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Kuhlig-Berlin

Björn Kuligk
» Ber­lin Beschimpfung

Autor:Björn Kuligk (Deutsch­land)
Titel:BERLIN Beschimp­fung
Aus­gabe:Favo­ri­ten Presse, 2024
Erstan­den:Anti­qua­risch

Kuhlig-Berlin

Wer ein wei­te­res Mal Ber­lin-Bas­hing erwar­tet, sei gewarnt. Im Grunde prä­sen­tie­ren der Autor Björn Kuhl­igk und der Gra­fi­ker Jakob Hin­richs eine höchst kri­ti­sche Lie­bes­er­klä­rung. An diese Stadt, die auch die meine ist. Aber sie erklä­ren ihre Zunei­gung auf Ber­li­ner Art: kess bis rot­zig frech, leicht pam­pig. Was nicht jeder ver­steht, vor allem außer­halb der Stadt. Ich fands Buch schön »schnodd­rig«, so isset nun mal hier.

Beson­de­ren Respekt den Cha­rak­te­ri­sie­run­gen Ber­li­ner Bezirke, S.42; »Wei­ßen­see ist da, wo es bis­her weder U- noch S-Bahn hin­ge­schafft haben. Lank­witz da, wo noch nie jemand war, der dort nicht wohnt.« Genauso hat sich’s letzte Woche ange­fühlt, als ich mit dem BVG-Bus ein­mal durch­ge­fah­ren bin. Gott­sei­dank musste ich dort nicht aussteigen.

Zu Kreuz­berg »Ver­blüf­fend ist auch immer wie­der, dass die meis­ten die­sen Bezirk lebend ver­las­sen.« Wie andere Bezirke noch ihr Fett weg­krie­gen (Neu­kölln, Span­dau, Mzahn/Dingsdorf) wird nicht ver­ra­ten, bitte Buch kau­fen und sel­ber amüsieren.

Was den BVG-Bus betrifft, auf den ich »Auto­lo­ser« gerne ange­wie­sen bin, ein Kapi­tel lau­tet: »Und über­all Autos, nichts als Autos, ein ste­tes Rau­schen, völ­lig irre«. Und: »Die Ber­li­ner Innen­stadt mit dem Auto zu befah­ren, ist völ­lig unsin­nig.« Genau das ist mir nach 29 Jah­ren außer­halb der Stadt bei der Rück­kehr am meis­ten auf­ge­fal­len. Ich ver­steh’ nach 24 Jah­ren auf dem Dorf ja gut, warum so viele Dörf­ler ihr Nest Rich­tung Ber­lin ver­las­sen. Aber warum müs­sen die alle ihr Auto mit­neh­men? Als gäbe es keine Busse, Tram, U-oder S-Bahn, die meist sogar öfter als die Deut­sche Bahn fah­ren und deut­lich kos­ten­güns­ti­ger zu nut­zen sind. Wobei man aller­dings ein­kal­ku­lie­ren muss, dass die Fahr­pläne nicht viel­mehr als Richt­werte dar­stel­len; aber in 20 oder mehr Minu­ten War­te­zeit an der Hal­te­stelle kann man sogar Leute ken­nen ler­nen. Ber­li­ner näm­lich, die mir als Roll­stuhl­fah­rer gerne hel­fen, meis­tens sind’s dann Migranten …

Berlin-Schimpfe-S15
Die Orts­an­säs­si­gen in einer Sar­di­nen­büchse der BVG. Die bekannt­lich alle liebt. Wäh­rend den SUV-Tou­ris (aus JWD=Janz weit draus­sen) alles egal ist, beson­ders die Umwelt. Genauso fühlt sich dit an, wenn ick anne BVG-Hal­te­stelle sitze und warte – genial illus­triert von Jakob Hinrichs!

