
Ingke Brodersen
» Lebewohl, Martha
Autorin: | Ingke Brodersen |
Titel: | Lebewohl, Martha |
Ausgabe: | Kanon Verlag Berlin, 1. Auflage 2023 |
Erstanden: | antiquarisch |
»Lebewohl, Martha«, so lautet der Titel des Buches der Historikerin Ingke Brodersen. Wer ist Martha? Martha Cohen, geb. Lewandowski, kam am 20. Juni 1860 in Berlin zur Welt, sie heiratete den Hochschullehrer Hermann Cohen, der sich mit Heinrich von Treitschke und dessen Antisemitismus auseinandersetzte. Treitschke forderte die Anpassung der Juden an das Deutschtum und die Aufgabe ihres Judentums und drohte schon im 19. Jahrhundert mit deren Vertreibung. Sein Ausspruch „Die Juden sind unser Unglück“ wurde zur Parole der Nationalsozialisten. Hermann Cohen dagegen träumte von einer deutsch-jüdischen Symbiose. Seine Frau Martha unterstütze ihren Mann aktiv bei allen Tätigkeiten. Im Alter wurde sie seine Sekretärin. Ihr Mann starb 1918 und Martha erbte eine beträchtliche Geldsumme, seine Bücher wurden von den Nazis auf den Index gesetzt. Martha Cohen lebte weiter in der 5½-Zimmer-Wohnung in der Berchtesgadener Straße 37, in Berlin-Schöneberg. Am 1. September 1942 wurde die 82-Jährige nach Theresienstadt deportiert, wo sie am 12. September 1942 ermordet wurde. Martha Cohen überlebte ihren Mann um 24 Jahre.
Jetzt wissen wir, wer Martha war und wo sie gelebt hat, nämlich in der Berchtesgadener Straße 37, in Berlin-Schöneberg, auch Bayerisches Viertel genannt. Um 1900 waren die ersten Bewohner gutsituierte Bürgerliche, der Anteil der jüdischen Bewohner war überdurchschnittlich hoch. In ganz Schöneberg lebten 16.000, wie viele davon im Bayerischen Viertel ist nicht bekannt. Anfang des 20. Jahrhunderts galt dieses Viertel als städtebauliche Pracht. Goebbels beschrieb es als »Judenparadies« (S. 63). Aber das sollte sich mit dem Nationalsozialismus grundsätzlich ändern. 1941 begannen die ersten Deportationen, seit 1943 wurden die zur Arbeit zwangsverpflichteten Juden auch an ihren Arbeitsplätzen verhaftet und deportiert. Am 19. März galt das Bayerische Viertel in der Sprache der Nazis als »judenrein«.
Wie lebte Martha Cohen und 23 weitere Juden in der Berchtesgadener Straße 37, konnten sie vor den Nazis fliehen, haben sie den Holocaust überlebt, oder sind sie in ein KZ deportiert worden? Diese Fragen versucht die Historikerin Ingke Brodersen zu beantworten, denn sie ist 1991 mit ihrer Familie genau in dieses Haus gezogen, in eine große Berliner Altbauwohnung, im 4. Stock. Vor dem Haus wurden Stolpersteine verlegt, auch für Martha Cohen, und im Bayerischen Viertel wurden 1993 Tafeln aufgehängt, um daran zu erinnern, wie den Juden immer mehr Rechte genommen wurden: »12.11.1938 Juden dürfen keine Kinos, keine Konzerte und keine Theater mehr besuchen.« (S. 272). Die Historikerin war in ein sogenanntes »Judenhaus« gezogen. Da musste sie nicht lange überlegen, ob sie die Geschichte der jüdischen Bewohner dieses Hauses erforschen sollte.

