
Shaun Bythell
» Remainders of the day
Autor: | Shaun Bythell (Schottland, 2022) |
Titel: | Remainders of the day |
Ausgabe: | Boston Goodine, 2022, Englische Originalfassung (US Ausgabe) |
Erstanden: | Ordered at |

Der dritte Band aus der Welt des größten »2nd hand bookshop in Scotland« vergleiche. Und er ist genauso unterhaltsam, lustig, bissig wie die beiden Vorgänger und entführt vollständig in die Welt der kleinen Bücherstadt Wigtown im äußersten Südwesten Schottlands.
Man trifft alte Bekannte, Sandy »the tattoed pagan«, die Italienierin Emmanuelle aka »Granny« und – ganz wichtig – »Captain«, die gewichtige Katze des Buchladens. Die es schafft, die meisten Hunde von Besuchern einzuschüchtern und Nachbarshunde lieber die Straßenseite wechseln zu lassen. Granny hat sich sogar entschieden nach Schottland zu ziehen, Shaun will sie aber nicht im Bookshop anstellen, sie soll ihren eigenen Weg finden. Der sie aber dennoch gelegentlich im Bookshop jobben läßt, letztlich können die beiden auch schlecht ohne einander.
Shaun Bythell lebt vom Handel mit gebrauchten Büchern, d.h. er kauft sie ein und verkauft sie wieder. Wesentlicher Teil des Einkaufs ist die Übernahme von Nachlässen, Verstorbener, ins Pflegeheim gezogener, in eine kleine (alters-) Wohnung gezogener Menschen. Dahinter steht immer ein Abschied, nicht nur der von den Büchern, sondern von einem Lebensabschnitt, von einer Wohnung, von einem Lebenspartner. Der Autor ist feinfühlig genug, um die hinter dem Bücherkauf stehenden Geschichten, die dahinter stehenden Menschenschicksale zu be- und vermerken. So unterschiedlich sich diese im Einzelfall gestalten mögen. Und er spürt die emotionale Barriere Bücher zu kaufen, die einem Menschen gehört haben, der erst kürzlich gestorben ist; Bücher werden auch zum Teil eines Menschen.
Manchmal sind es einfach schöne Ausflüge zu spannenden Nachlässen und freundlichen Menschen. Oder es sind verstaubte Papierberge in Gemäuern, die vor 20 Jahren das letzte Mal gereinigt wurden, deren Bewohner man nur als »grumpy« bezeichnen kann. Selten, dass er mit den Nachlassverwaltern zusammen lunchen kann oder gar eine Einladung zum gemeinsamen Forellenfischen bekommt. Eher die Ausnahme, somebody »was good enough to offer me a cup of tea«. Manchmal scheut er keinen Aufwand, für eine Bekannte setzt er sich kurzentschlossen in seinen Van, fährt mit einem Freund per Fähre nach Portugal, und vom Hafen 700 km, um die Bücher abzuholen. Das Ganze mit einer stürmischen Biskaya auf der Hinfahrt und einem Erlös, der knapp die Reisekosten deckt. Oder das Ergebnis der Prüfung einer aufgelassenen Bibliothek eines Archäologen in London, S. 47: »It was wayout of my league, financially.« Und manchmal sind es auch nur Ausflüge zu bibliophilen Kostbarkeiten, welcher Buchmensch ist dabei nicht im Herzen bewegt?
Auch die Menschen, die ihm Bücher verkaufen wollen, sind oft eine besondere Spezies. Die oft nicht begreifen wollen, dass sich heute kein Mensch mehr für die Bestseller von gestern oder die abggrabbelten Exemplare von Readers Digest interessiert. Trotz seines Protests werden ihm häufig die unerwünschten Rest-Exemplare dagelassen. So dass er absoluter Stammkunde beim Recyclinghof in Dumfries ist. Und gleich wieder eine Geschichte parat hat, mit welcher Pförtnerin am Hof das Abladen alter Bücher am einfachsten ist – Shaun der Schalk! Wie Bücher zu ihm kommen, variiert auch. Am besten noch in Umzugskisten verpackt, Waschkörbe gehen auch noch, diverse Tüten eher nicht. Großartig fand ich Shauns Reaktion, als ein Kunde das Angebot von nur 15 Pfund für ein paar wertlose Bücher ablehnt, er wäre noch nie so beleidigt worden und Shaun notiert, S. 80: »It’s remarkable that a man, who was clearly in his eigthies had ’never been so insulted’. I’d been on the receiving end of considerable worse insults by the time I was five years old.«

Melancholische Gedanken, wie idiotisch die Phantasie seiner Jugend um ein zukünftiges Dasein als Buchhändler waren. Real müssen Tonnen von Büchern aus beengten Gemäuern in den Van geschleppt, sortiert, bepreist, regalisiert und der Surplus zum Recyclinghof geschleppt werden. Er holt praktisch wöchentlich Bücher, fährt Stunden, um Nachlässe zu bewerten, gibt bei Notaren Angebote ab und muss manchmal ernüchtert feststellen: Dieser Nachlass ist nicht meine (preisliche) Liga, trotz Angeboten von mehreren tausend Pfund. Und setzt sich, als echter Antiquar, auch mit der Spezis der »book collectors« auseinander.
