Peter Neumann
» Jena 1800
Autor: | Peter Neumann (Deutschland, 2018) |
Titel: | Jena 1800 Die Republik der freien Geister |
Ausgabe: | Siedler, 2019, 4. Auflage |
Erstanden: | Buchhandlung Volk, Recke - Gelesen mit dem Literaturclub Hopsten |
Lesen kann man dieses Buch auf zweierlei Arten: Als kurzen Hinweis auf die kunsttheoretischen und philosophischen Gedanken ringsum Jena um 1800 – dazu benötigt es gediegenes Vorwissen, das Buch selbst erklärt wenig. Oder man freut sich über das Leben bekannter Geistesgrößen in dieser (Fast-) Aufbruchzeit zu lesen, über Diskurse zwischen Goethe/Schiller, den »Schokoladenluxus« des Dichterfürsten, das »Wechsel-das-Bäumchen-Spiel« der Caroline Schelling. Über Herder, Fichte, Schelling, Schlegel, eine Art »Denkerkommune« in Jena; sowie kurze Abrisse der im Buch behandelten Personen.
Meine Lesefreunde im Literaturkreis Hopsten haben Neumanns Buch in erster Linie so auch genossen und sich über manche Schilderung zeitgenössischer Abläufe gefreut.
Ebenfalls gelungen erscheint manche Darstellung der kulturellen und philosophischen Ereignisse der Zeit, Schlegels (und Tiecks!) Shakespeare-Übersetzungen (leider ohne Zitate). Goethes vielfältigem Wirken, was auch vermittelt, dass zu diesem Zeitpunkt Essentielles geschah. Mit »Goethes Botenfrau« taucht sogar ein Stück wirtschaftlicher Realität auf, der der Autor sonst weitestgehend aus dem Wege geht. Die historischen Brüche dieser Zeit werden viel zu selten deutlich gemacht, die Sprengkraft von Napoléons »Code Zivil« findet man nirgends!
Was den philosophischen Gehalt betrifft: Der Mini-Einführung in die »Kritik der reinen Vernunft« im Buch kann man noch folgen, auch andere Ansätze Kants (Mensch im ewigen produktiven Widerspruch zwischen Vereinzelung und Vergesellschaftung) gelingt. Was aber soll einem die Phantom-Debatte Schlegel vs. Fichte (S. 37/38) sagen? Wie verwirrend ist Schellings »Reflexion des eigenen Ichs« (S. 45)? Was halten von dem nicht übersetzten »Das zentrale Organ der Philosophie ist die Einbildungskraft« (S. 80/81)?
Auch Fichtes Universität als Schule des Handelns offenbart sich leicht, unwillkürlich kommt einem das im Foyer der Humboldt Universität verewigte Marx-Zitat in den Kopf, das war später, ohne Kant und Fichte jedoch nicht denkbar. Gut die produktiven Diskurse und Freundschaft zwischen Goethe und Schiller (z. B. S. 98 ff), eine permanente Revolution – stets aufs Neue wird verhandelt, wie sich Erfahrung und Idee zu einander verhalten. Das hier deutlich fehlende Stichwort der Kunsttheorie habe ich mir dann erst aus dem philosophischen Lexikon geholt.
Schade auch, dass Schlegels Spiel mit der Logik des Widerspruchs (S. 147/48) nicht erklärend ausgeführt wird. Und jegliche Erklärung fehlt, was das Besondere an Schlegels (oder Schellings? Neumann spricht wieder mal zusammenhanglos von »Fritz«) Diskurs zu Philosophie und Poesie sein soll. Schlegels Überwindung des »Gegensatzes zwischen Ich und Natur« durch die Kunst (S. 154) ist in dieser Verkürzung hoffnungslos unverständlich. Statt zu erzählen, dass Goethe »Schellings System des transzendentalen Idealismus« gelesen hat (S. 161), sollte er sie seinen Lesern erläutern. Statt Begriffe wie »Jakobinismus« oder »Die Sache mit Fichte« einfach einzustreuen, müsste er sie erläutern.
Spannend dagegen wenn Rousseau statt der »volonté des tous« die »volonté géneral« setzt, also der Staat, der den Gesamtwillen aller Menschen ausdrückt; aber eigentlich müsste hier die Debatte über den Unterschied beider Begriffe einsetzen (S. 172).
