Erik Fosnes Hansen
» Ein Hummerleben
Autor: | Erik Fosnes Hansen (Norwegen 2016) |
Titel: | Ein Hummerleben |
Ausgabe: | Kiepenheuer & Witsch 2019 |
Übersetzung: | Hinrich Schmidt-Henkels |
Erstanden: | Im Pankebuch, Berlin |
Eine zu Beginn herrlich altväterlich wirkende Geschichte über die Wirtsfamilie eines aus der Neuzeit gefallenen Hotels, mitten in einer norwegischen Bergwelt. Geführt von den Großeltern, die Oma ihren »Wiener Schmäh« ebenso wie ihre Original-Mehlspeisen einbringend. Erzähler ist der jugendliche, manchmal arg zu unbeteiligt wirkende Sedd, dessen Name, dunkle Hautfarbe und das Rätsel seiner Eltern für einen romanlangen Spannungsbogen sorgen.
Geschickt bindet Hansen eine intensive Mund-zu-Mund-Beatmung, eine tätschelnde Bankdirektorenwitwe, örtlichen Standesdünkel, einem Duz-freundlichen exotischen Koch, Schulfreunde, die Plagen des entlegenen Orts, die Entdeckung von kartonweise ungeöffneter Hotelpost, das Auftauchen eines weiblichen Gegenparts zum pubertierenden Erzähler mit dem Hauptmotiv, des Abstieges des alt- und großväterlichen Hotels, nur stückweise entdeckt, zu einer einfach dauerhaft fesselnden und immer wieder schmunzelnden Erzählung zusammen, Chapeau!
Wie dabei puzzleweise Erinnerungsfetzen an die exotische Geschichte von Sedds-Eltern, seiner Entstehung geradezu hinein schweben, wo mindestens fünf Geschichten parallel erzählt werden, die der Eltern, der Großeltern, der Karoline, des verzweifelt die Neuzeit suchenden Hotels und des mehrfach wachsenden Erzählers, äußerst gelungen. Auch die kleinen norwegischen Einsprengsel, »der pure weiße, weiche Geschmack« des Soft-Ice, die Geschichte vom Ingenieur Tandberg (hier als extreme HiFi-Firma bekannt), der Bombenanschlag in Oslo, der Teil über »Lillelord« (Johan Borgen), eine Rezeptionistin, die Synnøve heißt (»Synnøve Solbakken« ist eine der schönsten Erzählungen des norwegischen Nationaldichters Bjørnsterne Bjørnson), der Streik beim Vinmonopolet, die Welt der großen Hotels und Restaurants schmücken die im Kopf des Lesers entstehenden Welten. Das gilt auch für den erzählenden Sedd, den die Zeit zwischen Abend und Nacht, der Abendstern, in die Ruhe versetzt, seiner weitgehend unbekannten Mutter zu gedenken. Und bemerkt: »Erinnerungen verhalten sich wie Schneehühner. Auf einmal flattert eine auf…«
Einfälle hat Hansen: So eine leicht surreale, permanent klauende Bankdirektorentochter. Genial die vandalisierende jährliche Fete ausgerechnet der norwegischen Bestatter-Vereinigung, die einer Abrissbirnen-Party gleicht. Was letztlich zum abschließenden Crescendo des untergehenden Hotel-Fossils führt, Hoffnung auf Neubeginn nicht ausgeschlossen. Hansen ist ein wirklich guter Erzähler, der eine dichte Atmosphäre trotz Schwächen des Plots schafft, viele Geschichten, einfach hübsche Dinge sehr leichtfüßig vereint, man liest es ungewöhnlich gerne. Es ist ein Buch (gut übersetzt!) mit einer Geschichte, in die man sich förmlich »hineinkuschelt«, in deren Phantasiewelt man sich komplett verträumt, wunderbar.
Hohes Lesevergnügen
2022 rezensiert, Erik Fosnes Hansen, Kiepenheuer & Witsch, Norwegen