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Maja Hader­lap
» Nacht­frauen

Autorin:Maja Hader­lap
Titel:Nacht­frauen
Aus­gabe:Suhr­kamp Ver­lag Ber­lin, 5. Auf­lage 2023
Erstan­den:anti­qua­risch, gele­sen im Lite­ra­tur­kreis der Fürst Donnersmarck-Stiftung

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Ich habe den Roman »Nacht­frauen« von Maja Hader­lap gerne gele­sen, bin aber doch nicht ganz zufrie­den. Mir gehen zwei Fra­gen durch den Kopf: Warum teilt sie den Roman in zwei Teile? Ich denke, der zweite Teil, erzählt aus der Per­spek­tive der Mut­ter, bringt nicht unbe­dingt neue Erkennt­nisse, für mich ist diese Auf­tei­lung eher ein Bruch. Die zweite Frage lau­tet: Hat Mira sich dadurch eman­zi­piert, dass sie ihre Hei­mat ver­las­sen und in Wien ein Stu­dium abge­schlos­sen hat?

Die­sen Über­le­gun­gen will ich nun nach­ge­hen, ebenso einer drit­ten Frage: Was ist eine Nacht­frau. Ant­wort aus einem Mit­tel­al­ter­le­xi­kon: »nacht­frau, die, ›als weib­li­ches Gespenst erdachte und z. B. als Kin­der­schreck, Zau­be­rin instru­men­ta­li­sierte Gestalt‹. Quelle

Oder ein Bild von Ernst Lud­wig Kirch­ner mit dem Titel »Nacht­frau«?

Der Inhalt des Romans ist über­schau­bar. Mira lebt mit ihrem Mann zusam­men in Wien, hat hier ein Stu­dium abge­schlos­sen und arbei­tet als Refe­ren­tin. Jetzt will sie ihre Mut­ter in Süd­kärn­ten besu­chen, denn diese soll auf den Wunsch ihres Nef­fen den hei­mat­li­chen Hof ver­las­sen, auf dem auch Mira groß gewor­den ist und der ihr Zuhause war. Dass sich nun Kon­flikte erge­ben wer­den, liegt auf der Hand. Das Ver­hält­nis zu ihrer Mut­ter Anni, die Frage nach Iden­ti­tät und Her­kunft, Miras Zer­ris­sen­heit zwi­schen ihrem bür­ger­li­chen Wien und der slo­we­ni­schen Ver­gan­gen­heit, die sich auch an der Spra­che fest­ma­chen lässt, sind Kon­flikt­punkte. Und letzt­lich geht es um die Frage der Eman­zi­pa­tion, die ich oben schon erwähnt habe. Denn Mira behaup­tet ihrer Mut­ter gegen­über, »dass viel zu viele Frauen in Bela an einer beson­de­ren Krank­heit, an der Ver­zweif­lung und an der Aus­weg­lo­sig­keit ihrer Exis­tenz gestor­ben seien.« (S. 276).

Mira scheint zwi­schen allen Stüh­len zu sit­zen. So unter­hielt sie sich »mit Anni gewöhn­lich im Dia­lekt, in einer Spra­che, die sie im Nu in eine andere Hal­tung zwang. Der slo­we­ni­sche Dia­lekt war das Tor, durch das sie eine abge­schlos­sene, schein­bar zurück­ge­las­sene Welt betrat, die von Men­schen bevöl­kert wurde, von Leben­den und Toten, die etwas von ihr woll­ten.« (S. 19). Schon als Schü­le­rin der fünf­ten Klasse hatte sie sich vom Slo­we­nisch Unter­richt abge­mel­det, als Aus­druck des Pro­tests gegen ihre Mut­ter. Aber auch dar­über kann sie mit ihrer Mut­ter kaum spre­chen, obwohl sie ihrem Mann Mar­tin gegen­über betont: »Mut­ter und ich konn­ten uns heute auf eine selt­same Weise ver­stän­di­gen. Es geschah wie neben­her. Nichts ist direkt gesagt, aber eini­ges berei­nigt wor­den.« (S. 89). Hier macht Mira sich etwas vor, sie hätte vie­les gerne berei­nigt, aber das bedroh­lichste Ereig­nis in ihrer Kind­heit ist immer noch nicht geklärt. »Sie sehnte sich danach, begna­digt zu wer­den.« (S. 80). Denn als klei­nes Kind hatte sie ihrem Vater, der als Baum­fäl­ler tätig war, das Essen in den Wald gebracht, sie hat nach ihm geru­fen und in dem Augen­blick ist der Baum umge­stürzt und hat ihren Vater erschla­gen. Trägt sie Schuld? Nie­mand hilft ihr, die Men­schen im Dorf gehen ihr aus dem Weg, die Mut­ter ist völ­lig über­for­dert, Mira ver­einsamt, das Lei­den wächst und ein Gespräch zwi­schen Mut­ter und Toch­ter fin­det nicht statt. Aber jetzt, viel­leicht 30 Jahre spä­ter, fragt Mira die Mut­ter »dann doch, ob sie sie nach dem Tod des Vaters gehasst hatte. Ja, sagte Anni, ich habe dich gehasst. Sie sagte es fast ent­schul­di­gend.« (S. 80). Ein wei­te­res Gespräch dar­über fin­det nicht statt. So dass es auch nie zu einer Aus­ein­an­der­set­zung, Aus­söh­nung, geschweige denn Ver­söh­nung kommt.

