
Michail Prischwin
» Der irdische Kelch
Autor: | Michail Prischwin (Russland, 1922) |
Titel: | Der irdische Kelch |
Ausgabe: | Guggolz, 2015, 2. Auflage 2018 |
Erstanden: | Auf Tipp des Verlages direkt dort |
Der Mai sah zwei Bücher des Berliner Guggolz Verlags, der sich verdienstvoll zur Aufgabe gemacht hat, hochspannende Nischen auch vergangener Literatur neu herauszubringen. Das ist ihm mit Michail Prischwins aberwitzigem Rapport der ersten Jahre des bolschewistischen Umsturzes in Russland derart gelungen, dass dies einen neuen Blick auf die Oktoberrevolution eröffnet. Es ist eine fantastische Geschichte aus dem Revolutionsjahr 1919, die den Wahnsinn des Umbruchs der Jahre 1919-23 kondensiert. Prischwin kreirt ironisch-sarkastische unglaubliche Bilder, tw. Bulgakow ähnelnd, aber verschlüsselter, dabei tief verwoben mit der Geschichte und dem Leben Russlands. Das ist eine packende Bildsprache, nur in kleinen Dosen genießbar: »… die Barmherzigkeit der Tautropfen …«, »… einem weißen Pelz gleich ließ sich der Schnee über Nacht nieder …« – superfeine Naturbeschreibungen.
Es ist die Geschichte eines alten Schlosses, das von der Revolution zum Kinderheim gemacht wird, 4 Räume aber werden zum Museum gemacht mit einem leicht verschrobenen Museumswärter (was autobiografisch ist); der einem jungen Mädchen »chranzosisch« beibringt und sich weigert, einen Koffer (Staatsbesitz!) zu verkaufen. Die nun auftauchenden Kommissare ähneln eher alten »Hoheiten«, aber nach dem 7. Schnaps sind ohnehin alle Freunde. Merkbar die aufkommende Bürokratie, mit der Posse, dass der Museumsleiter kein Sauerkraut bekommt, dass der ehemalige Diakon – in neuer Aufgabe – verteilt.
Die Kulturlosigkeit der Umverteilung, das Kinderheim wirtschaftet das Schloss herunter. Dagegen der Aufbruch der Alphabetisierung eines ganzen Volkes, auf Seiten der Schüler gilt: S. 40: »Wie Sterne brennen die Augen in Erwartung des Wortes.«
Unwahrscheinlich, wie Prischwin den totalen Umsturz der Bolschewiki, den Glauben in und die Vertröstung auf die Zukunft in Wortbilder kleidet. Die tiefen Zweifel im Volk, bringt der Bolschewismus wirklich etwas Neues, oder wiederholt er nur die Geschichte? Kommunismus heißt Krieg gegen den Hunger – aber warum ist der Hunger größer geworden?
Die vielleicht beste Kritik des Buchs kam von Leo Trotzki, ».. große künstlerische Qualität..Text durch und durch konterrevolutionär..«. Und Konstantin Paustowski urteilte: »Prischkin ist Sänger der Natur, aber auch sozialkritisches gelungen.« – Zwei Nachworte (die mit den Anmerkungen fast 20% des Buchs ausmachen), mit Einordnungen von Autor und Werk helfen manche verschlüsselte Metapher des Buchs, diese wahrlich nicht immer flüssige Lektüre, nachträglich zu entschlüsseln. Darunter, dass dies eine Zusammenfassung von 4 Jahren Kriegskommunismus und die Geschichte des ganzen russischen Landes im Brennglas einer winzigen dörflichen Gemeinschaft konzentriert. Was der Autor aus den 1000 Seiten seines Tagebuchs von 1918-22 (vieles dem Volk abgelauscht) in dieses Buch verdichtet hat, in der die anarchische Regellosigkeit und der »Extremismus der Freiheit« 1918/19 herrscht.