F. C. Delius
» Mein Jahr als Mörder
Autor: | F. C. Delius (2006) |
Titel: | Mein Jahr als Mörder |
Ausgabe: | Rowohl Taschenbuch, Neuausgabe 2013 |
Erstanden: | Antiquarisch auf Tipp meiner früheren Partnerin |
Ein Buch wie ein Krimi über einen Justizskandal der späten sechziger Jahre, als der Richter H. J. Rehse, trotz mehr als 200 widerrechtlichen Todesurteilen am Volksgerichtshof Freislers, vor dem Berliner Landgericht vom Vorwurf des Mordes freigesprochen wird. Ein Berliner Student empört dies derart, dass er beschließt, Rehse als Sühne für dessen Taten umzubringen. Als er sich mit dem Fall näher befasst, stellt er fest, dass dies nur die Spitze des Skandals ist. Die Witwe eines Rehse-/Freisler-Opfers, die Ärztin Anneliese Groscurth, wurde Jahre zuvor, bei dem Versuch solches Unrecht nicht hinzunehmen, selbst Justizopfer. Sie wird als Amtsärztin entlassen, ihr werden die Renten als Naziopfer nachträglich (!) aberkannt, selbst ein Pass für Auslandsreisen (zum Fachkongress) wird ihr verweigert.
Ihr Mann, der Wissenschaftler Groscurth, war befreundet mit Robert Havemann und mit ihm im Widerstand, aber Havemann (einziger überlebender Zeuge) wohnt nun im Osten. Womit seine Frau beim Versuch ihren Mann vom Naziurteil zu rehabilitieren, zwischen die Mühlen von Ost und West gerät und jedweder Rechtsbegriff den Parolen des Kalten Kriegs geopfert wird – in Ost und West. Dabei geht Delius erbarmungslos mit den Mächtigen in beiden deutschen Staaten um, deckt auf, welch stinkende Leichen auch die junge bundesdeutsche Demokratie im Keller hat, z.B:
- Das Verbot einer Volksbefragung (1951) über Frieden, Remilitarisierung und Wiedervereinigung; mitsamt der Illegalisierung und dem Verbot aller Unterstützerorganisationen.
- Die blutige Zerschlagung einer Jugenddemonstration in West-Berlin während der Weltfestspiele in Ost-Berlin 1951; 132 Schwerverletzte im Krankenhaus.
Dem gegenüber stellt Delius das vor allem humanitäre Engagement von Groscurth und Havemann in der Nazizeit, von den Justizbütteln der braunen Pest in Straftaten umgefälscht,was nur 10 Jahre danach in der neuen Republik ausdrücklich für »Recht« erklärt wird. Zitat Spiegel zu diesem Urteil: »Ein Hoch auf Roland Freisler… Unter Hitler konnte man hängen, erschlagen, vergasen, erschießen, abspritzen – und dafür wird man heute natürlich bestraft. Doch richten – richten konnte man unter Hitler ohne Folgen nach Hitler.«
Das alles ist – eingebettet in die Original wieder gegebene Stimmung der 68’er (mit einiger West-Berliner-Nostalgie) und eine Liebesgeschichte, ausgesprochen spannend erzählt und es deckt dabei Ungeheuerlichkeiten der Nachkriegsgeschichte, der Frontstadt-Atmosphäre West-Berlins auf, wo die alten Nazis sich genüsslich in Staat, Polizei und Justiz wieder breit machten. Angesichts des Aufschwungs moderner Rattenfänger wie Pegida und AfD ein besonders wichtiges Buch, ein Signal für Humanismus gegen braunen Ungeist.
Unbedingt lesen!
2016 rezensiert, Antifaschismus, F. C. Delius, Historisches, Politisch, Rowohlt Taschenbuch