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Ali Smith
» Som­mer

Autorin:Ali Smith
Titel:Som­mer
Über­set­ze­rin:Sil­via Morawetz
Aus­gabe:1. Auf­lage 2020
Erstan­den:anti­qua­risch

Ali-Smith-Bild1Ali Smith ist eine sehr poli­ti­sche Schrift­stel­le­rin, was man schon auf der ers­ten Seite ihres Romans »Som­mer«, dem letz­ten Band ihrer Tetra­lo­gie, fest­stel­len kann. Sie hin­ter­fragt das Ver­hal­ten der Men­schen bezo­gen auf Poli­tik oder Kli­ma­wan­del, Ereig­nisse, die gerade einige Monate her sind. So wür­den viele mit Ach­sel­zu­cken oder der Ant­wort »und?« reagie­ren, wenn gesagt wird: »dass man Leute, die ihr gan­zes Leben in die­sem Land gelebt hat­ten, fest­nahm und mit Abschie­bung bedrohte oder gleich abschob: und? Und dass eine Regie­rung ihr eige­nes Par­la­ment in eine Zwangs­pause schickte, weil sie nicht das gewünschte Ergeb­nis bekam: und? Dass so viele durch ihre Wahl­ent­schei­dung Leute an die Macht brach­ten, die ihnen direkt in die Augen schau­ten und sie anlo­gen: und? Dass ein Kon­ti­nent brannte und ein ande­rer schmolz: und? « (S. 11f). Das »und?« sag­ten viele, aber »Mil­lio­nen von Men­schen sag­ten es nicht.« (S. 12). Dazu gehört auch Ali Smith und sie erzählt jetzt vom Brexit, von Corona, dem Kli­ma­wan­del und auch von der düs­te­ren Geschichte Eng­lands im 20. Jahr­hun­dert, indem sie eine kleine Fami­lie beglei­tet bei ihrer Reise durch England.

Wir tref­fen hier auf neue, aber auch bekannte Gesich­ter. So begeg­nen wir dem alten Daniel Gluck aus »Herbst« wie­der. (hier nach­zu­le­sen). Wei­tere Figu­ren, die wir noch nicht ken­nen, sind die ehe­ma­lige Schau­spie­le­rin Grace, ihre sech­zehn­jäh­rige Toch­ter Sacha und ihr drei­zehn­jäh­ri­ger Sohn Robert. Der Vater hat die Fami­lie ver­las­sen und ist zu sei­ner Freun­din gezo­gen. Also fin­den wir kein »trau­tes Heim – Glück allein« vor, im Gegen­teil auch die Geschwis­ter könn­ten kaum gegen­sätz­li­cher sein. Sacha ist eher links ori­en­tiert, ver­sucht dem Frem­den­hass ent­ge­gen zu wir­ken, und bezeich­net sich als Kli­ma­ak­ti­vis­tin. Wäh­rend des Lock­downs stellt sie fest, wie gerne sie zur Schule gegan­gen wäre. Ihr Bru­der Robert liebt rechts­ra­di­kale Pro­vo­ka­tio­nen und unter­stützt den Brexit. Er gilt als hoch­be­gabt, wird aber in der Schule gemobbt. Spie­gelt sich hier viel­leicht auch die Zer­ris­sen­heit der eng­li­schen Gesell­schaft wider?

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Ali Smith, our tho­roughly modern moder­nist | hoto by Feli­city McCabe for the New Sta­tes­man | Quelle

