Zukunft und damit auf den Roman: Gerade die junge Gene­ra­tion wird aktiv, um auf die immer noch bestehen­den post­ko­lo­nia­len Macht­kon­struk­ten zwi­schen Grön­län­dern und Dänen in der Gesell­schaft auf­merk­sam zu machen. Sie beschäf­tigt sich mit grön­län­di­schen Iden­ti­täts- und Gesell­schafts­pro­ble­men. Als bedeu­tendste Schrift­stel­le­rin die­ser Gene­ra­tion gilt der­zeit Niviaq Korneliussen.

Sie beginnt ihren Roman »Das Tal der Blu­men« mit der Zahl 45, denn im Jahr 2019 haben 45 Per­so­nen in Grön­land Selbst­mord began­gen. Und jetzt zählt sie run­ter: »45. Frau, 38 Jahre. Erhän­gen.« (S. 11). »44. Mann, 19 Jahre. Schuss­waffe.« (S. 15). Und so zählt sie immer weiter.

Die namen­lose Ich-Erzäh­le­rin will Grön­land ver­las­sen, um in Däne­mark, in Aar­hus, zu stu­die­ren. Sie will unbe­dingt Nuuk (über­setzt: gute Hoff­nung), die Haupt­stadt Grön­lands, und damit auch ihre Fami­lie, wo sie immer wie­der auf Unver­ständ­nis stößt, ver­las­sen. Unter­stützt wird sie von ihrer Freun­din, ihrer Gelieb­ten, Maliina. Damit bleibt auch eine echte Ver­bun­den­heit mit Grön­land und das Ver­spre­chen in den Ferien und nach dem Stu­dium nach Nuuk zurück­zu­kom­men. Die Ich-Erzäh­le­rin beginnt in Aar­hus vol­ler Elan das Stu­dium der Anthro­po­lo­gie. Ihr Selbst­be­wusst­sein wird jedoch schnell gebro­chen, denn ihre Mit­stu­die­ren­den sind weiß, sie ist braun, sie wird auf­grund ihres Aus­se­hens und der Spra­che, sie spricht jedoch auch flie­ßend dänisch, den­noch sofort als grön­län­disch ein­ge­stuft. »Du bist nicht von hier. Du kommst aus Grön­land.« (S. 63). Man lacht über sie, weil sie im Stu­dium nicht mit­hal­ten kann, Ras­sis­mus wird deut­lich, wenn ein Stu­dent sie wäh­rend der Vor­le­sung schrift­lich auf einem klei­nen Zet­tel fragt: »Bist du das, die so nach Alko­hol stinkt?« (S. 79). Und sie mit dem Kli­schee des ver­sof­fe­nen, fau­len Grön­län­ders konfrontiert.

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Wohn­blö­cke wie der Blok P gel­ten als sinn­bild­lich für die post­ko­lo­niale Poli­tik der 1960er Jahre und die dar­aus ent­stan­de­nen sozia­len Pro­bleme. | Vin­cent van Zeijst CC BY-SA 3.0 | Quelle 

Sie fühlt sich ver­letzt und zieht sich immer mehr zurück, schwänzt die Vor­le­sun­gen, und behaup­tet, wenn ihre Freun­din Maliina sie fragt, wie es läuft, dass alles präch­tig laufe und sie viele neue Freunde ken­nen gelernt habe. Das sind die ers­ten Lügen, die sie nicht nur Maliina auf­tischt, viele wei­tere folgen.

Als sie erfährt, dass Mali­i­nas Cou­sine Guuju Selbst­mord began­gen hat, ist das der Ret­tungs­an­ker für die Ich-Erzäh­le­rin. Ohne ihr Gesicht ver­lie­ren zu müs­sen, fährt sie zurück nach Grön­land und mit Maliina zusam­men nach Tasii­laq zu deren Fami­lie, um die Ant­wor­ten auf die Frage »warum?« zu fin­den. Guujus Eltern wol­len nicht dar­über reden, obwohl Maliina dar­auf drängt. »Ich kenne so viele, die sich umge­bracht haben, von denen wir nie wie­der spre­chen.« (S. 135). Aber nicht nur die Ange­hö­ri­gen schwei­gen, der Arzt, der Guuyu behan­delt hat, ist kaum gesprächs­be­reit, bei der grön­län­di­schen Selbst­ver­wal­tung, die immer noch von Däne­mark abhän­gig ist, hat man keine Zeit und pro­fes­sio­nelle Mit­ar­bei­ter sind nicht auf­zu­trei­ben. Also schweigt auch die Gesell­schaft. Und auf die­ses Pro­blem macht die Ich-Erzäh­le­rin auf­merk­sam. Ein Sui­zid gilt schon fast als nor­mal, die Hilfs­an­ge­bote sind viel zu gering und dau­ern zu lange, denn Sui­zid­ge­fähr­de­ten muss sofort gehol­fen wer­den. Inzwi­schen ist die Autorin bei der Zahl 25 ange­kom­men und zählt wei­ter runter.

Die Ich-Erzäh­le­rin ver­hält sich immer aggres­si­ver ihrer Umge­bung und ihren Freun­den gegen­über. Geht das gut aus? Wer steht hin­ter der letz­ten Zahl, der Nr. 1?

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Wohn­blocks und typi­sche Ein­fa­mi­li­en­häu­ser in Nuuk | Vin­cent van Zeijst CC BY-SA 3.0 | Quelle 

Die Jugend­li­chen suchen ver­zwei­felt nach einem Platz in der Welt und fin­den ihn nicht.

Kor­ne­li­us­sens Roman wurde 2021 als wich­tigs­tes Werk der nord­eu­ro­päi­schen Lite­ra­tur geehrt, die Jury betonte, dass Niviaq Kor­ne­li­us­sen dar­über schreibe, »wie es sich anfühle, Teil einer post­ko­lo­nia­len Gesell­schaft zu sein.« Quelle

Die­ses ist nicht der erste Roman, der das Ver­hält­nis der Dänen zu den Grön­län­dern beschreibt. Auch in »San­gen for livet« (Gesang fürs Leben) wird gesagt: »Soré, die genau wie ihr Pfle­ge­on­kel kein Dänisch spricht, hat die Chance zur Bil­dung in Däne­mark, schreibt aber über ihre 2 Jahre dort (S. 379):»Men den var lige­som en glas­væg mel­lem dans­kerne og mig. Og hver­gang jeg løb mod dem gjorde det ondt.« (Es war gleich­sam wie eine Glas­wand zwi­schen den Dänen und mir. Und jedes­mal, wenn ich dage­gen lief, tat es weh.).« Quelle

Unbe­dingt lesens­wert, weil der Roman Spu­ren hinterlässt!

Unterschrift
Mar­gret Hövermann-Mittelhaus

2024 rezensiert, btb Verlag, Grönland, Homosexualität, Niviaq Korneliussen, Postkolonialismus, Selbstmord