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Himmelsbruecke

Eeva-Lisa Man­ner
» Das Mäd­chen auf der Himmelsbrücke

Autor:Eeva-Liisa Man­ner (Finn­land, 1951)
Titel:Das Mäd­chen auf der Himmelsbrücke
Aus­gabe:Gug­golz Ver­lag, 2022
Über­set­zung:Maxi­mi­lan Murr­mann mit Ste­fan Moster
Erstan­den:Pan­ke­buch, Ber­lin, Pankow

Himmelsbruecke

Die 9jährige Leena ist die Prot­ago­nis­tin des schma­len, aber inhalt­lich rei­chen Ban­des aus dem Gug­golz-Ver­lag. Der sich damit wie­der als erste Adresse für skan­di­na­vi­sche Lite­ra­tur erweist.

In schwie­ri­gen Fami­li­en­ver­hält­nis­sen lebend, erscheint die junge Fin­nin Leena, die Prot­ago­nis­tin, für mich hyper­sen­si­bel. Beein­dru­ckend wie sie die Häss­lich­keit ihres Schul­ge­bäu­des aber auch ihrer unge­lieb­ten Leh­re­rin Aus­druck gibt, und deren »Schul­stimme«, wie sie es nennt.

»Die Fens­ter waren ganz nackt, man fror bei ihrem Anblick«; S. 10. Hef­tig ihre Gefühle gegen­über ihrer Leh­re­rin: »Die Leh­re­rin war kein rich­ti­ger Mensch, son­dern eíne Ein­rich­tung«; S. 10, und eine Seite spä­ter heißt es: »Die Leh­re­rin besaß keine Gefühle, aber einen Bart.«

Aber auch, S. 17: »Es war eine son­der­bar kraft­lose und trotz­dem gren­zen­lose Trauer, sie war über­all in ihr …«, All diese Sei­ten wer­den von den Gefüh­len und den Ein­drü­cken des 9jährigen Mäd­chens bestimmt. Die Leh­re­rin aber will sie von der 2. in die 1. Klasse zurück ver­set­zen. Dabei hat Leena sich das Lesen und Schrei­ben selbst beigebracht!

Ihr Träu­men ob des auf den Fens­ter­schei­ben rin­nen­den Regens wird rüde unter­bro­chen: »Du da! Raus jetzt – hopp, hopp! In den Pau­sen wird nicht auf dem Gang her­um­ge­lun­gert. Jacke rüber und raus zum Spie­len!« Leena zieht die Kon­se­quenz: »… weg von der häss­li­chen Schule. Sie würde zum Fluss gehen, das Was­ser betrach­ten und sei­nem Klang lau­schen.«; S. 19.

Den Beschwer­de­brief der Schule an ihr Zuhause lässt sie mit dem Meer davon segeln – wie einen Traum. Auch wenn sie wusste: »Das Was­ser konnte flun­kern«; S.21. Im Was­ser gol­den schim­mernde Steine ver­lo­ren ihr schö­nes Kleid holte man sie dort her­aus.« Und die Welt stand nur im Was­ser auf dem Kopf, den­noch, es zieht sie zum Wasser.

Man ver­zeihe mir die dichte Folge von Zita­ten aus der Him­mels­brü­cke, aber gerade diese Sei­ten zu Beginn atmen eine magi­sche Poe­sie in nahezu jedem Satz!

Leena lebt bei der Oma und wird mit Epi­lep­sie dia­gnos­ti­ziert, »Fall­sucht« sagte man frü­her dazu. Das ver­bes­sert der hyper­sen­si­blen Träu­me­rin ihren sozia­len Sta­tus mit­nich­ten, ihre Krank­heit wird ihr als Erbe des ver­sof­fe­nen Vaters zuge­schrie­ben. »Epi­lep­sie, Lepi­pep­sie, Lepi­pepi, Lep lep…Sie schmeckte das Wort, und es gefiel ihr.«

Die Oma weiß nicht, wie sie auf das Kind reagie­ren soll, S.30: »Der Umstand, dass ihr boden­lo­ses Leid [in Erin­ne­rung an Lee­nas geschei­terte Eltern] auf das Kind abstrahlte und bereits den Grund sei­ner Seele getrübt hatte … Die Oma hat darob keine Trä­nen mehr, sie hat alle ausgeweint.«

Ein Brief ihres Onkels, der sie wirk­lich ver­steht, wird trös­tend wie­der und wie­der gele­sen. Einen Schmet­ter­ling soll sie nicht ein­fach »Insekt« nen­nen: »Ich ver­stand, dass »Insekt« dir als Wort zu grau war …dass der Schmet­ter­ling für dich ein ganz beson­de­res Geschöpf war.« Es ist dies wie­der ein beson­ders poe­ti­scher Abschnitt, wo die Worte Far­ben haben.

