
Sarah Wagenknecht
» Die Selbstgerechten
Autor: | Sarah Wagenknecht (Deutschland, 2021) |
Titel: | Die Selbstgerechten |
Ausgabe: | Campus Verlag 2021 |
Erstanden: | Buchhandlung Thaer, Berlin-Friedenau |
Einführung
Dazu muss ich – auch in meinem Literaturblog »altmodisch:lesen« – zunächst ein Geständnis machen, vieles von Debatten und Internet-Diskussionen, auf die sie hier eingeht, sind an mir in Teilen vorbei gegangen. Einfach weil ich Fatzbuch-Zwitscher-Instagram gar nicht nutze und auch nicht die Absicht habe, es zu tun. Das macht es dann aber schwer, einiges aus ihrem Buch zu verstehen. Wesentlich geholfen hat mir dabei das Buch »Kampf der Identitäten« von Feddersen/Geßler »Kampf der Identitäten«, man müsste es im Grunde gleich danach rezensieren – ich werd’s versuchen.
Also nach der Lektüre der »Identitäten« habe ich Sarah Wagenknecht viel besser verstanden, der Einblick in manche Diskussionen hat mir vorher einfach gefehlt. Sarahs Buch stellt im ersten Teil wesentliche Irrtümer einer wie immer gearteten »linken» Szene vom Kopf auf die Füße und versucht im 2. Teil ein Programm zu entwickeln. Beginnen wir mit der Frage (ab S. 11), woher die Feindseligkeit in unserer Gesellschaft kommt, die uns bei jedem großen und wichtigen Thema spaltet. Eine Antwort lautet ebenda: Die sozialen Medien sind auf Aggression und Niedertracht programmiert.
Ist das wirklich so einfach zu beantworten, ich nutze keine (a-)sozialen Medien, halte aber z. B. Twitter mit seinen zwangsweise kurzen Äußerungen von vornherein für asozial und einem echten Diskurs entgegengesetzt. Verfolgt man aber die Diskussionen der letzten Jahre, über das, was in diesen Medien passiert, muss man ihr absolut Recht geben.
Weiter heißt es bei Sarah: Viele sozialdemokratische und linke Parteien hätten:
- die Gesellschaft mit gespalten
- den Aufstieg der Rechten politisch und kulturell unterstützt
- Werte und Lebensweise ihrer einstigen Wählerschaft verächtlich gemacht
Das unterschreibe ich sofort für den größten Teil der deutsche SPD und die britische New Labor (Keir Starmer), eine Ausführung welche anderen Parteien damit gemeint sind, wäre hilfreich. Dass die Grünen in Deutschland damit einbezogen sind, dürfte allerdings spätestens nach deren Wandel 2022 zur Kriegs- und Rüstungspartei überdeutlich geworden sein.
Sarah führt nun auf S. 12 den Begriff »Linksliberalismus« ein, was mir hier aber zu knapp definiert erscheint. Auch birgt der Begriff die Gefahr, (wirklich) Linke mit dem Begriff zu diffamieren. Ein eher unglücklicher Begriff also, sonst würde ich nicht widersprechen.
Die Basis des »Linksliberalismus«, so sagt sie, ist eine gut situierte akademische Mittelschicht in Großstädten. Im Kapitel »Illiberalismus und Intoleranz« beschreibt sie eine Intoleranz des Linksliberalismus, die dazu führe, dass Gegner von Zuwanderung mit Nazis und Kritiker an CO2-Steuern mit Klimawandelleugnern in einen Topf geworfen werden. Und dass es so zu einer selbstgerechten Debattenführung kommt.
Das führt sie in der Folge (S. 13-17) einiges aus; allerdings sehe ich bis hier noch keine wirklich saubere Definition von »Linksliberalismus«, sondern mehr aufgeführte Schlagworte. Ähnlich, wenn’s um Lifestyle Linke geht, statt einer klaren Begriffsbasisis, basierend auf dem Zusammenhang von »Sein und Bewusstsein«, erscheint im Buch doch vieles noch zu sehr zusammengewürfelt, denn klar definiert. Dem sollte man in einer verbesserten Neu-Auflage abhelfen können. Ihre Einführung des Begriffs »Lifestyle Linke« erfolgt ab Seite 25, es seien also Menschen, die den Linksliberalismus vertreten, deren Weltanschauung er ist. Der Kern sei:
- ein bestimmter Lebensstil
- Konsumgewohnheiten
- die Vergabe von moralischen Haltungsnoten
Als weitere Schlagworte fügt sie hinzu: Gendersternchen, Fernreisen, Bio Konsum. Die Lifestyle-Linken würden ihre Weltsicht und Lebensweise zum Inbegriff von Progressivität erklären, und auf die herabsehen, die sich ihren Lebensstil nicht leisten können (wie Prolls und Covidioten).
