Audrey Magee
» The Colony
Autor: | Audrey Magee (Irland, 2022) |
Titel: | The colony |
Ausgabe: | Faber&Faber, 2022, irische Originalfassung |
Erstanden: | Von meiner Tochter |
Dieser sehr irische Roman enthält sehr viele, sehr unterschiedliche Handlungsebenen, und geht scho damit weit über die »troubles« hinaus. Diese Vielfalt der Handlungs- aber auch der Sprachebenen ist auch eines seiner Charakteristika. Gleichzeitig wird wie in einer Nussschale auch der Konflikt in und um (Nord-)Irland und irische Geschichte beleuchtet, am Beispiel einer abgelegenen nord-irischen Insel.
Die lebenslustige Witwe Mairéad und ihr Sohne Seamus (James) haben auf dem winzigen nordirischen Eiland Sommergäste. Einen Franzosen Jean-Pierre Masson (JP), der die gälische Sprache erforscht und einen englischen Maler, Loyd, der »naturgemäß« kein Gälisch versteht, es auch nicht will. Dafür umso mehr an der Witwe interessiert ist, die zunächst eher dem Franzosen zuneigt. Dafür lernt ihr Sohn beim Engländer die Malerei, die er bald besser beherrscht als sein Lehrmeister. Zu allem Graus sind Brite und Franzose auch noch im gleichen Haus untergebracht, ihre eher feindseligen Dialoge dort erinnern an Stücke von Loriot. Ein Brite und ein Franzose, mitten in Irland, ein Synonym für das Land, daß in seinem Kampf gegen die koloniale Unterdrückung genau zwischen England und seinem stärksten Gegner Frankreich steht, ähnlich wie Schottland.
Die kaum 100 Einwohner der Insel stehen im scharfen Kontrast zu dem nahezu lebensuntüchtigen englischen Maler, dem es fast gelingt, das Boot zur Überfahrt durch seine Ungeschicklichkeit zum Kentern zu bringen. Dem die Insulaner in furztrockenen Dialogen beibringen, wie man auf der Insel lebt. S. 32 »Well the tea is ready. Thank you, but I’ll get something later. There is no later.« Später heißt es, S. 40:
»Did I? I forgot.
It didn’t take you long Mr. Loyd
What?
To forget.«
Später, wenn er Séamus/James fragt, wo sein Vater wäre, S. 53: »At the bottom of the sea. With my granddad and uncle. Three of them. One fishing trip.« Einer der Gründe, warum der Junge absolut nicht ins traditionell übliche Fischereigewerbe gehen will.
Die Einwohner sprechen alle gälisch, wer (zu) gut Englisch spricht, hat die Insel längst verlassen. So flicht die Autorin sehr gut Stücke der Sprachgeschichte des irischen Gälisch ein. Msr. Masson interviewt immer wieder die 89-jährige Großmutter, Bean Uí Fhloinn, von Seamus, sie erzählt ihm dazu ihre Lebensgeschichte. In dem selten gewordenen Dialekt der kleinen Insel. Die Alte, die messerscharf das Leben der Inselflüchter in den Städten diagnostiziert, S. 116: »The barrenness and rawness frigthens them. Sends them to cloak themselves in timetables, bills, holidays and houses, kitchen counters and curtains, a life of buying and owning to mask the bareness of exiatence.« Die Jagd nach dem nächsten glänzenden Ding, S. 117: »But much of this hunt for affirmation in a world that affirms little, if anything at all.«
Über dem Buch liegt eine nachdrückliche Atmosphäre des Meeres, der See, der Möwen, der Fischerei und der Natur. Eine erstaunliche Verbindung schaffen die Dialoge zwischen dem heranwachsenden Séamus/James und dem englischen Maler. Der Junge will sich von seiner Familie lösen, will nicht Fischer werden, wie alle vor ihm, von denen so viele ertrunken sind.
Die Weisheit der Urgroßmutter, das Namen- und Sprachspiel: Ich heiße nicht Seamus, ich heiße James. Um sich von allem gälischem zu distanzieren, darin läge keine Zukunft S. 119/120:
»What are you up to Séamus?
My name is James and you know that.
Your Irish name is Séamus.
I use my English name
I prefer the Irish
It’s not your choice JP.