Warum wohnten gerade in diesem Haus viele Juden? Das Ziel der Nazis war auch, Platz zu schaffen für die »arischen Volksgenossen«, also kündigte man den Juden die Wohnungen. »30.4.1939 Juden können zwangsweise in sogenannte »Judenhäuser« eingewiesen werden.« (S. 272). Die Berchtesgadener Straße 37 gehörte (noch) einem Juden und hier mussten nun die Mieter zusammenrücken und ihre Wohnungen mit Fremden teilen. Schon ab 1938 verschwanden Bewohner dieses Hauses. »Wussten die arischen Nachbarn davon? Übergingen sie so etwas schulterzuckend? Waren sie irritiert? Verstört?« (S. 98). Diese Fragen kann auch die Historikerin nicht beantworten, aber ein Urteil fällen: »Es wird Zustimmung, Ablehnung und Indifferenz gegenüber den antisemitischen Maßnahmen gegeben haben. Gleichgültigkeit ist auch eine Form der Komplizenschaft mit den Tätern.« (S. 100). Martha bekommt zwei »Untermieterinnen« zugewiesen, Clara Marcus und Bertha Sternson. Bertha erhielt am 11. Dezember 1942 ein Schreiben: »Ihre Abwanderung ist für Montag, den 14.12.1942 behördlich angeordnet worden.« (S. 67). Welch ein Euphemismus! Erkannten Martha, Clara, Bertha und all die anderen die tödliche Bedrohung? Zu diesem Zeitpunkt waren die Juden von jeder gesellschaftlichen Teilhabe ausgeschlossen, sie waren isoliert und hatten kaum Zugang zu Informationen. »Dass die Deportationen zur Ermordung führten, wollten viele sich gar nicht vorstellen.« (S. 156). Fliehen konnten nur diejenigen, die es sich leisten konnten und sich einen Neuanfang – im Exil – in einem fremden Land zutrauten. »Unter den Zurückgelassenen waren die Frauen, besonders die älteren, überproportional vertreten. Ihre Männer und Söhne gingen, die Frauen blieben und wurden ermordet.« (S. 57). Aber ist »Exil« der richtige Ausdruck? So betonte schon Bertolt Brecht 1933 im Pariser Exil: »»Immer fand ich den Namen falsch, den man uns gab: / Emigranten«. Das Wort täusche doch eine Entscheidung »nach freiem Entschluß« vor, die er und viele andere, bedroht von den Nationalsozialisten, gar nicht hatten, sondern »wir flohen / Vertriebene sind wir, Verbannte.«« (S. 103). Nun stellt die Historikerin eine Verbindung zur heutigen Zeit her, denn in den Nachrichten würde immer wieder über Flüchtlinge berichtet, deren Zahl heute so hoch sei wie noch nie. Rund 120 Millionen Menschen sind nach einer Schätzung des UN-Flüchtlingshilfswerks auf der Flucht vor Gewalt, Unterdrückung und Krieg. (Stand 13.06.2024). »Flucht? Das Wort sagt sich leichthin, zumindest solange man nicht selbst davon betroffen ist. Die Erfahrung einer Flucht brennt sich in Körper und Seele ein wie eine nie wieder zu entfernende Tätowierung, der Flüchtende ist für sein Leben gezeichnet.« (S. 104). Kehren wir zurück zu Martha! Auch Martha, Pianistin, 1860 in Berlin geboren, fühlte sich überfordert, um sich in ihrem Alter noch auf die Flucht zu begeben. Sie wurde am 1. September 1942 nach Theresienstadt deportiert. Immer wieder hatte sie versucht, wie viele andere auch, ihr Testament zu verändern, damit ihr Vermögen nicht den Nazis in die Hände fiele. Aber vergeblich!

Auch diejenigen, die den Holocaust überlebten, und einen Antrag auf Entschädigung stellten, hatten mit den Behörden zu kämpfen, denn hier saßen häufig noch dieselben Beamten, die von den »Entjudungsgewinnen« profitiert hatten. Bei der Ablehnung des Antrags auf Entschädigung sprachen die Beamten – man kann es kaum glauben – von der »Evakuierung« der Juden statt von Deportation! Oder ein anderes Beispiel, ein Beamter forderte den Antragsteller auf, eine Sterbeurkunde seiner Mutter aus Auschwitz beizubringen! Das ist unglaublich! Aber die meisten Bundesdeutschen hat das alles nicht sonderlich gestört. Man »hielt die Wiedergutmachung für »überflüssig«: die einen, weil ihnen die materielle Entschädigung zu teuer war, die anderen, weil sie sich vorrangig selbst als »Opfer« des Krieges oder der Jahre danach sahen.« (S. 236).
»Ich erzähle von zerbrochenen Ehen, gewaltsamen Trennungen, von Selbstmorden, Vertrauensverlust und von zerschnittenen Lebensfäden selbst der Entkommenen« (S. 15), schreibt die Autorin in ihrem Vorwort. Ingke Brodersen ist auch ehrenamtliche Deutschlehrerin und hat Menschen aus Bosnien, Afghanistan, Syrien und anderen Ländern kennen und schätzen gelernt. Aber was gibt uns die Autorin mit auf den Weg? »Aber auch wem die Flucht gelang, der wurde oft nicht glücklich. Viele verkrafteten den Verlust der Heimat nicht oder waren zu erschöpft für einen Neuanfang. Darauf aufmerksam zu machen, dass auch heute viele Menschen flüchten müssen, ist Ingke Brodersen ein wichtiges Anliegen.« Quelle

Sehr lesenswert!
Margret Hövermann-Mittelhaus

2024 rezensiert, Bayerisches Viertel, Berlin, Holocaust, Ingke Brodersen, Kanon Verlag, Nationalsozialismus