
Igiaba Scego
» Kassandra in Mogadischu
Autorin: | Igiaba Scego |
Titel: | Kassandra in Mogadischu |
Übersetzerin: | Verena von Kosgull |
Ausgabe: | S. Fischer Verlag 2024 |
Erstanden: | von meiner Tochter |

Wo liegt Somalia? Am Horn von Afrika? Wie hat sich Somalia politisch entwickelt? Ich glaube, das faschistische Italien war Kolonialmacht?! Und irgendwann gab es einen Bürgerkrieg?! Mit diesem Unwissen, Halbwissen, Garnichtswissen will Igiaba Scego in ihrem autofiktionalen Roman »Kassandra in Mogadischu« aufräumen und erklären, warum man in Europa Somalia als einen »gescheiterten Staat« bezeichnet. Die Autorin will über ihre Familie schreiben, damit wir sie verstehen, ihre Familie, deren Leben gekennzeichnet ist »von einer Diktatur, einem endlosen Krieg und mehrfacher Migration.« (S. 407). Ein kurzer Überblick:
Ende des 19. Jahrhunderts beginnen die Briten und Italiener Somalia zu kolonialisieren und damit auszubeuten. 1940 nimmt das mittlerweile faschistische Italien Äthiopien ein und verdrängt die Briten aus Britisch-Somaliland. 1949 macht die UN-Generalversammlung das frühere Italienisch-Somaliland von 1950–1960 zum Treuhandgebiet unter italienischer Verwaltung. 1960 wird Somalia unabhängig. Doch das Land kommt nicht zur Ruhe Streitigkeiten unter den Clans oder mit Äthiopien schaffen neue Konflikte. 1969 findet der Militärputsch von General M.S. Barre statt, er herrscht diktatorisch. Immer wieder gibt es Kriege um den Grenzverlauf nach Äthiopien. Nach vielen internen Konflikten wird Präsident Barre 1991 abgesetzt, aber einig werden sich die politischen Gruppierungen nicht. Somalia zerfällt immer mehr in einzelne Teile, in denen jeweils Clans ihre Macht ausüben und sich gegenseitig bekämpfen. Der Bürgerkrieg beginnt. Die UN schickt Hilfsgüter und militärische Kräfte, die von der Bevölkerung aber als Fremdbesatzung begriffen werden. Immer wieder kommt es zu Kriegen und Auseinandersetzungen zwischen Clans und radikalisierten Islamisten. Viele Somalier sind daher in die Nachbarländer geflohen, wo riesige Flüchtlingslager entstanden sind. Aber auch Europa oder Kanada ist ein Ziel der Flüchtlinge, vor allem Italien.
Hier ist die Autorin Igiaba Scego, deren Eltern aus Somalia stammen, geboren und aufgewachsen und spricht selbstverständlich Italienisch. »Italienisch, die Sprache derer, die unsere Vorfahren in Baraawe und Mogadischu kolonialisierten, die den einstigen Feinden und Sklavenhändlern gehörte.« (S. 16). Aber Italienisch ist auch »die Sprache meines Inneren. Es ist Musik. Und vor allem ist es ein Rettungsanker im beständigen Schiffbruch des Lebens.« (S. 188).

Die Autorin ist in Rom aufgewachsen, da ihre Eltern nach dem Sturz von Barre und dem Beginn des Bürgerkriegs Somalia verlassen mussten. Zur Zeit der Unabhängigkeit hat ihr Vater wichtige politische Ämter ausgeübt, sei es als Bürgermeister von Mogadischu, als Botschafter bei der EWG oder als Begleiter der somalischen Delegation bei den Olympischen Spielen 1960 in Rom. Jetzt lebt er mit seiner Familie in Rom, kann kaum die Miete bezahlen, die Familie unterhalten und verfolgt am Fernsehen die weitere politische Entwicklung in Somalia.
Die Autorin will dieses und noch viel viel mehr ihrer Nichte, die in Kanada lebt, vermitteln, um die Familiengeschichte lebendig zu halten. Daraus ist vielleicht eine Art Briefroman geworden, weil die Autorin ihre Nichte immer wieder mit Namen, Soraya, anspricht und dabei weit in die Vergangenheit zurückgeht. So geht sie auf die Genitalverstümmelung, die Klitorisbeschneidung ein. 89 % der heute über fünfzigjährigen Frauen in Somalia haben diese Praxis durchlitten, auch die Frauen ihrer Familie darunter auch ihre Mutter.