Daraus seien Dinge wie »Cancel culture« abgeleitet, die unliebsame Intellektuelle mundtot macht, sie sozial vernichtet. Maler würden aus Ausstellungen geworfen, Schriftsteller verlören ihren Verlag, es würden Menschen von Festivals ausgeladen und der Twitter-Inquisition ausgesetzt, oder Leiter der Essener Tafel mit Etiketten wie »Fuck Nazis« bedacht.
Diesen Einschätzungen, die Vorgänge, ihre Verwerflichkeit, alldem kann ich weitgehend zustimmen.
Kritisch finde ich nur manche der Beispiele, die sie dazu anführt. Denn dass eine Monika Maron den Verlag wechseln muss, hat sie ihrer höchst eigenen Schreibe zu verdanken und der Tafelmensch in Essen hat jüngere Migranten diskriminiert – da gibt es deutlich bessere Beispiele für »cancel culture«.
Ja, aber
Unter dieser Überschrift möchte ich einiges erfassen, wo ich Sarahs Aussagen wichtig finde, sie aber in Teilen ergänze, kritisiere oder sogar falsch finde. Sie meint, FfF (= Friday for Future) würden gegen die Anwohner in der Lausitz stehen, denn die würden als »Kohle-Nazis« diffamiert, und wenn 60-70 % gegen Einwanderung seien, würden sie auch als Nazis diffamiert. Ist das so und wird dabei das Wirken von AfD und Pegida nicht negiert?
Dabei schreibt sie FfF ziemlich herunter, dabei sind das für mich Hoffnungsträger der Umweltbewegung. Ihre Analyse, dass dies eine Bewegung der Bessergestellten sei, mag stimmen, aber bei ihr klingt das eher wie eine Diffamierung. Vielleicht muss man heute besser gestellt sein, um politisch aktiv werden zu können?
Ein sehr heikler Punkt ist der Vorwurf an die Klimabewegung, dass sie z. B. die Sorge um Arbeitsplätze vernachlässige, genau dieser Ton schwang auch in den Stellungnahmen von Klaus Ernst, ihres Parteikollegen, zu seiner Wahl als Vorsitzender des Umweltausschusses des Bundestages mit. Aber:
- Sollte man 16-jährigen Schülern dies nicht als Vorwurf machen, sondern sie auf diesen Aspekt freundlich, aber bestimmt hinweisen – oder?
- Muss man sehr aufpassen, dass man nicht auf die rechtskonservative Masche hereinfällt, einen grundlegenden Gegensatz zwischen Klimabwegung und Arbeitsplätzen herbei zu reden.
- Im deutschen Bergbau existieren gesamt noch 23.000 Arbeitsplätze, denen eine hundertmal höhere Aufmerksamkeit zu teil wird, als den vor 10 bis 15 Jahren verlorenen 50.00 bis 70.000 Arbeitsplätze in der Solarindustrie.
- Fehlt der Hinweis, dass dieser scheinbare Gegensatz Arbeit vs. Klima nur im Kapitalismus existiert.
Was nichts daran ändert, dass die klimafreundliche Konversion der Wirtschaft sozial verträglich ablaufen muss – etwas wo die Linke einen großen Vorteil gegenüber den Grünen haben könnte, nutzt sie ihn bisher in ausreichendem Maße?
Gesellschaftsspaltung

Völlig treffend finde ich die Einschätzung, dass 4 Jahrzehnte Wirtschaftsliberalismus die Gesellschaft gespalten haben, man wohnt nicht mehr miteinander, man lebt separiert, begegnet Armen nur als Dienstleistern (s.a. S. 80). Das habe ich genauso am eigenen Leib erlebt, z. B. bei der Gentrifizierung des Berlin-Friedenauer Kiezes. In dem ich lange und gerne gelebt habe. Den ich mir aber heute – trotz Zugehörigkeit zur Mittelschicht – nicht mehr leisten könnte.