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Eeva-liisa Man­ner | Bild­quelle | Foto: Tam­men Arkisto

Zurück in der Schule geht das All­tags­drama wei­ter, S.35: »…sie war ganz all­ge­mein von einem uner­klär­li­chen Gefühl des Ent­set­zens ergrif­fen wor­den, das sie auf­zu­lö­sen drohte und sie für alles andere blind und taub machte.«. Die Leh­re­rin, die gar nichts ver­steht, weder den Epi­lep­sie-Anfall Lee­nas, noch ihre dadurch beding­ten Fehl­zei­ten in der Schule und schon gar nicht die Schwie­rig­kei­ten der Groß­mutter, damit umzu­ge­hen. Sie schickt Leena bestra­fend raus, sie soll die Brille der Leh­re­rin holen, aus dem Natur­kun­de­raum. Der aber flößt ihr, trotz­dem er leer ist, wider­strei­tende Emo­tio­nen ein, S.39: »… die Schü­ler waren weg, aber der Geist war noch da – da waren der ewige Fleiß, das eif­rige Kämp­fen der Klas­sen­ge­mein­schaft, das bru­tale Lachen.« Nur statt ein­fach die Brille zu holen, fin­det Leena einen Ring, der sie bezau­bert – ihre Leh­re­rin ver­steht das wie immer nicht und maß­re­gelt sie noch mehr.

Trost fin­det das Mäd­chen bei ihrer klei­nen Katze, die Samuel heißt, obwohl das gar keine rich­tige Katze war, der auch der kleine Motor fehlte, den Kat­zen sonst haben. »Aber wenn sie in der ent­spre­chen­den Stim­mung war, ging er wun­der­bar als rich­tige Katze durch.« Den Namen hatte ihre Katze von einem klei­nen jüdi­schen Nach­bars­jun­gen namens Samuel. Der konnte so herr­lich flu­chen: »Bei mei­ner Seele und Jupi­ters Arsch …«. Nur lei­der ist der Junge weg­ge­zo­gen und gleich­zei­tig kommt auch der Dreh­or­gel­spie­ler nicht mehr.

So träumt Leena sich aus die­ser Welt in eine Phan­ta­sie­welt, ihre eigene will sie eigent­lich ver­las­sen und macht sich auf einen Aus­flug in eine ihr unbe­kannte Gegend. Und hat dort in einer Kir­che ein zen­tra­les Erleb­nis. Wobei schon der Gang in einer Kadenz von wahr­lich »zau­ber­haf­ten« Ein­drü­cken statt­fin­det. Mit einer Kirch­turm-Uhr mit magi­schen Zif­fern, einer vio­let­ten Straße, die in den Him­mel fiel und eine Him­mels­brü­cke war. Als sie die Kir­chen­tür öff­net, hört sie die Orgel, auf der Bach gespielt wird. Eine nahezu unfass­li­che Musik, diese war »Uner­klär­lich und selbst­ver­ständ­lich wie Was­ser – ein Was­ser, das so klar war wie der Him­mel und unter dem es kei­nen Boden gab«; S. 68. Mit der Nonne in der Kir­che würde sie gerne spre­chen, doch »… die Wör­ter waren ihr ent­flo­hen, vom Hals in den Bauch gerutscht …«; S.56.

Aber die Nonne spricht ihre Spra­che, ver­steht sie, ver­steht ihr Den­ken, das tut auch der Orgel­spie­ler der Mönch File­mon, eine sku­r­ille Gestalt und phi­lo­so­phi­sches Ori­gi­nal, mit einem »an einen Hund erin­nern­des Geschöpf, das wie ein Woll­schwein oder ein Mehl­sack aus­sah.« Die Kir­che, die Far­ben ihrer Fens­ter, die Musik, die Dia­loge mit Mönch und Nonne kre­ieren eine traum­ver­lo­rene Stim­mung. Die end­gül­tig an Lewis Carolls Alice im Wun­der­land erin­nert in ihrer magi­schen Traum­sze­ne­rie – aber auch Leena ein gro­ßes Stück wei­ter auf der Him­mels­brü­cke voran gehen lässt. Und in der File­mon sagt, dass sie im Traum lebt, in dem sie von ihrem schlim­men Leben los­kommt und zwar so: »Du klaust dem Sand­mann den Regen­schirm, den gro­ßen bun­ten und segelst damit über klaf­ter­tie­fes Was­ser«; S.70. Und so führt er mit Leena einen aber­wit­zi­gen Dia­log, in dem auch der Selbst­mord der traum­ver­lo­re­nen Leena ein­ge­bun­den erscheint.

Der Alte kne­tet der­weil Ton und der bekommt Flü­gel, wird zu einem klei­nen Vogel mit pochen­dem Her­zen, den Leena vor Begeis­te­rung zer­bricht, den sie aber, so File­mon, wie­der bele­ben kann. File­mon ist schon lange blind und kann den­noch mit sei­nem Tast­sinn die Vögel for­men. Und weil er nichts sieht, »viel­leicht sieht er gerad des­halb mehr als andere«, lernt Leena. Und sie lernt, dass File­mon Alko­hol trinkt, weil er auf diese Art Flü­gel bekommt, Flü­gel für seine geschun­dene Seele. Und so ver­steht Leena erst­mals ihren Vater, warum der getrun­ken hat. Sie hat viel gelernt bei ihrem Aus­flug, dem Gespräch mit Nonne und Mönch, dem Erleb­nis der Musik. Sie ver­steht, dass sie Liebe emp­fängt und geben kann, dass ihre Oma sie liebt.

