Paula Modersohn-Becker
» Briefe und Tagebuchblätter
Autor: | Paula Modersohn-Becker (Deutschland 1920) |
Titel: | Briefe und Tagebuchblätter |
Ausgabe: | Kurt Wolff Verlag Berlin, 1920 |
Erstanden: | Antiquarisch |
In der »Worpsweder Runde« spielte Paula als einzige Frau und als erste der Moderne zugewandte Malerin, eine Sonderrolle, noch betont durch ihren tragisch frühen Tod im Alter von nur 31 Jahren (vgl. »Gelesen im April 2017«).
Dieses Buch berührt durch den engen Kontakt mit einem Mädchen, einer jungen Frau, einer zweifelnden jungen Malerin, einer Verliebten, einer sich zwischen Worpswede, Berlin und Paris durchsetzenden Künstlerin, gegen eine Männergesellschaft und konservative Kunstauffassungen. Die erfrischende, bewegende Briefe schreibt. Noch von keinem Buch habe ich so intensiv Notizen gemacht, wie von Paulas Aufzeichnungen, denen oft literarische Qualitäten eigen sind; man denkt an das Poesiealbum eines Mädchens. Selten habe ich bei einer Rezension so oft im Buchtext nachgeblättert, ich will versuchen, mich zu konzentrieren.
Weder Lehrerexamen noch Arbeit als Gouvernante ändern etwas an ihrer Berufung: Ich muss malen! Nicht leicht, für die Tochter eines von Dresden nach Bremen versetzten Bahnbeamten, nicht leicht für eine Frau zur Jahrhundertwende. Die sich über die eigene Sprödheit beklagt, Naturbeschreibungen in kindlicher Freude, die Mädchenstreiche (mit Clara), das Läuten der Feuerwehrglocke, so kongenial in »Paula« verfilmt. Wie der Film überhaupt viele Episoden bestechend nahe wiedergibt, auch die Lebensfreude der Paula.
Ihr Lebensziel: Lieben und drei gute Bilder – erste Ahnungen, wie »Und mein Leben ist ein Fest,ein kurzes intensives Fest.«, das schreibt sie 1900, sieben Jahre vor dem Tod. Die manchmal jubelnd niederlegt: »Ich fühle, ich werde etwas!«, der Stolz auf ein gelungenes Portrait von Elsbeth, der Tochter aus Paul Modersohns erster Ehe.
Über die Einsamkeit in ihrer künstlerischen Auffassung, wo es Tagebuchaufzeichnungen voller Poesie gibt, die sie in Bilder, sogar in Lyrik gießt, das niemand versteht, warum ihr Bild des Mädchens mit Blumen »Du« heißt. Und immer wieder Paulas Eindrücke des Lebens, die so voll Kopf und Herz sind, dass sie einfach malem muss. Und ihr Urteil nach vielfachem Aufenthalt in Berlin, Paris: Die deutschen Künstler kleben zu sehr an der Vergangenheit und Konventionen.
Das wichtige, vom Ehemann Rilke immer mehr gestörte, bedrohte, letztlich zerstörte Verhältnis zur Künstlerfreundin (Bildhauerin) Clara Westhoff; idyllische Sommerabende nahe Paris, Paulas Beschwörung an Clara, sich ihm (Rilke) nicht zu sehr unterzuordnen.
Aber auch ein seltener Brief an ihren Bruder. »Du hast Ideen einer vergangenen Generation …«
Wir erfahren, was Paula liest (z.B. Maeterlinck) und sie beklagt nach einem Ballbesuch mit Clara: »Die Frauenemanzipation ist doch in diesem Rottenauftreten sehr unschön und unerfreulich.« – Ihre schwierigen finanziellen Verhältnisse, gestützt von Otto (briefl. Bitte aus Paris um 50 Mark für ein Kleid), Vater, reiche Tanten in GB und Norwegen (Poesie in ihren Reisebeschreibungen« sie fährt halt 4. Klasse mit der Bahn.
Diese Malerin, die zauberhaft über frische Eindrücke von Worpswede, ihre Maleridylle schreiben kann, diese Heimeligkeit und Freude, so dass sie jubelnd den Tagebucheintrag schließt. »Leben! Leben! Leben!« – was für ein Gefühl aus diesen Worten spricht.
Ungeheuer intensive Betrachtungen von Menschen, ihren Verhältnissen, Motiven (Stillende Mutter), die aber aus dieser Enge in die Großstädte Berlin, Paris (alle Dinge haben einen Haken, nur der Louvre nicht) immer wieder fliehen muss, auch wenn deren Gewimmel und Lärm sie nach einiger Zeit wahnsinnig macht, sie ist »keine Stadtpflanze«.
Aber Paris, die Museen, der Louvre, Besuche und Ausbildungen in Kunstakademien, andere Künstler (so Rodin), »das Ereignis Notre-Dame«, Menschen, champagnerhaftes Lebenselixier der empfindsamen Malerin. Die geistreichen, so lockeren Pariser im Gegensatz zu den schwermütigen Deutschen, ihrem »moralischen Katzenjammer.« Aber, die Franzosen … »Sie sind Champagner. Nur werden sie auch so leicht schal.« Und wieder Paris, um zu sehen, sich künstlerisch weiter zu entwickeln, im Louvre, welchen Künstlern sie näherkommt, wie bestimmte Bilder ihr etwas sagen. Und zurück Worpswede, die biblische Einfachheit der Menschen dort. Und noch einmal – 1906 zum letzten Mal – gleich 5 Monate in Paris, getrennt von Otto, wachsende Sehnsucht, Paris meine Sturm und Drangzeit. Dass Otto nach Paris kommt, wesentlich dem Einfluss des für Paula wichtig gewordenen Bernhard Hoetgers zu verdanken.
Heinrich Vogler, Vertrauter, der sie als Malerin stützte, »Er ist mit seinen Traumaugen reizend anzusehen«, seine Entwicklung, die Krise der Ehe mit Martha, die Trennung, ihre nahen Beobachtungen.
Oder die Annäherung an ihren späteren Mann Otto, » ein feiner Mensch«, Briefe, in denen sie sich als hoffnungslose Romantikerin zeigt, später »König Rotbart«, der in Liebe seine Männer- und künstlerischen Konventionen zu überwinden vermag, dessen Urteil sie aufbaut und Anteil am Werden der Künstlerin Paula trägt. Ihr Kompliment: Die 2 Jahre an Deiner Seite haben mich zur Frau gemacht! Sie denkt an Kinder und wünscht sich Otto nach Paris. Der selbst (im Buchanhang) resümiert, wie sie ihrer Zeit voraus war: Paulas Kunst wird von niemand verstanden.
Enorm wieviel dieses Buch enthält, über den Menschen, seine Eindrücke, sein Ziel verrät. Ich habe noch kein Buch gelesen -abgesehen von Kinderbüchern vielleicht – die so viel Lebensfreude, so viel Innerstes verraten, so viel vom Künstler selbst. Ich sehe seitdem viel mehr in Paulas Bildern und will noch viel mehr von ihr sehen. Kann ein Buch weiter reichen?
PS: Viel Freude aus einem für 5 Euro antiquarisch erworbenen Buch, noch in Fraktur gesetzt, mehr Freude als aus sehr, sehr vielen, vielleicht sogar den meisten Neuerscheinungen.
Unbedingt lesen!
2017 rezensiert, Frauenemanzipation, Kunst, Malerei, Paula Modersohn-Becker, Worpswede