Eskalation des Kampfes mit Amazon: Er ist wochenlang dort offline, der Service ist nicht erreichbar, reagiert nicht, aber Shaun muß Gebühren zahlen. Abe Books funktioniert derweil noch, obwohl 2008 von Amazon gekauft. Viel amüsantes: Nach 20 Jahren endlich ein Verkauf an den Dauerbesucher, »the miserable Welsh man«: Ein Lexikon für Isländisch. Das bestverkaufte Buch in seinem Laden: »300 farmers of Scotland.«, das schenken sich die örtlichen Bauern zu Weihnachten. Wigtown ist nicht nur eine Bücherstadt und eine Stadt, die Künstlerexistenzen aus der ganzen Welt anzieht, S.348: »This area is largely composed of people who are self-employed«, also Solo-Selbstständige. Und so dreht S. Bythell auch manches Promotion video, für andere Künstler, self-employed people oder das jährliche Wigtown Festival.
Unschätzbar seine Buchtipps, vor allem aber die Zitate aus R.M.Williamson, »Bits from an old bookshop«, ein Klassiker für Buchhändler. Dann der belly-dancing course oben im Laden, wo manchmal (k)eine Besucher zur Österreicherin Petra kommen, für einen Schwatz reichts aber. Und Petra und ihre Töchter sind ein Ausweis für das Multi-Kulti Biotop der Bücherstadt Wigtown. Auch wenn der geringe Besuch ihrer Kurse sich manchmal anfühlt S. 137:»it’s starting to feel a bit like EleanorRigbys funeral.« Bezaubernd dagegen das ältere Ehepaar, das 2-3 mal im Jahr kommt und immer Bücher für 50 Pfund kauft. Um sie dann stundenlang am Kamin des Shops zu lesen. Marlene, die Französin, die durch Europa radelt und bei Shaun Obdach findet. Ohrenbetäubend die Geräusche der sich paarenden Frösche im Sumpf hinter dem Garten. Der wütende Ausruf von Shaun als er in einem Reiseführer über sich liest, er sei der nette Engländer hinter dem Tresen: »I’m not English, I’m Scottish!«. Verblüffend dagegen, S.45 »In Wigtown the weather is always female« ! Und sehr philosophisch, wenn er anlehnend an R.M.Williamson bemerkt, S. 200: »The largely subconscious signals by which many of us judge our fellows – the ways we dress and speak… – matter for nothing when you’re immersed in a book.«
Von Captain der Shopkatze hören wir, dass sie eine neue erfolgreiche Strategie hat, Hunde zu vertreiben. Und man findet schon mal Federn unter dem Küchentisch, oder Captain mit einer Maus in der Schnauze. Ein Austausch mit anderen Händlern/Antiquaren gehört zum Bookshop ebenfalls dazu. Selbst aus Belgrad kommt daher ein anderer Antiquar nach Wigtown.

Was ich – als ehemaliger Dorfbewohner – notiere, dass Leben in Wigtown auch Autofahren-Autofahren-Autofahren heißt: Möbel transportieren, zum Recyclinghof, Post und Einkaufen im Nachbardorf, Ausflüge mit Gästen im schönen Umland, Aufbau des jährlichen Wigtown Festivals, Abholen/Bringen von Gästen, zum Bahnhof, zum Flugplatz, zur Fähre, Elternbesuche. Autofahren- Autofahren-Autofahren. Dafür macht er sich auch schon mal den Spaß, seinen leicht abgeranzten Van neben das teuerste Auto auf dem Carpark zu stellen. Zwar wird schon mal zum Einkaufen ins Nachbardorf in Newton Stewart gefahren. Aber S. 53: »The coop in Wigtown is more than adequate.«
Wenig zur Politik, aber die Erinnerung an das Brexit Votum (das Buch spielt 2016), und dass in Schottland 62% für »remain« gestimmt haben! Auch Nicola Sturgeon (SNP) war schon bei Shaun im Bookshop. Gelernt habe ich, dass Shaun Bythell zu den eher gut situierten Menschen im Südwesten Schottlands gehört. Er kommt vom Bauernhof, den Eltern(die ihn gelegentlich besuchen) gehören einige Ferienhäuser, auch ihm gehören Immobilien. Und er kauft einen alten Gasthof (Red Lion hieß der in seiner Jugend) um endlich genug Lagerraum zu haben und einen eigenen Webshop zu realisieren.