Den Umgang mit Kant’schen Erkenntnisbegriffen (S. 175/176) habe ich ebenso fragwürdig und nicht nachvollziehbar gelesen, wie das Stakkato der Aneinandereihung von Spinoza, Lessing und Mendellsohn (S. 178-180)- eine Nummer kleiner wäre verständlicher gewesen. Warum werden Hegel/Schelling, es kann nur eine Philosophie, nur eine Vernunft geben (S. 1959), nicht erklärt?
Wo es dem Autor doch bei Hegels »Das Nichts, das etwas ist« (S. 196), Schlegel zu Platon (S. 202) oder (S.203) und der Philosophie als Idealismus (S. 202/3, von welchem »Fritz« ist hier übrigens die Rede?) durchaus Verständlichkeit gelingt.
Neumann unternimmt den wagemutigen Versuch wesentliche Philosophien und Kunsttheorien zu Beginn des 19. Jahrhunderts mitsamt ihren Autoren darzustellen: Kant, Herder, Schlegel, Schelling, Goethe und Schiller. Dass dies zum kleineren Teil nur in Jena, sonst aber in Berlin und Weimar sich abspielte, sei dem Autor des griffigeren Titels wegen verziehen. Auch dass die romanähnlichen Passagen des Lebens/Zusammenlebens der Protagonisten literarisch unspektakulär, nicht für jeden spannend und eher auf- denn erzählend gelungen sind, kann man mit Nachsicht zu beurteilen. Vielleicht auch noch, dass er reichlich unsystematisch von Person zu Person und von Idee zu Idee springt und sogar die beiden »Fritz« (Schelling bzw. Schlegel) nicht konsequent unterscheidet, historische Zusammenhänge ihm offenbar fremd sind.
Dass er aber den entscheidenden Begriff der »Aufklärung« als Klammer des Zusammenhangs nicht einwirft, ist absolut unverständlich. Und dieses Prädikat gilt leider auch für die meisten Versuche philosophische Ideen, Theorien und Autoren in Kurzform darzustellen, meistens bleibt Neumann in Begriffen, Kurzzitaten stecken, statt Ideen zu erklären, zu erläutern, nahezubringen. Dem Autor dieser Zeilen ist es jedenfalls trotz Vorbildung (Arbeiten über die philosophische Probleme der Mathematik) in der Regel nicht gelungen Neumanns Darstellungen Kantscher, Schlegelscher oder von Goethes Darstellungen zu folgen. Das alles hätte klappen können, wenn dem Buch ein 20-30 seitiges erläuterndes Kompendium der im Text benannten Philosophien vor- oder nachgeschaltet worden wäre. Dass genau das fehlt, ist das entscheidende Manko des Buchs.
Den Aufklärungsbegriff, der alle im Buch benannten Geistesgrößen eint, musste ich erst dem 1972 in Berlin (DDR) erschienenen philosophischen Wörterbuch von Georg Klaus/Manfred Buhr entnehmen, erst das gab mir Einsicht in einige Kernaussagen des Buchs.
Und damit muss man diesem Ansatz, wesentliche Elemente der Philosophie der Neuzeit für Laien darzustellen, als leider gescheitert bezeichnen, was einem Philosophieprofessor eigentlich nicht geschehen sollte.
Es war ein interessanter Versuch, die Geistesgrößen jener Zeit, die Philosophie und die Dichter der Aufklärung (den Begriff verwendet er leider nicht) darzustellen. Das gelingt dem Autor aber nur unvollkommen, insbesondere in komprimierten Darstellungen philosophischer Ansätze scheitert er weitgehend, von Ausnahmen abgesehen.
Und wo bleibt der aufklärerische Impuls der französischen Revolution? Der Code Napoléon? Wo wird erklärt, was Goethe und Schiller mit der Aufklärung zu tun haben?
Nun immerhin hat das Buch es geschafft, dass sich ein paar Lesefreunde mit der Philosphie, mit Kunsttheorie, mit Gedanken der Aufklärung zu Beginn des 19. Jahrhunderts auseinander gesetzt haben, ob sie’s – nach diesem Buch – wieder tun, da bin ich leider skeptisch.
Interessanter Ansatz, nicht wirklich gelungen
2019 rezensiert, Geschichte, Jena, Peter Neumann, Philosophie, Siedler