Ali Smith
» Herbst
Autorin: | Ali Smith |
Titel: | Herbst (2016) |
Übersetzerin: | Silvia Morawetz |
Ausgabe: | btb Verlag, München 2021 |
Erstanden: | von meiner Tochter |
Der Roman von Ali Smith wirft einen Blick auf unsere Gegenwart, indem die Autorin den Wandel der Zeit in den Mittelpunkt stellt. Daniel Gluck ist über 100 Jahre alt, lebt in einem britischen Altersheim, liegt im Bett und phantasiert im Schlaf. Die 32 Jahre alte Elisabeth sitzt an seinem Bett und liest ihm vor, obwohl er gerade phantasiert, dass er am Strand entlang läuft, bekleidet mit einem Gewand aus grünen Blättern; dort erwarten ihn junge Mädchen. Das ist eines der Rätsel, das zu lösen ist. Die Erzählerin gibt uns mehrere auf, einige werden gelöst andere nicht. Das hört sich jetzt sehr kompliziert an, ist es aber gar nicht.
Der Roman besteht aus einzelnen Geschichten, die aber alle etwas miteinander zu tun haben, einige sind sehr kurz andere etwas länger. Es handelt sich um Beschreibungen der Natur, Erinnerungen aus alten Zeiten, politische Ereignisse oder auch Träume. Das Bindeglied sind die beiden Protagonisten Daniel und Elisabeth, wobei Daniel 70 Jahre älter als Elisabeth ist, dennoch sind sie über 20 Jahre lang eng miteinander befreundet. Wie konnte das gelingen?
Die beiden sind Nachbarn und Elisabeths Mutter fragt den alte Mann, ober er nicht ab und zu auf die 9jährige Elisabeth aufpassen könne. Sie gehen häufig spazieren und Daniel versucht Elisabeth die Welt zu erklären, er war ein erfolgreicher Songtexter und ist viel in der Welt herumgekommen. Er erkennt, wie intelligent Elisabeth ist, gibt ihr Halt und Zuversicht. Elisabeth betont immer wieder, wie schnell die Zeit verfliegt, wenn sie zusammen spazieren gehen. Um dieses auch bildlich zu zeigen, nimmt Daniel seine Armbanduhr und lässt sie in den Fluss fliegen. Auf diese Weise kommunizieren die beiden miteinander, das wie und das worüber sie miteinander reden steht im Vordergrund, eine gradlinige Handlung gibt es eher nicht, so dass viele Themen und Gedanken zusammenkommen.
Der Roman entstand unmittelbar nach dem Brexit Referendum und zeigt vor diesem Hintergrund eine gespaltene Nation. Ein Beispiel: Elisabeth muss einen neuen Pass beantragen und wartet in der Schlange beim Passamt. Hier haben sich auch spanische Touristen eingereiht. Plötzlich werden sie von Einheimischen angeschrien, hier sei nicht Europa, sie sollen abhauen. Oder ein anderes Beispiel: Elisabeths Mutter, die sich erst im Alter als Lesbe outet und zum zivilen Ungehorsam greift, lebt in einem kleinen Dorf – keineswegs idyllisch. Hier wird Gemeindeland mit doppeltem elektrischen Zaun samt Stacheldraht eingehegt. Gleichzeitig hört sie in den Radionachrichten, dass Asyl suchende Kinder in Hochsicherheitseinrichtungen untergebracht werden sollen. Daraufhin versucht Elisabeths Mutter den Zaun zu zerstören. Mit diesen Bildern beschreibt die Erzählerin den Niedergang einer Nation, des ehemaligen Commenwealth.
Zeitsprünge kennzeichnen den Roman, haben aber immer etwas mit unserer Gegenwart zu tun. Daniel Gluck, der international bekannte Songschreiber, lernt in den 60er Jahren die Liebe seines Lebens kennen, sie ist Malerin. Um Elisabeth diese Liebe zu erklären, beschreibt er aus dem Gedächtnis heraus die Bilder dieser Künstlerin und weckt damit das Interesse der jungen Elisabeth für die Kunst und die Autorin setzt damit der Künstlerin Pauline Boy ein Denkmal. Während ihres Kunststudiums entdeckt Elisabeth in einem Korb billiger Bücher einen Katalog über eine Ausstellung von Pauline Boy, als sie ihn durchgeblättert hat, ist sie davon überzeugt, dass Daniels geliebte Malerin Pauline Boy ist.
Diese Künstlerin hatte Collagen gemacht, Arbeiten in Buntglas und Bühnenbilder. Sie war Malerin und Schauspielerin, hatte Bob Dylan durch London geführt, als sein Name noch völlig unbekannt war. »Ihre Lebensgeschichte war ein Hammer« (S. 156), sagt Elisabeth. Pauline Boty starb mit 28 Jahren an Krebs.
Elisabeth schlägt den Katalog auf und und es ist ein besonderes Bild zu sehen. »Das Bild hieß: Ohne Titel (Sonnenblumenfrau), ca. 1963. Es zeigte eine Frau vor strahlend blauem Hintergrund. Ihr Körper war eine Collage aus gemalten Bildern. Ein Mann, der ein Maschinengewehr auf den Betrachter des Bildes richtete, füllte den Brustkorb aus. Eine Fabrik bildete Arm und Schulter der Frau. eine Sonnenblume füllte den Rumpf. Ein explodierender Zeppelin bildete den Unterleib.« (S. 158). Elisabeth nimmt diesen Katalog mit in die Universität und zeigt die Bilder ihrem Tutor. Seine Reaktion: »Alles in allem verzichtbar. Nicht besonders gut.« (S. 159). Elisabeth zeigt ihm ein weiteres Bild, es trägt den Titel: It’s a Man’s World. Der Tutor klappt den Katalog zu und behauptet hier nichts Neues erkennen zu können. Aber Elisabeth ist hartnäckig und fragt: »Gibt es, gab es zu der Zeit irgendetwas Vergleichbares von einer Frau?« (S. 161). Elisabeth möchte den Titel ihrer Semesterarbeit ändern und über Pauline Poty schreiben. Reaktion des Tutors: »Du gerätst damit völlig ins Abseits und in eine Sackgasse. Habe ich mich verständlich ausgedrückt?« (S. 162).
Hier hat Ali Smith der Künstlerin Pauline Boty ein mit innerer Anteilnahme versehenes Denkmal gesetzt. Denn weder die Bilder noch die Künstlerin sind fiktional, sie ist die einzige und bis heute kaum bekannte Frau in der britischen Pop-Art. Hier im Blog »altmodisch:lesen« weitere Infos.
»Ali Smith setzt Pauline Boty und ihrer lebensfrohen Spielart des Feminismus in diesem Roman ein Denkmal, wie es liebevoller kaum vorstellbar ist.« Quelle
Eine lesenswerte literarische Collage!
Margret Hövermann-Mittelhaus
2024 rezensiert, Ali Smith, Brexit, btb Verlag, Pauline Boty