Die »troubles« spielen sich nicht auf der Insel ab, werden aber (1979! – einem der blutigsten Jahre) präsent durch eingestreute Nachrichtenschnipsel: 23jähriger Protestant-ULV Mitglied-erschossen, Frau schwanger-Zwei Polizisten durch Bombe getötet – JosephcKee-IRA Mitglied auf dem Weg zum Fleischer von der UDA erschossen – Katholik in seinem Haus vor den Augen von Frau und 2 Kindern erschossen .
Gestört hat mich, dass bei den zahlreichen Attentatsopfern fast nie die sozialen bzw. politischen Zusammenhänge erwähnt werden. Was aber hier den Erzählrahmen gesprengt hätte. Und nicht so deutlich den Wahnwitz dieses Krieges zeigen würde. Und: Die Autorin ist Irin, ich nicht.
James lernt nun vieles von dem malenden Engländer, es dauert nicht lange, da wird deutlich, dass er seinen Lehrmeister übertrifft. Und sagt ihm, S.335: »In my paintings everybody are equal, everybody has a story. Its not like that in yours.« Und das Licht in JPs Bildern ist auch nicht richtig. Und James wirft Loyd vor, dass er malt, wie es viele Jahrhunderte gemacht wurde, konventionell. Womit er in seinen Bildern die Insel in etwas verwandelt, was sie nicht ist. Dabei meint der auch noch, dass die Ausstellung von Séamus/James Bildern viele Touristen zur Insel locken würde. Das wäre ihr Tod, reagiert der trocken.
Der Engländer gaukelt ihm lange vor, dass er Séamus/James Bilder in der Londoner Galerie seiner Frau ausstellen würde, und ihn dazu nach London mitnehmen würde. Es bleibt beim Vorgaukeln, Versprechen werden gebrochen, Erwartungen enttäuscht. Ein sehr symbolischer Vorgang, hatte jemals ein Ire etwas anderes von einem Engländer zu erwarten?
The colony ist auch ein Buch über den Niedergang der irischen (gälischen) Sprache. Viel erfahren wir darüber, über den Tod der irischen (gälischen)b Sprache, es ist ein langsamer Tod. Zu dem es einen historischen Abriss gibt, seit Heinrich dem VIII. in England ging es bergab. S. 136: »The Penal laws had devastating implications for the language as all schools, courts, leases, rent books writs and summons were only available in English – this in a country where 80 percent of the population spoke Irish.«
Kein Einzelfall, die Dialekte der Isle of Man, Manx, und von Cornwall, Cornish, wurden ausgelöscht. Und was macht es aus, wenn eine Sprache verschwindet, wenn alle Englisch sprechen, fragt Séamus/James ? S. 145:
»Its their language, its unique to them.
And?
It carries their history, their thinking, their bearing.«
Dummerweise gilt aber umgekehrt, S. 173: »As English was the gateway to employment, prosperity and emigration« – besonders nach der maßgeblich von England verursachten Hungerkatastrophe mit einer Million Toten in Irland 1849/50. Irland wurde kein zweisprachiges Land, wie z.B. Belgien oder Luxemburg. Es wurde »diglossic«, genau wie Wales. Gälisch wurde nur zu Hause gesprochen.
Immerhin gibt es Hoffnung: Während die Großmutter ausschließlich Irisch versteht und spricht, verstehen ihre Töchter beides und Séamus/James spricht sogar beides.
Als sehr poetisch habe ich die Atmosphäre um Mairéad empfunden. Sie gewährt Loyd nicht nur Portraitbilder. Sondern auch Halbakte, schließlich sogar ohne bedeckendes Tuch. Ein ungeheuerlicher Fakt in der sittenstrengen katholisch verklemmten irischen Provinz. Etwas, was die Großmutter auf keinen Fall wissen darf, die anderen Inselbewohner schon gar nicht. Etwas, was die Autorin in zwei Seiten, schillernd zwischen Prosa und Poesie mit unglaublicher Spannung und Intimität in die gedruckte Sprache bringt. Eine sprachliche und literarische Spitzenleistung.
Doch die Aktmalerei spricht sich herum, der Onkel von Séamus/James beginnt Mairéad deswegen zu bedrohen. Er sieht, sehr nationalistisch, diese Malerei als einen Akt der Bedrohung irischer Kultur durch einen Engländer. Mairéad wehrt sich erbittert, für sie sind die Bilder Akte ihrer Emanzipation als Frau, Emanzipation vom Patriarchat. Francis droht sogar, dass »seine Jungs« die Aktbilder von Mairéad nicht tolerieren würden. Da schnappt sie zurück: Aber mit einem Franzosen zu schlafen, das wäre tolerabel?