Ja, wir leben heute in der Filterblase des eigenen Milieus, ja statt Zukunftsoptmismus (50/60ér) ist Angst vor der Zukunft getreten. Im Abschnitt »Die Gewinner blicken anders auf das Spiel« (S. 14/15) wird deutlich »Es sind vor allem die sog. einfachen Leute, die der regellose globalisierte Kapitalismus zu Verlierern gemacht hat«. Auch die beiden Folgesätze unterschreibe ich voll.
Und ich würde ergänzen, dass (in der Mittelschicht) die Angst vor dem sozialen Abstieg Agression erzeugt:
- Angst vor und Aggression gegen Zuwanderer
- Angst vor und Aggression gegen Corona-Maßnahmen
- Angst vor dem Klimawandel und Aggression gegenüber Mahnern
Der Einschätzung zu SPD, AfD und Grünen (S. 17 unten) stimme ich ebenso zu, wo dort Fehler der Linkspartei auszumachen sind, bleibt für mich die Frage. Ist es allein die Unfähigkeit gegenüber rechten Parolen mit begrifflich einfachen Narrativen zum Neoliberalismus und seinen Folgen zu bestehen?
Zumindestens schwierig finde ich den arg verkürzten Hinweis (S. 37), dass eine absolut freie Einwanderung nach Deutschland das Land unbewohnbar machen würde, da muss sie sich nicht wundern, wenn ihr AfD-Nähe vorgeworfen wird (vgl. dazu den Hinweis auf das Buch von Katja Kipping weiter hinten in dieser Rezension). Erst später erklärt sich dieser Punkt aus dem Zusammenhang, wie Geringverdiener, Schlecht-Qualifizierten und Altersarmen die Schattenseite einer ungehemmten Migration ausbaden müssen – und nicht die gut verdienenden Lifestyler.
Ihrer Aussage, dass (Industrie-)Arbeiter nicht mehr die Linke wählen, stimme ich zu, aber sie hätte an dieser Stelle erwähnen sollen, dass die Zahl der klassischen Arbeiter erheblich geschrumpft ist; erst später weist sie darauf hin.
In anderen Beispielen für ihre Thesen vergaloppiert Sarah sich mitunter, so wenn sie die dänischen Sozialdemokraten für ihren Wahlsieg lobt (S.48), der in nichts anderem als der weitgehenden Übernahme von Positionen zur Migrationsabwehr von der rechtspopulistischen DF (= Dansk Folkepartiet) bestanden hat. Es gibt weitere Beispiele dieser Art, die bei mir nur für Kopfschütteln gesorgt haben.
Ansonsten würde ich den Seiten zu dem Zusammenhang zwischen brutalen wirtschaftlichem Neoliberalismus und Pseudokritik von »Lifestyle Linken« (z. B. Frau Esken) weitgehend folgen.
Kurswechsel?
Ab S. 42 meint sie, dass die Linkspartei nicht mehr ihre klassische Klientel vertritt, sondern mit einem Kurswechsel vielmehr auf »Lifestyle Linke« setze. Ich fürchte, dass dies für nicht unerhebliche Teile dieser Partei zutrifft. So z.B. bei der der Linkspartei nahestehenden Zeitung »ND«, Teile der Zeitung sind zu den Lifestyle Linken geschwenkt. Ein klarer Sieg der Gender und Identitäts-Fraktion, besonders in der Wochenend-Ausgabe. In Bezug auf die Politik des Westens gegenüber Rußland und China sind immer mehr ND-Texte eher Mainstream, denn »irgendwo links«.
Ein Beispiel: Im ND vom 14.1.22 fragt die Politik Redakteurin Jana Frielinghaus den Bundes-Präsidentschaftskandidaten der Linken, Gerhard Trabert, »Auch in der Linken gibt es prominente Genossen, die sagen, Geflüchtete sorgten für mehr Konkurrenz auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt, und das Engagement für Geflüchtete sei meist ein Hobby Wohlhabender, die von dieser Konkurrenz nicht betroffen sind.« Ein typisches Beispiel für das Missverstehen von Sarahs Position und das in einer linken Zeitung, die es seit mehr als 15 Monaten nicht geschafft hat, eine anständige Rezension von Sarahs Buch abzudrucken!