Beson­ders gefällt mir dabei wie schön Eeva-Liisa Man­ner die Sprünge der kind­li­chen Fan­ta­sie in Worte fas­sen kann, mit der Emp­find­sam­keit eines Kin­des. Das Kind hat viel gelernt, auch über ihre Oma, um die sie sich küm­mern will, weil sie viel zu wenig isst. S. 103: »Die­ser Glaube und diese Über­zeu­gung gaben Leena Frie­den für ihre Seele, und sie fiel in den Schlaf, wie in eine Pfütze.«

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Cover eínes fin­ni­schen Gedichtsbands vonEeva-Liisa Man­ner | Bild­quelle

Spä­ter geht Leena im Wun­der­land einen träu­me­ri­schen Gang durch ihre leere Schule, leer und kalt, mit­ten im strö­men­dem Regen, wo sich Rea­li­tät und Traum untrenn­bar ver­mi­schen. So wie in ihrem Brief an ihren Onkel Eever­tii, der sei­nen Besuch ange­kün­digt hatte. Sie sinkt noch tie­fer in ihre Traum­wel­ten, wo sie vor allem vom bun­ten Regen­schirm träumt, mit dem sie fort­se­geln könnte. »In einem unglaub­lich fer­nen Land, einem Land, das es viel­leicht gar nicht gab, sam­melte sie Brenn­nes­seln und flocht dar­aus mit glü­hen­den Fin­gern Har­ni­sche für ihre Vogel­brü­der, auf dass sie einem schreck­li­chen Bann ent­kä­men.«; S. 112. Das war der Punkt, wo ich mir notiert habe: »Wie kann man so etwas Schö­nes schreiben!«

End­lich kommt der von Leena ersehnte Regen, so dass sie mit dem Regen­schirm fort­tan­zen kann. Der Regen kom­po­niert einen Wal­zer. »Tanzt. Tanzt mit dem Schirm und dem Wal­zer … Der Regen­schirm ist ihr Kava­lier und for­dert sie zum Tanz auf – so! … führt sie durch die ganze Stadt … die Stadt tanzt. Die ganze Welt tanzt.«; S. 113. So geht sie ihren immer traum­ver­lo­re­ne­ren Weg. Sie kommt noch ein­mal zu ihrem völ­lig ver­än­dert wir­ken­dem Wohn­haus: »Die von der Straße her ver­traute Ewig­keits­stim­mung herrscht auch hier.« S. 131.

Das Gesche­hen, mit dem das Buch endet, will ich nicht ver­ra­ten, nur soviel: »Es folg­ten der Traum und das hun­dert­jäh­rige Reich der Träume, das Was­ser ohne Boden und der Welt­un­ter­gang.«; S.134

Ein Buch gegen die Miss­ach­tung von Fein­füh­li­gen, von sen­si­blen Men­schen. Eeva-Liisa Man­ner hat ein Buch geschrie­ben, dass sich in sei­ner Emp­find­sam­keit und Fein­füh­lig­keit höchs­tens mit Tarje Veesas (N) und sei­nem »Die Vögel« bzw. »Das Eis-Schloß« ver­glei­chen lässt. In der magi­schen Poe­sie der Geschichte dage­gen an Alice im Wun­der­land erin­nert. Ihre reli­giö­sen Anklänge sind so behut­sam, dass sie mich – als Athe­is­ten – nicht ver­stö­ren. Wer Gefühle eines Kin­des, das als krank ange­se­hen wird, in die­ser Tiefe erzäh­len kann, hat sich einen Ruf als Erzäh­le­rin von Welt­rang verdient.

Eine unglaub­lich schöne Perle vom Guggolz-Verlag


Nach­trag: Die Autorin, 1921-1995, wuchs in Karelien/Finnland auf und lebte spä­ter in Tam­pere. Aus dem Anhang lernt man, dass es auto­bio­gra­fi­sche Züge in der »Him­mels­brü­cke« gibt. Und dass die Man­ner neben groß­ar­ti­ger Lyrik Über­set­zun­gen ins Fin­ni­sche schuf. Dar­un­ter Texte von Kafka, Hesse, Büch­ner, Shake­speare und – Lewis Caroll. Sie hin­ter­lässt ein Werk von 16 Dra­men, 11 Gedichtsbän­den und 4 Roma­nen. Das alles lernt man aus dem Anhang des wun­der­schön aus­ge­stat­te­ten Buchs. Für das man den Gug­golz-Ver­lag nur höchs­tes Lob aus­spre­chen kann.
Dank gilt auch dem Pan­ke­buch in Ber­lin Pan­kow, das sol­che Schmuck­stü­cke immer auf Vor­rat hat, unsere Lieblingsbuchhandlung!

2024 rezensiert, Alice im Wunderland, Finnland, Guggolz Verlag, Kind, Magie, Sensibilität, Tarje Veesas