Die Fami­lie begibt sich auf eine Reise durch Eng­land und trifft dabei auch auf den jüdi­schen Emi­gran­ten Daniel Gluck, inzwi­schen 104 Jahre alt. Mit sei­nen Gedan­ken keh­ren wir in den zwei­ten Welt­krieg zurück, denn Daniel war mit sei­nem Vater als feind­li­cher Aus­län­der inter­niert. Hier ein kur­zer Dia­log zwi­schen dem inter­nier­ten Daniel und Kin­dern, die vor dem Zaun ste­hen: »In der Daily Mail steht, Sie machen hier in der See­luft Urlaub, sagt ein Zehn­jäh­ri­ger eine Woche spä­ter durch den Sta­chel­draht zu Daniel, der mit blo­ßem Ober­kör­per sein frisch gewa­sche­nes Hemd zum Trock­nen auf den Zaun hängt. In der Daily Mail steht auch, Sie haben Luxus Son­nen­lie­gen und Mini­golf und mehr Geld, als wir haben und Was­ser und Kohle. Sie krie­gen Zucker und Milch und zum Früh­stück Eier. … Wie heißt du?, fragt Daniel den Jun­gen. Sag mal was auf Nazi, sagt der. Na los. Ich bin kein Nazi, sagt Daniel. Wol­len wir die Plätze tau­schen? Der Junge macht große Augen. Vor­schlag: Ich komm raus, sagt Daniel. Du kommst rein und machst an mei­ner Stelle Urlaub.« (S. 155). Bleibt einem da das Lachen im Halse stecken?

Sacha setzt sich inten­siv mit den Wald­brän­den, Über­flu­tun­gen und Corona aus­ein­an­der, sie denkt »an die klei­nen Baum­woll­mas­ken von heute. Sie sind ein Nichts dage­gen, sind wie totes Laub, ver­weh­ter Abfall im Ver­gleich zu den ech­ten Mas­ken, den Mas­ken auf den Gesich­tern der Lüg­ner auf der gan­zen Welt.« (S. 48). Ihr Bru­der Robert hofft dar­auf, dass irgend­wel­che genia­len Medi­zi­ner einen Impf­stoff erfin­den, Sacha hofft, »dass die Genies, die den Impf­stoff erfin­den, auch Genies des Kli­ma­wan­dels sind.« (S. 247). Und die­je­ni­gen, die den gan­zen Laden am Lau­fen hal­ten, die Beschäf­tig­ten im Gesund­heits­sys­tem, die Lie­fe­ran­ten, die Män­ner und Frauen, die in den Super­märk­ten arbei­ten und in den Fabri­ken, erhal­ten kaum eine gebüh­rende Aner­ken­nung. Sit­zen wir wirk­lich alle im sel­ben Boot? »Ja, elend viel Mensch­heit aller­dings im Zwi­schen­deck, gekeilt in drang­voll fürch­ter­li­che Enge.« (S. 322).

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Wild­fi­res rage across Aus­tra­lia in Sum­mer, where ‘all man­ner of viru­lent things are hap­pe­ning’. | Pho­to­graph: Jason O’Brien/AAP | Quelle

Ein geschlos­se­ner Roman wird nicht erzählt, son­dern Ali Smith ver­knüpft unter­schied­li­che Hand­lungs­stränge mit­ein­an­der und führt in ihrem letz­ten Band »Som­mer« Per­so­nen und deren Geschichte aus den ande­ren drei Bän­den zusammen.

Ali Smith zeigt deut­lich, dass ihr die bis­he­rige poli­ti­sche Ent­wick­lung auf der Welt und in Groß­bri­tan­nien nicht gefällt. Aber sie ver­fällt nicht in Resi­gna­tion, son­dern bleibt hoff­nungs­voll. »Aber so ist der Som­mer. Som­mer ist, eine Straße wie die hier ent­lang­zu­ge­hen, Licht und Dun­kel vor sich. Denn Som­mer ist nicht bloß eine fröh­li­che Geschichte. Weil es fröh­li­che Geschich­ten nicht gibt ohne das Dunkle.« (S. 288).

Unbe­dingt lesen, um die Hoff­nung nicht zu verlieren!

Unterschrift
Mar­gret Hövermann-Mittelhaus

2025 rezensiert, Ali Smith, Bedeutung von Sprache, Brexit, Corona, Einstein, Großbritannien, Klimawandel, Luchterhand Verlag