Ich sehe aber bei Links-Partei, aber auch der ND-Zeitung keinen abrupten Kurswechsel, sondern eine allmähliche Assimilation und Übernahme von Positionen, Sprache und Diktion von Bewegungen außerhalb der Partei. Das ist nicht nur schlecht, aber dann wenn der eigene Charakter im Lifestyle Mainstream verloren geht, dann muss man sich über Wählerschwund nicht wundern.
Große Erzählungen
Zu ganz großer Form läuft die Autorin ab diesem Kapitel (ab S.51) auf, wo sie nach materialistischer Geschichtsbetrachtung zu dem Schluss kommt: »Jede Ordnung braucht daher große Erzählungen, die die gerade praktizierte Verteilung rechtfertigen … Manchmal gelingt es, eine Gegenerzählung dagegen zu setzen.«
So ist es in den USA die Tellerwäscher-Erzählung, hierzulande sind es die Märchen von der sozialen Marktwirtschaft, dem Wirtschaftsaufschwung durch die Agenda 2010. Sehr gut der Hinweis auf die Vererbung wirtschaftlicher Macht (S. 54/55). Folgerichtig (S. 55): Große Erzählungen prägen Milieus und werden in Milieus weitergegeben.
Es folgen sehr gute Erläuterungen zur aktuellen »großen Erzählung« in der BRD (S. 63/64).
Mein Eindruck dazu: Wer sich im Wesentlichen aus den Mainstream-Medien informiert, ist so in dieser Erzählung gefangen, dass er dem widersprechende Argumente und Meinungen als unglaubwürdig zurückweist oder gar nicht zu Kenntnis nimmt; eine wesentliche Erfahrung auch aus meinem Freundes- und Bekanntenkreis.
Ein wichtiger Satz dazu (S. 64 unten) zum Erleben der bundesdeutschen Marktwirtschaft in den fünfziger und sechziger Jahren: »Hintergrund dessen war, dass der Staat dem Gewinnstreben Regeln und Aufsicht auferlegt hatte, …«. Ganz im Gegensatz zu heute!
Bei dieser und anderer Gelegenheit wird ihr dann gerne eine »Marktwirtschafts-Nostalgie« vorgeworfen. Unsinn, sie weist lediglich daraufhin, das selbst Kapitalismus auch anders geht!
Auch dem Abschnitt »Sicherheit durch Normalität« stimme ich zu.
Die Veränderung der Arbeitswelt durch den Aufstieg der Dienstleistungsunternehmen, vor allem aber durch die Globalisierung ist ganz wesentlich, S. 67: »Eine zentrale Rolle bei der Deindustrialisierung der westlichen Welt spielt die Globalisierung also die Internationalisierung der Wertschöpfungsketten.« Und weiter: »Auf diesem Wege wurde die teure Arbeitskraft der westlichen Industriearbeiter durch rechtlose Billigarbeitskräfte ersetzt.«
Und das lange vor Hartz IV möchte man hinzufügen.
Später (S. 68f) führt sie dann aus, welchen Anteil willfährige Politiker an der Durchsetzung, Ausführung und Flankierung der Globalisierung haben. Die Folgen (S. 68):?»Sie hob nicht den allgemeinen Wohlstand, sondern machte einige reicher und viele ärmer.« Obwohl ich diese Globalisierungsfolgen selber laufend wahrnehme, habe ich diese systematischen Zusammenhänge erst durch Sarahs Buch begriffen, Chapeau! Ebenso hilfreich entlarvende Formulierungen wie »..Kapitaleinkommen sind leistungslose Einkommen« (S. 69 oben).
Genauso wichtig die wirtschaftsliberale Reformagenda mit (unter anderem):
- Arbeitsmarktreformen
- Leiharbeit
- Werkverträgen
- Minijobs
- Outsourcing
Und mit all dem sind 1/4 bis 1/5 der Industriearbeitsplätze verloren gegangen. Ihr Fazit daher (S. 71): Der Wandel von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft wurde durch drei Prozesse vorangetrieben:
- Automatisierung
- Globalisierte Wertschöpfung
- Outsourcing
In Großbritannien, so Wagenknecht, geschah die De-Industrialisierung durch den BigBang der Finanzwirtschaft. Die mehr Gewinn als die Industrie mit ihren regel- und zügellosen Finanzmärkten erwirtschaftet. Gleichzeitig wurden die Gewerkschaften gebrochen. Bei den damit entstandenen Billigjobs gibt es keine Hoffnung mehr auf sozialen Aufstieg, S. 74: »… man braucht seine gesamte Kraft dafür, Monat für Monat sein soziales Überleben zu organisieren.«
Damit werden bisher vorhandene soziale Normen zerstört, es entsteht eine Einstellung, den anderen hereinzulegen – genau wie es mit den Billigjobbern geschieht.
