Skip to main content
Strasse-der-Woelfe-Bild1

Gabriele Krone-Schmalz
» Straße der Wölfe

Autorin:Gabriele Krone-Schmalz
Titel:Straße der Wölfe - Zwei junge Frauen erle­ben Russ­land in den 30er Jahren
Aus­gabe:Kie­pen­heuer & Witsch Ver­lag, 1. Auf­lage 1999
Erstan­den:anti­qua­risch

Strasse-der-Woelfe-Bild1

Warum hat mich die­ses Buch sofort ange­spro­chen? Zunächst auf­grund der Autorin: Prof. Dr. Gabriele Krone-Schmalz ist eine sehr bekannte Jour­na­lis­tin und Russ­land-Exper­tin, sie erwarb sich als Aus­lands­kor­re­spon­den­tin in Mos­kau hohe Aner­ken­nung. Sie war Ende der 80er Jahre die belieb­teste Aus­lands­kor­re­spon­den­tin des »Ers­ten Deut­schen Fern­se­hens«. 1997 erhielt sie das Bun­des­ver­dienst­kreu­zes 1. Klasse, 1989 erhielt sie den Kri­ti­ker­preis für »Kraft­akte – Frau­en­all­tag in der Sowjet­union“ (45 min. Film in der ARD). Ich könnte noch Wei­te­res auf­zäh­len, aber gerade der Kri­ti­ker­preis passt zu ihrer Ver­öf­fent­li­chung »Straße der Wölfe. Zwei junge Frauen erle­ben Russ­land in den 30er Jah­ren« (1999). Ein Roman? Eher nicht, viel­leicht eine Repor­tage über das Leben in Magni­to­gorsk in den 30er Jahren.

Als zwei­tes hat mich das Thema ange­spro­chen, aber auch das Titel­bild, zwei sehr selbst­be­wusst wir­kende junge Frauen, rau­chend, Indus­trie­ar­bei­te­rin­nen, die sich anschei­nend sehr gut ver­ste­hen. Diese bei­den Frauen könn­ten Anna (17) und Meike (22) sein, von denen die Autorin erzählt. Anna hat die Autorin tat­säch­lich im Som­mer 1984 ken­nen gelernt, sie hat von ihrer Jugend in Magni­to­gorsk erzählt. Und hier noch eine wich­tige Aus­sage der Autorin: »Ich ver­su­che in der Tat, mein Ver­ständ­nis von Jour­na­lis­mus zu ver­mit­teln, das fol­gen­der­ma­ßen aus­sieht. Ich muss mit leben­den Men­schen spre­chen, um mir ein Bild zu ver­schaf­fen«. Quelle

Doch jetzt zu ihrer Beschrei­bung des Lebens in den 30er Jah­ren in Russ­land, kon­kre­ter: in Magni­to­gorsk. »Um das gigan­ti­sche Indus­trie­pro­jekt in der Steppe des süd­li­chen Ural zu rea­li­sie­ren, hat­ten sich die Sowjets inter­na­tio­nale Hilfe ins Land geholt. Ame­ri­ka­ner waren mit dem Bau der Hoch­öfen beauf­tragt, Deut­sche soll­ten inner­halb von vier Jah­ren für 200 000 Men­schen Wohn­raum schaf­fen. Schon 1928, noch bevor die Lauf­zeit des Ers­ten Fünf­jah­res­pla­nes im Okto­ber begann, kamen Sowjet­bür­ger in Mas­sen nach Magni­to­gorsk. Es ström­ten beson­ders viele junge Leute aus allen Tei­len der Sowjet­union zusam­men.« (S. 21).

Die 17jährige Anna aus Deutsch­land reiste zusam­men mit ihren Eltern in die süd­li­che Steppe des Ural. Annas Vater ist Archi­tekt und kon­stru­iert Woh­nun­gen und Indus­trie­an­la­gen im soge­nann­ten Bau­haus­stil, also zweck­mä­ßig und funk­tio­nal muss­ten die Anla­gen sein.