Einen der größ­ten Vor­teile der Stadt benennt der Autor so: »Sie kön­nen im Bade­man­tel ein­kau­fen gehen..« Rich­ti­ger­weise weist er auf die Bevöl­ke­rungs­dichte hin, 4100 Men­schen pro qkm. Wobei die Wäl­der nicht mit­ge­rech­net sind. »Da geht man dann hin, wenn man seine Ruhe haben will und trifft all die ande­ren, die auch ihre Ruhe haben wollen.«

Wei­te­rer Unter­schied zum Dorf­le­ben: Jugend­li­che lie­ben »das reich­hal­tige Ange­bot von ande­ren Jugend­li­chen«. Lei­der rich­tig ist, »der Ber­li­ner Win­ter geht von Okto­ber bis April« und er ist, als wäre »der Him­mel mit einer ver­dreck­ten Platte zuge­na­gelt …«. Der Ver­gleich zu ande­ren Städ­ten: »In Dres­den wurde erst die Eier­sche­cke erfun­den, und dann PEGIDA …«

Natür­lich freut er sich nicht über die anonyme Ver­ant­wor­tungs­lo­sig­keit, die die Stadt ver­dre­cken und ver­wahr­lo­sen lässt. Ges­tern durfte ich zuse­hen, wie ein rie­si­ger Mer­ce­des-SUV bei uns gegen­über auf­kreuzte, unver­fro­ren eine alte Mikro­welle zu ande­rem Müll auf dem Bür­ger­steig stellte um dann sei­nem Kum­pel einen rie­si­gen Flat­screen zu brin­gen. Aber – so meine Erklä­rung – die schiere Masse an Men­schen, die Bevöl­ke­rungs­dichte und die Größe der Stadt, all das erzwingt eine gewisse »Egal-Hal­tung«. Ohne die man in der Stadt sehr schnell durch­dre­hen müsste.

Schön aus­ge­drückt, »Ber­lin ist nichts ande­res als ein Pro­jekt …«, dafür gibts das höchste Ber­li­ner Lob: »… kann man nich meckern …«. Und Recht hat er, beim Ber­li­ner Dia­lekt geht auch mir das Herz auf. Beherrscht man ihn, kann man in der Stadt auf ein­mal unmög­lich Schei­nen­des regeln. Wie ich z.B. bei einem Tele­fo­nat aus der west­deut­schen Dia­spora mit einer Ber­li­ner Fried­hofs­ver­wal­tung erfuhr: »Könn’wa dit nich so machn? Dit könn’wa, hamse Recht.«

»Der Alex­an­der­platz ist so etwas wie der wach­ge­wor­dene Alp­traum eines bösen Stadt­pla­ners«, schreibt Kuhl­igk. Janz jenau, aber dit sah schon mal anders aus, so inne Acht­zi­ger. Sollte man nich vajes­sen, dit mitte Jeschichte vonne Stadt.

Klasse beschreibt er den Gen­tri­fi­zie­rungs­pro­zess gan­zer Stadteile: Erst isses (Damals in »Tip« oder »Zitty« der »ganz heiße Scheiß«. Dann kom­men Künst­ler, Stu­den­ten, »die wäh­rend des­sen gar nicht stu­die­ren«. Die ers­ten Loca­ti­ons ent­ste­hen, die Bil­lig­flie­ger laden ihre Hor­den aus. Dann kamen die Fir­men, die in der Haupt­stadt eine Adresse haben muss­ten und ihren Leu­ten (fürs Image) jede Miete zahlt. Schließ­lich rückt die Spe­ku­lan­ten­flotte an, die spe­ku­liert, die Mie­ter zah­len, das Haus wird in immer schnel­le­rem Rhyth­mus ver­kauft, bis man gar nicht mehr weiß, wel­cher Hol­ding es gehört. Und dann kom­men die Rekla­me­frit­zen mit ihrer beklopp­ten Wer­bung. Ich erin­nere mich an »Be Ber­lin!« hieß es mona­te­lang flä­chen­de­ckend in S-Bahn­hö­fen für Apar­te­ments in der Mall of Ber­lin (Leip­zi­ger Platz). Nur, so B. Kuhl­igk, Ber­li­ner woh­nen da seit 15 Jah­ren nicht mehr …

