Jenny Erpenbeck
» Gehen, Ging, Gegangen
Autor: | Jenny Erpenbeck (Deutschland, 2015) |
Titel: | Gehen, Ging, Gegangen |
Ausgabe: | Lizenzausgabe Büchergilde Gutenberg |
Erstanden: | Büchergilde Gutenberg |
Die verwobene Geschichte des frisch von der Humbold-Universität emeritierten, vereinsamten Professors, dem sein ganzes Land abhanden gekommen ist. Und die Flüchtlinge und Asylbewerber in Berlin, deren Elend verwaltet und deren Ansprüche durch Paragraphenreiterei abgewehrt werden.
Die Autorin glänzt durch raffinierte sprachliche Enthüllungen und skizziert treffend historische Grundlagen Syriens, Libyens, der Kolonialmächte als Ursache heutigen Flüchtlingselends ebenso wie die unglaubliche Rohstoffausbeutung im Niger durch Frankreich. Kernsatz: »Nichts kann in der Geschichte besser zerstören, als wenn man das Geld laufen lässt«.
Die berührend schreibt: Sie, die Flüchtlinge haben nichts, keine Familie, keine Heimat, keine Arbeit, keine Zukunft – nur ein Handy – und das wird ihnen noch geneidet. Asylsuchenden ist arbeiten verboten – nicht zu arbeiten wird ihnen vorgeworfen.
Die elenden Gesetze und unbarmherzigen Ausführungsvorschriften: Die Gesetze, die Inzucht mit ihrer Ausführung treiben. In Deutschland ist 1/3 der Gesetze nicht im Gefühl der Menschen verankert. Dagegen elegant die tatsächlichen 5 Säulen des Islams, vom Mainstream sorgfältig verschwiegen. Raschids Flucht vor den Bomben auf Libyen, bei der 500 von den 800 Menschen im Boot ertrinken. Und das wir Europäer uns jeden Tag etwas leisten, was die Existenz einer ganzen Familie in Afrika bedeutet. Was das Leben eines Asylbewerbers bedeutet: Das was ich aushalte, ist nur die Oberfläche von dem, was ich nicht aushalte.
Sie verwebt diese Einsichten und Klarstellungen gegenüber der täglichen »Lückenpresse« geschickt mit dem neuen Lebensinhalt des Professors, einem Träger der freiwilligen Willkommenskultur. Der sich und nach und nach sein ganzes Haus den Flüchtlingen öffnet. Auch wenn ihm anlässlich eines Diebstahls vorurteilsbeladene Zweifel kommen, auch in seiner täglichen Sozialarbeit mit den Flüchtigen. Gleichzeitig wieder Reflektionen über das Alter, je älter man wird, umso dankbarer ist man, nicht zu wissen, was wird.
Unglaublich wie die Autorin ein (sprachliches) Kaleidoskop von Interpretationen entfacht, z. B. um das Wort Grenze. Wie die künstliche Front des Ausländerhasses entlarvt wird. Genial die »Verschmelzung« einer Bachkantate mit einem Beipackzettel – die Erpenbeck kann meisterhaft mit der Sprache umgehen.
»Gehen, ging, gegangen« ist bedrückend, beeindruckend, notwendig, aufklärend, Wahrheiten sprechend, die offenbar 2/3 der Deutschen nicht hören wollen. Und dabei noch sprachspielerisch. Ein sehr starkes Buch, auch wenn die Geschichte von Richard, dem Ex-Professor nicht immer stringent erscheint und die von seinen Freunden streckenweise nicht gelingt.
Ein schweres, ein notwendiges, ein zutiefst humanistisches Buch.
Unbedingt Lesen!
2016 rezensiert, Asylbewerber, Büchergilde Gutenberg, Jenny Erpenbeck, Migration