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Kirch­ner – Nacht­frau – Frau geht über nächt­li­che Straße – 1928-29 | Quelle

Die im Roman beschrie­be­nen Stu­dien über den All­tag der Dorf­be­woh­ner der letz­ten Jahr­zehnte wir­ken sehr bedrü­ckend, vor allem, wenn Maja Hader­lap über das Leben der Frauen schreibt. »Die Män­ner haben in der Erwerbs­tä­tig­keit ihrer Frauen nur eine Zuar­beit gese­hen, eine Frau arbei­tet nicht, sie arbei­tet zu.« (S. 82). Auch im All­tag wurde das Ver­hal­ten der Frauen abge­wer­tet. »Alle Sätze, die mit Ich began­nen, hat­ten etwas Anrü­chi­ges, Vor­lau­tes an sich. Sie gal­ten als Regel­ver­let­zung, als maß­los und ein­ge­bil­det. Wer viel redete, wurde nicht ernst genom­men. Der Wert einer Frau wurde auch daran gemes­sen, wie gut sie ihren Mund hal­ten konnte. Die Schweig­sam­keit einer Frau galt als noble Eigen­schaft.« (S. 211).

Wie kann sich Mira von all die­sem lösen, von einer Erzie­hung, die von der Herr­schaft des Patri­ar­chats und der katho­li­schen Kir­che geprägt war? Als Nie­der­lage emp­fin­det Anni, Miras Mut­ter, Fol­gen­des: »Wie schade, dass sich Mira den wich­tigs­ten Spra­chen, wie Anni fand, ver­wei­gert hatte, der slo­we­ni­schen Schrift­spra­che und dem Beten. Anni sah darin ihre größte und end­gül­tige Nie­der­lage als Mut­ter, einen unver­zeih­li­chen Makel, von dem sie sich nicht frei­spre­chen konnte, denn es war ihr nicht gelun­gen, ihre Kin­der von der Mut­ter­spra­che und vom Glau­ben an Gott zu über­zeu­gen.« (S. 212).

Damit lande ich wie­der bei mei­ner Anfangs­über­le­gung: Mira hat es doch geschafft, oder? Sie kommt aus ein­fa­chen Ver­hält­nis­sen, hat stu­diert, lebt mit ihrem etwas ober­leh­rer­haf­ten Mar­tin in einer schi­cken Woh­nung mit vie­len Bücher­re­ga­len in Wien. Aber die Her­kunft lässt einen nicht los, das zeigt sich bei Mira genauso wie bei ihrer Mut­ter. Hier möchte ich Mar­len Hobrack zitie­ren: »Her­kunft klebt wie Scheiße am Schuh … Her­kunft ist kein Ort, an dem wir wur­zeln, son­dern eine Art Rei­se­ge­päck.« (S. 209). Quelle

Der Erzähl­an­satz der Autorin ist nicht unge­wöhn­lich. Die Toch­ter fährt in ihr Hei­mat­dorf zurück, wohnt bei ihrer Mut­ter, kramt in allen noch vor­han­de­nen Erin­ne­rungs­kis­ten und ver­sucht so, Ver­gan­ge­nes zu ver­ar­bei­ten. Hört sich lang­wei­lig an, ist es aber nicht. Aber den­noch habe auch ich den Ein­druck, die bei­den Haupt­fi­gu­ren, die »Nacht­frauen« ver­hed­dern sich selbst in den Gefühls­wir­ren, so dass der Ein­druck bleibt: »Die­ser Roman scheint nicht ganz zu Ende geformt.« Quelle

Ein Roman über drei Gene­ra­tio­nen von Frauen, die um ihre Auto­no­mie ringen.

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Maja Hader­lap auf Frank­fur­ter Buch­messe 2023, Elena Ter­no­vaja – Eige­nes Werk | Quelle

 

Sehr lesens­wert


Nach­trag: Im Lite­ra­tur­kreis wurde über vie­les dis­ku­tiert, aber nicht unbe­dingt kon­tro­vers. So wurde betont, dass die ein­zel­nen Per­so­nen nicht klar genug dar­ge­stellt seien, wenn Mut­ter Anni genauso sprä­che wie die Toch­ter Mira. Sie sei weder in Wien noch in ihrem Hei­mat­dorf fest ver­an­kert, sie wirke wie »nicht Fisch noch Fleisch«, eher wie zwi­schen den Din­gen ste­hend: ver­schlos­sen und sprach­los. Warum sie den Hass der Mut­ter nicht wei­ter hin­ter­fragt, wurde so gese­hen, dass die­ses Trauma viel­leicht erst in der nächs­ten Gene­ra­tion auf­ge­ar­bei­tet wer­den kann. Aber warum taucht die­ses Trauma im 2. Teil des Romans nicht wie­der auf? Anschei­nend sei das für Anni nicht belas­tend gewe­sen? Auch hier zeige sich, dass sehr viel, oder auch zu viel, offen bleibe. Eman­zi­piert habe sich Mira aber doch, da sie ihr Hei­mat­dorf ver­las­sen, sich von der slo­we­ni­schen Spra­che und der katho­li­schen Kir­che distan­ziert habe. Zum Titel »Nacht­frauen« wurde ergänzt, dass alle diese Frauen Geheim­nisse oder etwas Düs­te­res verbergen.

Unterschrift
Mar­gret Hövermann-Mittelhaus

2024 rezensiert, Emanzipation, Heimat, Identität, Maja Haderlap, Suhrkamp Verlag, Österreich