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Audrey Magee
» Die Kolonie

Autorin:Audrey Magee
Titel:Die Kolo­nie
Über­set­ze­rin:Nicole Sei­fert
Aus­gabe:Nagel und Kim­che, 1. Auf­lage 2025
Erstan­den:Buch­hand­lung Thaer, Ber­lin Friedenau

Die-Kolonie-Bild1 Im Klap­pen­text betont Nicole Sei­fert, die Über­set­ze­rin des Romans »Die Kolo­nie« von Audrey Magee, dass es sich hier um eine Para­bel han­delt. Erklä­rung: Eine Para­bel wirft Fra­gen über Moral und ethi­sche Grund­sätze auf, diese wer­den begreif­bar, wenn man sie über­trägt in einen ande­ren Vor­stel­lungs­be­reich. Das Gesche­hen, das im Vor­der­grund steht, muss also auf einen ande­ren Bereich trans­fe­riert werden.

So auch der Titel »Die Kolo­nie«. Denn es geht hier nicht um ein von einem Staat – einer Kolo­ni­al­macht – abhän­gi­ges Gebiet, son­dern der Titel muss alle­go­risch betrach­tet wer­den. Ich hoffe, ich habe hier­mit nicht abge­schreckt, son­dern neu­gie­rig gemacht.

Kurz zum Inhalt: 1979 kom­men zwei Aus­län­der, der Eng­län­der Mr. Lloyd und der Fran­zose Masson auf die kleine iri­sche Insel, die drei Mei­len lang und eine halbe in der Breite misst. 92 Men­schen leben hier. Der Eng­län­der, ein Künst­ler, möchte sich hier inspi­rie­ren las­sen, um ein bedeu­ten­der, berühm­ter Kunst­schaf­fen­der zu wer­den, der von allen ver­ehrt wird, viel­leicht wie Monet, der den »Spa­zier­gang auf den Klip­pen« gemalt hat oder Gau­gin, der nach Tahiti ging, um eine neue unver­brauchte Kunst zu erschaf­fen. Beide Künst­ler­na­men tau­chen immer wie­der auf. Vorbilder?

Der Fran­zose Masson möchte ein berühm­ter Lin­gu­ist wer­den, seine Dis­ser­ta­tion über die iri­sche Spra­che schrei­ben und einen eige­nen Lehr­stuhl erhalten.

Man ahnt es schon, diese bei­den Män­ner kom­men nicht mit­ein­an­der klar, strei­ten sich, füh­len sich gestört vom jeweils ande­ren, glau­ben, dass der eine dem ande­ren den Torf klaut, der zum Feu­er­ma­chen gebraucht wird. Daher ent­schei­det Micheál (der Ver­mie­ter), dass mit Kreide eine Grenze gezo­gen wird, das ist der Hau­fen von Masson und das der Hau­fen von Lloyd. Viel­leicht eine Anspie­lung auf Grenz­zäune, die z.B. in Bel­fast gezo­gen wur­den, um Bewoh­ner der katho­lisch-repu­bli­ka­ni­schen Wohn­vier­tel von den Bewoh­nern der pro­tes­tan­tisch-unio­nis­ti­schen zu tren­nen, soge­nannte peace-lines, um die Kon­flikt­par­teien von ein­an­der abzusondern?

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Audrey Magee | Quelle | ©MATILDA BOOKSHOP 2024

Zurück zur Insel! Eine Fami­lie steht im Vor­der­grund, die aus vier Gene­ra­tio­nen besteht: Urgroß­mutter, Groß­mutter, Mut­ter und Toch­ter. Alle haben im Laufe ihres Lebens den Mann ver­lo­ren, Fischer, die bei einem Boots­un­glück ums Leben gekom­men sind. Die älteste Witwe ist die fast 90-jäh­rige Bean Uí Floihnn, die jüngste Witwe ist Mai­réad, sie hat ihren Mann in jun­gen Jah­ren ver­lo­ren und zieht ihren Sohn James/Séamus (englischer/irischer Name) alleine groß. Junge Leute oder auch erwach­sene Män­ner gibt es kaum auf der Insel, sie haben die­ses ver­las­sen zwecks Lebens­per­spek­tive. Roman­ti­sche Idylle für Tou­ris­ten? Sicher nicht, denn wäh­rend die bei­den Män­ner sich strei­ten, herrscht im übri­gen Nord­ir­land Bür­ger­krieg, den die Bewoh­ner durch­aus zur Kennt­nis neh­men. Wir erfah­ren von die­sen »Trou­bles« in kur­zen Schil­de­run­gen des Ter­rors, die zwi­schen den Kapi­teln ein­ge­fügt sind.