Strasse-der-Woelfe-Bild2
Quelle

Meike und ihr Mann kom­men aus Hol­land, beide wol­len als Archi­tek­ten hier in Magni­to­gorsk arbei­ten. Unter­ge­bracht wer­den die Men­schen in arm­se­li­gen Bara­cken, wo sie im Win­ter bei minus 40 Grad frie­ren und im Som­mer bei Höchst­tem­pe­ra­tu­ren schwit­zen. Aber sie träu­men davon vom Zei­chen­brett aus eine neue bes­sere Welt zu schaf­fen. Meike und Anna freun­den sich an, sie dis­ku­tie­ren über die Ehe, die Fami­lie, die sexu­el­len Frei­hei­ten und neue Mög­lich­kei­ten des Zusam­men­le­bens. »Statt die Struk­tur, die Form der Ehe in Frage zu stel­len, machen sie (die Men­schen) ein­zelne Per­son für das Schei­tern einer Bezie­hung ver­ant­wort­lich. Sowohl die Kir­che als auch der Staat haben über Jahr­hun­derte ein Umden­ken ver­hin­dert. Die Erzie­hung in der klas­si­schen Klein­fa­mi­lie pro­du­ziert lau­fend Men­schen, die unfä­hig sind, sich schöp­fe­risch zu betä­ti­gen und neue For­men des Zusam­men­le­bens zu fin­den« (S. 131). Oder die bei­den dis­ku­tie­ren über die Gleich­be­rech­ti­gung, bezo­gen auf die Kin­der­er­zie­hung und gleich­zei­tig einem Beruf nach­ge­hen zu kön­nen, mit die­sem Ergeb­nis: »Gleich­be­rech­tigt sind wir nur, wenn wir bei­des machen kön­nen, und man uns nicht vor die Wahl stellt.« (S. 255).

Strasse-der-Woelfe-Bild3
Quelle

Die unge­heure Kraft­an­stren­gung und unge­bremste Ener­gie der Men­schen ste­hen im Vor­der­grund der Beschrei­bun­gen. Denn es sollte das »stäh­lerne Herz des Vater­lan­des« – so wurde Magni­to­gorsk, das Haupt­zen­trum der sowje­ti­schen Eisen- und Stahl­in­dus­trie, im 20. Jahr­hun­dert genannt, aus dem Boden gestampft wer­den. Aber nicht nur das ist das Thema, die Autorin beschreibt auch die Land­schaf­ten, Lebens­schick­sale der Men­schen in der Steppe und auch Aben­teuer, so die Wolfs­jag­den. Die Jäger sind meh­rere Wochen bei Eises­kälte unter­wegs und über­nach­ten sehr ärm­lich bei Pri­vat­per­so­nen in klei­nen Basch­ki­ren­dör­fern. Hier beob­ach­tet Johann, dass die Basch­ki­ren­ba­bys keine Win­deln oder Tücher tra­gen. End­lich traut er sich zu fra­gen. Zunächst wird er aus­ge­lacht, aber dann folgt die Erklä­rung: »Bei den Basch­ki­ren wer­den die Babys häu­fig gestillt, etwa ein­mal die Stunde. im Anschluss daran hal­ten die Frauen die Kin­der über einen Eimer und strei­chen so lange sanft über den Bauch, bis beide Vari­an­ten der Not­durft erle­digt sind. Prak­tisch, dachte Johann.« (S. 71). So erfah­ren wir auch etwas über die Lebens­um­stände der Basch­ki­ren oder die poli­ti­schen Ver­hält­nisse der 30er Jahre. Aber im Vor­der­grund ste­hen die Lebens­läufe ein­zel­ner Men­schen in Magni­to­gorsk und deren unglaub­li­che Belas­tung, wäh­rend sie das Indus­trie­pro­jekt aus dem Boden stamp­fen, auf das sie stolz sind, und das ein Inge­nieur in fol­gende Worte klei­dete: »In die­ser Ein­öde, Hun­derte von Kilo­me­tern vom nächs­ten Sam­mel­punkt mensch­li­cher Tätig­keit ent­fernt – die­ses rie­sen­hafte Werk, inner­halb von weni­ger Jah­ren errich­tet. Und wir sind dabei.« (S. 230).

Strasse-der-Woelfe-Bild4
Magni­to­gorsk | Photo cre­dit: nk​-tv​.net | Quelle

Der Autorin gelingt es, uns die­sen rus­si­schen All­tag der 30er Jahre zu ver­mit­teln, wo Uto­pien noch mög­lich waren, dabei stützt sie sich auf Augen­zeu­gen­be­richte, Zeit­do­ku­mente und Inter­views mit den bei­den Prot­ago­nis­tin­nen Anna und Meike. Und nicht zu ver­ges­sen ihr eige­ner Anspruch: »Eigent­lich besteht die Auf­gabe von Jour­na­lis­ten darin, die Wahr­heit zu trans­por­tie­ren.« Quelle

Ein Buch, das zeigt, wie in den 30er Jah­ren der Sowjet­union noch Chan­cen für Uto­pien in alle Rich­tun­gen mög­lich waren.

Lesens­wert!

Unterschrift
Mar­gret Hövermann-Mittelhaus

2024 rezensiert, Gabriele Krone-Schmalz, Kiepenheuer & Witsch, Neue Welt, Russland, Utopie