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Granin-Gewitter

Daniil Gra­nin
» Dem Gewit­ter entgegen

Autor:Daniil Gra­nin (Sowjet­union, 1962)
Titel:Dem Gewit­ter entgegen
Aus­gabe:Kul­tur und Fort­schritt, Ber­lin DDR, 1963
Erstan­den:Anti­qua­risch

Granin-Gewitter

Der Lenin­gra­der Inge­nieur Gra­nin debü­tierte 1949 lite­ra­risch mit der Erzäh­lung »Die zweite Vari­ante«. In der ein Dok­to­rand ent­deckt, dass ein ande­rer zum glei­chen Thema eine bes­sere Arbeit ver­öf­fent­licht hat. Er ent­scheidt sich, diese als bes­ser zu bewer­ten (das waren noch Zei­ten, nicht wahr Dr. Googleberg?).

Dann kommt von Gra­nin ein Buch über den pol­ni­schen Teil­neh­mer der Pari­ser Kom­mune, Jaros­law Dombrow­ski; ein Band Skiz­zen über die Erbauer eines neuen Wasser­kraft­werks in Kui­by­schew und eine Novelle »>Der Sieg des Inge­nieurs Korssa­kow.« 1954 kommt der Roman, der ihn weit bekannt macht, ins­be­son­dere in der dama­li­gen DDR: »Der Bahnbrecher«.

Granins Werke wur­den – außer im dama­li­gen Ost­block – in Eng­land, Argen­t­inien, China ver­öf­fent­licht, nach Frank­reich wurde nahezu alles über­setzt, was Gra­nin ver­öf­fent­lich hat.

Die­ses Buch hier nun gilt als der zweite wich­tige Roman Granins (gekürzt bei dtv als »Zäh­mung des Him­mels« erschie­nen) und beschäf­tigt sich wie der »Bahn­bre­cher« (ver­glei­che »Gele­sen im Okto­ber 2017«) mit der Auseinan­dersetzung zwi­schen unbe­que­men Neue­rern und Büro­kra­ten, Kar­rie­ris­ten und fau­len Pos­ten­schie­bern . Es geht um einen revo­lu­tio­när neuen, aber nicht unge­fähr­li­chen Ansatz in der Gewit­ter­for­schung. In deren Ver­lauf es zu einer Kata­stro­phe kommt, aus Bequem­lich­keit, Zag­haf­tig­keit, Unehr­lich­keit, Über­for­de­rung und mensch­li­chem Ver­sa­gen – Tscher­n­o­bly lässt grüßen!

Die­ses Buch ist aber erheb­lich kom­ple­xer als der »Bahn­brecher«, nimmt aber erst nach rund 100 Sei­ten (von 400) wirk­lich Fahrt auf, wird dann aber rich­tig span­nend. Man­ches Detail der sowje­ti­schen For­schungs- und Wis­sen­schafts­welt ist heute nicht mehr leicht nach zu voll­zie­hen, es tut der Erzäh­lung kei­nen gro­ßen Abbruch.

Im Mit­tel­punkt des Romans ste­hen völ­lig unter­schied­li­che Cha­rak­tere, der cha­ris­ma­ti­sche, aber kar­rie­ris­ti­sche Oleg Tulin und der spröde Wis­sen­schaft­ler Kry­low, der schon als Stu­dent wegen sei­ner stän­di­gen Frage »Warum?« so auf­fiel, dass er schließ­lich – ohne Abschluss – exma­tri­ku­liert wurde. Sowie der »Pos­ten­in­ha­ber« Denis­sow, der mit ver­al­te­ten Theo­rien und Dog­men aus­ge­stat­tet, für bequeme Labor­for­schung statt für ris­kante Gewit­ter­ex­kur­sio­nen von flie­gen­den Labors plä­diert. Dazu Men­schen, wie der lie­be­die­ne­ri­sche Labor­mit­ar­bei­ter Jakow Aga­tow, unbe­gabt, unschöp­fe­risch, aber kar­rie­re­geil, der um Ver­bün­dete zu fin­den, zu Metho­den à la Berija greift.

Der Autor zeigt sich wie­derum sehr kri­tisch gegen­über der dama­li­gen sowje­ti­schen Wirt­schaft, »Fähige Leute zu fin­den war schwer, doch noch schwe­rer war es, die schlech­ten Kräfte los zu werden.«

Es man­gelt auch unter den betei­lig­ten Per­so­nen, Phy­si­kern und Inge­nieu­ren, nicht an Kri­tik, so gibt es gegen­über dem unan­ge­pass­ten Ser­gej Kry­low den Vor­wurf, das er noch zöger­lich ist, wie­wohl man nach dem (20.) Par­tei­tag (der KPdSU) viel freier sein kann – so Granin.