Immer wieder ist der Krieg – welcher auch immer – ein wichtiges Thema der Autorin. Sie definiert ihn so: »Krieg ist meine Mutter, die rennt, flatterndes Haar, der islamische Schleier unterwegs verloren, und über die Leichen derer stolpert, die einst ihre Nachbarn waren.« (S. 98). Während die Autorin ihren Brief an ihre Nichte schreibt, stellt sie fest, was sie alles nicht weiß von ihren Eltern. Ihren Vater kann sie nicht mehr befragen, er ist gestorben und ihre Mutter will über bestimmte Dinge nicht reden. Ihre Mutter ist 1991 während des Bürgerkriegs allein nach Somalia zurückgegangen. War zwei Jahre lang für Mann und Tochter verschwunden, sie wussten nicht, ob die Mutter überhaupt noch lebt. Nach zwei Jahren ist sie wieder in Rom, will oder kann aber die Frage ihrer Tochter, warum sie freiwillig in den Krieg zurückgegangen ist, nicht beantworten. Auf anderer Ebene beantwortet die Mutter die Frage ihrer Tochter allerdings. Die Mutter sucht in Rom eine Arbeit als Putzhilfe. Ein katholischer Pfarrer empfiehlt sie einer reichen italienischen Familie. Aber die Mutter hat noch nicht mal die Chance, sich dort vorzustellen. Die Frau öffnet ihre Tür einen Spalt breit und schreit die Mutter an: »Ich will nur weiße Frauen. Ihr Negerinnen seid Abschaum!« (S. 290). In dieser Situation wiederholt die Autorin ihre Frage, warum die Mutter in das sich im Krieg befindende Somalia zurückgekehrt ist: »Und der Krieg? … Wusstest du nicht, dass die Situation auf der Kippe stand?« Die Mutter antwortet: »Welcher Krieg, mein Kind? Der hier in Rom oder der in Mogadischu?« (S. 292).
Die Autorin beschreibt ihre Mutter immer sehr liebevoll, die Mutter konnte nicht schreiben, war jedoch nicht unwissend, im Gegenteil, sie hatte eine »andere Kenntnis der Welt« (S. 165). Sie kannte Heilkräuter, konnte Ziegen melken und »Dromedaren sanfte Schlaflieder ins Ohr« flüstern (S. 165). Daher betont die Autorin: »Ich bin die Schriftstellertochter einer Frau, der man das Alphabet gestohlen hat.« (S. 164).
Und jetzt komme ich zu den zwei wichtigsten Sätzen der Autorin: »Wir sind keine Opfer. Wir sind nur Überlebende.« (S. 23). Diese Aussage untermauert sie mit einem Besuch im Museo delle Civiltà. Hier betrachtet sie das Gemälde einer Frau: »Ihr Blick ist scharf. Stechend. … Es ist eine Somalierin in einem schönen, weißen Kleid, das schwarze Haar zu zwei Haarknoten gebunden und von einem indischen Kopftuch umschlungen. … Das ist nicht der Blick einer Unterworfenen. Ihr Land wurde kolonialisiert, nicht sie.« (S. 256).
Im Nachwort beschreibt Igiaba Scego, dass für die italienische Ausgabe ein anderes Titelbild gewählt wurde. Es zeigt ihre Mutter, wie sie auf einer Italienreise zu Zeiten, als ihr Mann noch politische Ämter innehatte, einer Mailänder Dame die Kunst der Sandalenherstellung zeigt. Die Vorderseite der Sandalen muss makellos sein, während sich auf der Rückseite die Fäden verschlingen und einen Knoten bilden müssen. Dieses Bild benutzt die Autorin für ihr Fazit: »Mit diesen Fäden entknoten sich sämtliche historische Epochen, die in meinem kaleidoskopischen Brief aufeinander treffen. Da sind der Kolonialismus, das Trauma der Diktatur und der Bürgerkrieg. Da sind all die Verletzungen, die Somalia durch zahlreiche verschiedene Kolonisatoren zugefügt wurden.« (S. 408).

Eine Liebeserklärung der Autorin an ihren Vater und ihre Mutter!
Sehr lesenswert!
Margret Hövermann-Mittelhaus
2025 rezensiert, Bürgerkrieg, Feminismus, Igiaba Scego, Italien, Kolonialismus, Migration, S. Fischer Verlag, Somalia