Für Haus­ver­wal­tun­gen in Ber­lin genügt eine Adresse, ans Tele­fon geht kei­ner mehr, E-Mails oder Briefe wer­den nicht beant­wor­tet. Schö­ner Schock für man­che Zuge­zo­ge­nen in den »gen­tri­fi­ziert-durch­pü­rier­ten Kiezen«, wenn es dann doch noch laut über den Spiel­platz schallt: »Melissa, Abmarsch! Mutti muss pis­sen wie ’n Elch!«

Am Ende bleibt für die Ein­ge­bo­re­nen statt einer bezahl­ba­ren Woh­nung der Platz auf einer Bank am Kiosk. Dafür hebt er den Unter­hal­tungs­wert der Not­auf­nahme des Urban-Kran­ken­hau­ses an einem Sams­tag­abend her­vor. Warnt vor anrei­sen­den »Män­ner­grup­pen aus Meppen« und bit­tet ange­sichts von 10 Mil­lio­nen Tou­ris­ten jähr­lich »kommt bloß nicht in meine Straße«. Und weist dar­auf­hin: »Was würde Mar­kus Söder ohne Ber­lin machen?« Dazu die knapp 70 weit­ge­hend leer­ste­hen­den Ein­kaufs­zen­tren, »Malls« genannt. Statt­des­sen hirn­ver­brannte Pläne, die schönste ver­blie­bene Ber­li­ner Frei­flä­che, das Tem­pel­ho­fer Feld, zu bebauen.

Ein­fach Klasse die Zusam­men­fas­sung: »Über diese Stadt kann man alles sagen und es stimmt alles. Ber­lin ist Pro­jek­ti­ons­flä­che, Abfall­ei­mer, Lai­sez-Faire und Partyhimmel.«

Gut, dass er sich »Touri-Hot­spots« wie den Döner­shop am Meh­ring­damm oder das Berg­hain (gibts das noch?) etc. gespart hat. Der Osten der Stadt ist für mich zu kurz gekom­men. Und es gibt vie­les, wo man hätte tie­fer gehen kön­nen: die Kaputt­ma­cher der Stadt, Immo­bi­lien-Spe­ku­lan­ten und Auto­fah­rer-Lobby, Sprin­ger Presse & Co. Also zum Wer­den der Stadt isset’n bis­ken wenig, aber wit­zig ist das Ganze ohne Ende. Eine jeweils kurze Vita mit Web­adresse von Autor Björn Kuligk (Ein­ge­bo­re­ner) und dem Illus­tra­tor Jakob Hin­richs (Ruck­sack-Ber­li­ner) run­den ab: hier  und dazu hier. Naja, abrun­den is’n bis­ken spar­sam gesagt. Sel­ten fin­det man so kon­ge­nial Pam­pi­ges und pas­send Gra­fi­sches, gleich­zei­tig Pla­ka­ti­ves, wie das von Jakob Hin­richs. Dit wern nich alle Wes­sis vaste­hen, aba wozu auch?

Was ich schade finde, was man mehr erzäh­len sollte, Ber­lin ist nicht eine Stadt, es sind tau­send Städte! Die der Klein­gär­ten, der Sport­ver­eine, von Blau-Weiß 90, von Union, von Her­tha. Die Stadt der Box- und Kampf­sport­ver­eine, der Ang­ler, der Rent­ner-Hob­bies, der Brief­mar­ken­samm­ler, der Arbei­ter-Wohl­fahrt und der Volks­so­li­da­ri­tät; auch die Stadt der Mecker­köppe, der Treff­punkte am Kiosk oder beim Bäcker. Die Stadt der Mode­frit­zen, die que­ere Stadt, die Trans­stadt. Und die der rus­si­schen Migran­ten, der ukrai­ni­schen, der Polen, der Liba­ne­sen, und, und … und. Alle woh­nen in die­ser einen Stadt und alle (er-)leben sie anders, dar­über müsste mal einer schrei­ben. Wat ick hier­mit jesacht haben wollte; ins­ge­samt aber:

Kann man nich meckern!


Nach­trag: Ein sehr pas­sen­des Inter­view mit dem Autor vom Februar 2025 fin­det man hier.

2025 rezensiert, Berlin, Björn Kuligk, BVG, Favoriten Presse, Gentrifizierung, Jakob Hinrichs