Die Kunst kriegt auch ihr Fett weg, dass statt Men­schen stumpf­sin­nige (Arbeits-)Roboter wie­der gege­ben wer­den, heißt es bei ihm zum »sozia­lis­ti­schen Rea­lis­mus«. Und ein Hieb gegen die »moderne Zivi­li­sa­tion«, so schreibt Gra­nin, dass bei der heu­ti­gen Lebens­weise mit Tele­fon und Tele­gram­men das Innen­le­ben eines Men­schen keine schrift­li­chen Spu­ren mehr hin­ter­lässt – ein Satz 50 Jahre vor Smartphones!

Gra­nin packt auch Sta­li­nis­mus-Fol­gen an, zeigt wie Reha­bi­li­tierte ins Labor zurück kom­men und lässt fra­gen, wie das über­haupt pas­sie­ren konnte. Und um den skru­pel­lo­sen Pseudowis­sen­schaftler, das Aka­de­mie­mit­glied Denis­sow, mit einem alles plät­ten­den Cha­risma aus­ge­stat­tet, gegen­über dem etwas nai­ven Kry­low zu cha­rak­te­ri­sie­ren: »Du Baby, den Per­so­nen­kult gibts nicht mehr, aber seine Die­ner sind noch da!«

Und eben die­ser »Die­ner des Per­so­nen­kults« bedient sich Denis­sow, der von Tulin für einen Hoch­stap­ler ange­se­hen wird und der das Gesetz ent­deckt hat: »Die Men­schen lie­ben es, dass man sie mit Hoff­nun­gen betrügt.« – eine bei­ßende Kri­tik am sowje­ti­schen Wissenschaftsbe­trieb«; die aber aus­ge­spro­chen zeit­los und sys­tem­über­grei­fend wirkt.

Auch ein inter­es­san­ter Cha­rak­ter ist der Wis­sen­schaft­ler Ani­ke­jew, ein Phy­si­ker, der an der rus­si­schen Atom­bombe arbei­tete und es wagte sich mit Berija anzulegen.

Man­ches erhei­tert köst­lich im Buch, so die »Jun­gen­strei­che« der Phy­si­ker­truppe, eher unbe­frie­di­gend blei­ben die Frau­en­fi­gu­ren und die ein­ge­ar­bei­te­ten Roman­zen; letz­te­res wirkte auf mich auch im »Bahn­bre­cher« nicht ganz überzeugend.

Das ist wie­der ein bemer­kens­wer­tes Buch Granins, das zeigt, wie der Autor die Nonkonfor­misten, die Unan­ge­pass­ten, die »Fra­ge­stel­ler« liebt. Sein Tenor auch in die­sem Werk: Wie die Schwät­zer, die Intri­ganten, die Büro­kra­ten im (sowje­ti­schen) Sys­tem den Fort­schritt be- und verhindern.

Granin-1960
Daniil Gra­nin, ca. 1960, im Alter von 41 Jah­ren. | Quelle: »Sowjet­li­te­ra­tur« Nr. 12, 1960

Aber Gra­nin stellt zu wenig die Frage, warum sie das kön­nen, wie sie so gewor­den sind, wie man ihnen das Hand­werk legen könnte. Eine Schwä­che des Romans ist auch das Sprin­gen von einem Cha­rak­ter zum ande­ren und im letz­ten Zehn­tel des Buchs geht dem Autor sicht­bar die Luft aus.

Den­noch ist es ein sehr viel­schich­ti­ges, sehr dif­fe­ren­zier­tes Buch, viel mehr als der Bahn­bre­cher, dadurch aber nicht immer leicht zu lesen. Schaut man sich heu­tige Ereig­nisse (Diesel­skandal, Con­ter­gan Affäre, Fuku­shima) an, kann man immer noch etli­ches ler­nen von Gra­nin, hinzu kom­men die wich­ti­gen his­to­ri­schen Ein­bli­cke. Inklu­sive der Tat­sa­che, dass es – zumin­dest in der Lite­ra­tur – viel mehr Kri­tik inner­halb des sowje­ti­schen Sys­tems gab, als hier­zu­lande zumeist bekannt wurde.

Sehr emp­feh­lens­wert

2017 rezensiert, Bürokratie, Daniil Granin, Personenkult, Sowjetunion, Stalinismus, Wissenschaftler