Bemerkenswert viele Freunde und Bekannte spielen im Leben des Bookshop Chefs eine Rolle. Oft genug kommt Besuch, wird herumgeführt, kann im Haus des Shops übernachten, ist ein Teil des Bookshop-Lebens. Man liest aber auch wie aufwendig man alte, ausgetrocknete, rissige Ledereinbände alter Bücher pflegt.
Bythell ist auch familiär eng in die Region eingebunden, seine Eltern unweit, 2 Schwestern in Schottland und ein Cousin im nicht weit entfernten Irland. Was ihm hilft, wenn er eine Bibliothek in Edinburgh, also weit im Osten, bewertet, kann er bei seiner Schwester Lisa übernachten. Wobei man sich oft fragt, wie er neben Bücheran- und verkauf, sortieren, auspreisen, liefern Gäste bewirten, es noch schafft, jeden Tag die Zahl der Verkäufe, der gefundenen Bücher, der Tagesumsätze und wer-wann-kommt bzw. geht, zu notieren. Oder anmerkt, S. 273: »Quiet day in the shop, even the cat looked bored.« Dafür kann Shaun mit seinem Vater fischen gehen, baden oder mit seinem Freund, dem Superhandwerker Callum, auf ein Bierchen ins local pub wandern, wenn es mal wieder den Besitzer gewechselt hat.

Spannend auch die intensive Vorbereitung und die Atmosphäre beim Wigtown Festival, 200 einzelne Events gehören dazu. Der Bookshop ist ein Festival Teil – wie die anderen Antiquariate des Orts. S. Bythell kann das Festival-Fieber transportieren, das die ganze Stadt ergreift. Manche seiner Beobachtungen sind aber für mich eher gruseliger Kleinstadt Klatsch und Tratsch, zum Teil auf niedrigstem Dorfniveau, manches sogar verletzend gegenüber den geschilderten Personen. In einem Fall muss er alle Anmerkungen zu einem Menschen aus dem Freundeskreis im Manuskript streichen, was ihm sichtlich schwer fällt. Shaun, die Klatschtante. Die am Ende des Buchs in einer Vorausschau von der Heirat Granny’s erzählt, dass auch er geheiratet und zwei Kinder hat, schon über 50 ist, und mit 45 nicht mehr so fit für eine Fete mit 30-jährigen war. Aber der Bookshop Nachwuchs ist ja möglicherweise gesichert 🙂
Es ist die besondere Fähigkeit von Shaun Bythell mit wenigen Worten die Leser in den besonderen Kosmos des Bookshops hinein zu ziehen. Einen kulturbasierten Kosmos, eine Welt voller Charaktere, die Welt einer am Meer gelegenen südostschottischen Kleinstadt, liebenswert und literarisch.
Es ist die große Kunst des Autors uns mitten in die zauberhafte Welt seines »Bookshops«, seiner teils skurrilen Mitarbeiter und Kunden hinein tauchen zu lassen. Eine Welt, die mitten in der Bücherkultur, dem Biotop von Druckseiten, Ledereinbänden, Ex-Libris, kurz dem Geschmack und Geruch von Büchern lebt. Etwas, um den Alltag komplett zu vergessen, also alles, was ein gutes Buch ausmacht, reichlich zu bieten. Uns Leser mit herrlichen Apercus über Mitarbeiter, Besucher, Kollegen, Festivaler in heftigem schottischen Humor zu unterhalten: S.225; »Much as I despise beeing kind about anyone…« – das könnte auch als Motto über dem Buch stehen.
Sollte ich jemals in meinem Leben nach Schottland kommen, ich würde unbedingt zum Bookshop, 17 North Main Street, Wigtown fahren.
Von Büchern und Menschen
Nachtrag: Hier kann man mehr über Shaun Bythell und sein Antiquariat erfahren. Aus seinem Tagebuch auf Facebook. Einige sehr lesenswerte Beiträge von Shaun Bythell sind auf der Seite des Wigtown Festival. Unter anderem die Geschichte von Captain und ob es bei nur einer Katze geblieben ist. Wer’s lieber hören will. Und schließlich.
Wer sich die Originalausgabe von »Remainders of the day« in Shauns Onlineshop bestellen will, sollte hinzufügen, dass er die englische Ausgabe möchte. Aus Wigtown wrd auch die US-Ausgabe geliefert, deren Schutzumschlag aber dem Umschlag der europäischen Ausgabe des zweiten Bandes, also von »Confessions of a bookseller« zum Verwechseln ähnlich sieht.
Ob und wann es eine deutsche Fassung von »Remainders of the day« war bis Redaktionsschluss nicht zu erfahren.
2024 rezensiert, Antiquariat, Buchhändler, Buchnachlass, Künstlerdorf, Schottland, Shaun Bythell, Wigtown, Wigtown Festival