Für den Lin­gu­is­ten Masson spielt die 90-jäh­rige Bean Uí Floihnn die wich­tigste Rolle, denn sie ist die ein­zige, die irisch in Rein­form spricht. Für den Künst­ler Lloyd ist James von Bedeu­tung, denn er hat ein Natur­ta­lent zum Zeich­nen und einen Blick für Licht­spie­ge­lun­gen. Beide ver­hal­ten sich letzt­lich wie Kolo­ni­al­her­ren: Masson, der ver­sucht, den Ein­fluss des Eng­li­schen auf der Insel ein­zu­schrän­ken, indem er fast aus­schließ­lich irisch spricht oder indem er Mai­réads Sohn mit sei­nem iri­schen Namen Séa­mus anspricht, der aber James genannt wer­den möchte und die Insel ver­las­sen will. Lloyd dage­gen sieht die Insel und damit auch James als Mate­ri­al­lie­fe­rant, um seine eigene Kar­riere in Schwung zu brin­gen. Sein Ver­hal­ten James gegen­über ist von Kon­kur­renz geprägt, denn er muss fest­stel­len, dass der junge James einen bes­se­ren Blick hat, wäh­rend er nur der erfah­rene Maler ist. Auch hier ent­wi­ckelt sich eine Machtkonstellation.

Worum geht es in dem Roman?

  • Bedeu­tung von Spra­che und eige­ner Iden­ti­tät: Die iri­sche Spra­che »ent­hält ihre Geschichte, ihr Den­ken, ihr Sein.« (S. 159).
  • Gewalt­sam­keit der Kolo­ni­sie­rung: »Die Eng­län­der sind der iri­schen Spra­che gegen­über zutiefst into­le­rant … Die Eng­län­der haben alles getan, um das Iri­sche als Spra­che der Armen dar­zu­stel­len, als Spra­che der Dum­men.« (S. 379).
  • Wer hat das Recht Iden­ti­tät und Spra­che zu bestim­men? Ein Gespräch zwi­schen James/Séamus und dem Lin­gu­is­ten: »Ich heiße James. Dein iri­scher Name ist Séa­mus. Ich benutze mei­nen eng­li­schen Namen. Ich ziehe den iri­schen vor. Das haben aber nicht Sie zu ent­schei­den.« (S. 131).
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Die stark zer­klüf­tete Nord­küste der Insel Toraigh, 4,3 km lang, 1,5 km breit, 141 Ein­woh­ner | © Andreas F. Bor­chert | Quelle

Kolo­nia­lis­mus heute: Kaum auf der Insel ange­kom­men, wird Lloyd zum Essen ein­ge­la­den, er fin­det keine Ser­vi­ette, also »schnippte er mit den Fin­gern« nach der älte­ren Frau. (S. 32). Reak­tion von Bean Uí Néill: »Diese unglaub­li­che Arro­ganz.« (S. 34). Nach einer Aus­ein­an­der­set­zung über Poli­tik und Spra­che ver­las­sen die Frauen die Küche, der Künst­ler und der Lin­gu­ist blei­ben sit­zen, Reak­tion von Fran­cis (Schwa­ger der Prot­ago­nis­tin): »Die Kolo­ni­sa­to­ren haben deine Küche über­nom­men.« (S. 203).

Beide Män­ner ver­las­sen nach gewis­ser Zeit wie­der die Insel, glau­ben, ihr jewei­li­ges Ziel erreicht zu haben. James hofft, mit ihnen zusam­men die Insel ver­las­sen zu kön­nen, um seine Kunst­werke in Lon­don aus­zu­stel­len. »Kunst als Frie­dens­stif­te­rin, als Brü­cken­baue­rin, eine neue Reli­gion, die weder katho­lisch ist noch pro­tes­tan­tisch. « (S. 295).

Auf die iri­schen Frauen wirft die Erzäh­le­rin einen beson­de­ren Blick. Zunächst aus der Per­spek­tive von Fran­cis, der Mai­réad hei­ra­ten möchte. »Eine Frau von der Insel ist auch ohne Läden glück­lich – ist es nicht so Mai­réad? Mai­réad sagte nichts.« (S. 117). Sie ver­tritt ihren eige­nen Stand­punkt, beginnt eine sexu­elle Bezie­hung zu dem Lin­gu­is­ten und lässt sich vom Künst­ler nackt malen. Bei­des wird von ihrer Fami­lie deut­lich abge­lehnt: »Das machen wir nicht mit, Mai­réad. … Das geht zu weit.« (S. 393). Aber sie betont dage­gen, Fran­cis wolle sie nur ret­ten, »um mich zu for­men, wie er mich haben will. Wie er mich immer wollte. Mich for­men, mich zu sei­nem Eigen­tum zu machen und jedes Kind, das ich bekomme, in einen Irisch spre­chen­den Fischer zu ver­wan­deln.« (S. 301).
Hier ist der Bezug zum »weib­li­chen Schrei­ben«! Michael hat in sei­ner Rezen­sion des eng­li­schen Ori­gi­nals andere Aspekte in den Vor­der­grund gestellt.

Die Men­schen, die auf der Insel leben, wün­schen sich neue Per­spek­ti­ven, wol­len sich auch ver­än­dern, aber ihre Iden­ti­tät nicht auf­ge­ben. Daher diese Para­bel! Her­vor­ra­gend erzählt von Audrey Magee.

Sehr lesens­wert!

Unterschrift
Mar­gret Hövermann-Mittelhaus

2025 rezensiert, Audrey Magee, Emanzipation, Irland, Kolonialisierung, Nagel und Kimche, Nicole Seifert, Nordirland Konflikt, Sprache und Identität