Ein äußerst bemerkenswertes und vielschichtiges Buch! Schon der Wechsel der Sprachebenen (Poesie/Lyrik), die absolute irische Lakonie (»there’s no later….«), der kaltblütige Mix mit den wechselseitigen Morden von UVF und IRA. Die Counterparts Loyd (Brite) und JP (Franzose), die kaum gegensätzlicher sein können. Und die »lustige Witwe« Mairéad, im erotischen Leben auf einer Insel, mit so viel Einwohnern wie die Erbseninseln bei Bornholm, weniger als 100. Mit dem Sprachwechsel im Roman zur Poesie, von der Prosa zur poetischen Schreibweise verwandeln sich die Sätze des in etwas Bewegtes, Bewegendes.
Die letzten 30 bis 40 Seiten des Romans lesen sich auch dadurch in einer explosiven Stimmung. In der Furcht, dass der latente Hass auf den Briten mit den Aktbildern von Mairéad explodieren könnte, in Unruhen wie auf dem Festland. Das ist der Abschnitt des Buchs, der tatsächlich allegorisch zu den »troubles« in Nordirland zu lesen ist. Wo aber in der jüngsten gescheiterten Volksabstimmung in Irland zur Aufnahme von Frauenrechten in die Verfassung zu sehen ist, wie schwer sich nicht nur die »Colony« mit Frauenrechten tut. Wobei der Titel meint, dass Nord-Irland nur als englische Kolonie zu sehen ist.
Sehr gut hat mir gefallen, dass die Autorin am Ende vieles offenlässt:
- Was wird mit Mairéad und was mit Francis (James Onkel) und den Opponenten gegen die freizügigen Bilder von ihr?
- Wird es dem englischen Maler weiter gelingen, Séamus/James Malkünste weiter auszubeuten?
- Was wird aus JP’s Forschungsarbeit zum irischen Gälisch und dem Inseldialekt?
- Kann Séamus/James tatsächlich professioneller Maler werden, von seiner Kunst leben?
- Wie sieht Mairéads Zukunft nach diesen turbulenten Wochen aus
Unglaublich gut ist das Buch auch in der Herauszeichnung, was Sprache ausmacht, was es für Menschen, für ihre Kultur wert ist. Was weit über die kleine Insel, über das Land und über die Iren hinausträgt. Es ist so unglaublich viel Irisches in dem Buch, die vielen ertrunkenen Fischer, James, der keiner werden will. Die Flucht von der Insel, Loyd, der James verrät – haben die Briten jemals anders gegenüber einem Iren gehandelt?
Erstklassig und sehr irisch!
Nachtrag/Update: Das Buch wird von Nicole Seifert (Blog: »Nacht und Tag«) übersetzt und sollte zum 21.Mai 2024 beim Nagel & Kimche Verlag unter dem Titel »Das Habitat« auf Deutsch erscheinen. Das hat der Verlag gerade auf den 28.1.2025 verschoben. Ich bin gespannt auf die Übersetzung, die aufgrund des irischen Englisch und dem Wechsel zwischen Prosa und Poesie nicht trivial ist.
- Im Guardian gab es ein Interview mit der Autorin, welche Lektüre sie ihrerseits beeinflusst hat
- Audrey Magee hat Deutsch, Französisch und Journalismus studiert. Und 12 Jahre journalistisch gearbeitet, u.a. bei der Times und dem Guardian. Auf der Webseite des Bookerprizes, für den sie gelistet war, ein Bericht, warum sie sich für das Prosa schreiben entschieden hatte
- Ein wenig kann man über die Autorin auf ihrer Webseite erfahren
- Hören kann man über das Buch auf der Webseite des irischen Rundfunks
In vielen (englischen) Rezensionen wird das Buch als Allegorie auf die »troubles« bezeichnet. Meines Erachtens greift das viel zu kurz, der Roman geht viel tiefer hinein in die Geschichte Irlands, seiner kolonialen Unterdrückung durch die Briten und den Verlust der irischen Sprache. All das geht weit über die Troubles hinaus.
Aber was soll man von britischen Rezensenten eines irischen Romans schon anderes erwarten?
2024 rezensiert, Audrey Magee, England, Faber & Faber, Frankreich, Irland, Sprache, troubles