Werbestrategien

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Vortrefflich, wie sie (ab S. 82) erläutert, dass weniger Ingenieure oder neue Techniken denn Marketing-Strategen und PR-Fachleute eingesetzt werden, um den Konsum am Laufen zu halten. Und dass diese Menschen die »von Zufall und Glück statt Entgelttarif« leben – entsprechend schwer zur Gegenwehr zu organisieren sind.
Wunderbar die Formulierung der »Bullshit-Jobs« für Besserverdienende, z. B. »Unternehmensberater«, etlichen dieser Bullshitter bin ich in meinem eigenen beruflichen Leben begegnet.
Man könnte im Grunde alle ihre Zwischenüberschriften ab S. 84 bis S. 92 zitieren, mit denen sie zum treffenden Fazit kommt: »Die Wiederherstellung des Bildungsprivilegs«.
Vortrefflich S. 88 »Das neue Bildungsprivileg besteht darin, dass in den gut bezahlten … Dienstleistungsberufen Fähigkeiten und Qualifikationen verlangt werden, die man auf dem staatlichen Bildungsweg schlicht nicht erwerben kann.«
Dazu gehören Sprachkenntnisse durch teure Auflandsaufenthalte, der Nachweis langer Praktika (Kontakte), Privatschulen für Zahlungskräftige, segregiertes Wohnen.
Auf den Folgeseiten stellt sie Kernelemente der neoliberalen Erzählung zusammen; nach Thatcher gibt es ja keine (solidarische) Gesellschaft, jeder verantwortet seinen Erfolg selbst, Flexibilität und Mobilität sind gefordert.
Das ist nicht nur gut dargestellt, ihre Art das in Zusammenhang wiederzugeben, ist das Bestechende an ihrem Buch insgesamt.
Vom Neoliberalismus zum Linksliberalismus
Dass die Wortführer der 68er »wohlhabende Bürgerkinder« waren, reicht mir als Charakterisierung nicht, es trifft nur einen Teil, eben nicht das Ganze. Die 68er haben sehr wohl bis in die Arbeiterbewegung hinein gereicht und waren dort nicht ohne Einfluss. Dass die Grünen die Partei der akademischen Mittelschicht sind, keine Frage, es erklärt für mich aber nicht den ganzen Wahlerfolg der Partei. Sehr viel mehr dazu findet man aber im »Identitätsbuch« von Feddersen/Geßler.
Mein persönlicher Eindruck von Grünen und Grünen-Wählern ist, dass es Menschen sind, die für Veränderungen in einem gewissen Ausmaß und Rahmen sind. Die (wirtschaftlichen) Besitzverhältnisse im Lande sollen dabei aber auf keinen Fall in Frage gestellt werden. Diese Menschen können gar nicht damit leben in einer Grundsatzopposition zu weiten Teilen der veröffentlichen Meinungen leben, das würden sie innerlich gar nicht aushalten.
Der Erklärung (S. 96/97) dass mit dem Einfluss der (Alt-)68er die Linke die Seiten gewechselt hat, stehe ich skeptisch gegenüber, rein gefühlsmässig fehlen mir hier erklärende Zwischenglieder, auch in der Logik.
Der Aussage, dass der Linksliberalismus den Neoliberalismus abgelöst hat, würde ich zustimmen, auch wenn mir wieder Details dazu zu fehlen scheinen, z. B. wie geschah diese Ablösung, warum hatte sie Erfolg?
Und: Stimmt es denn überhaupt, dass die Grünen links sind?
Dahinter steht doch ein Wandel von 40 Jahren, von einer einstigen Oppositionsgruppe zur staats- und besitzerhaltenden modernen Kapitalfraktion. Müsste man zu diesem Wandel nicht auch ein paar Worte sagen, was der Ukraine-Krieg später so deutlich gemacht hat? Und zu den unterschiedlichen Flügeln der Grünen, sowie zwischen Lokal-, Landes- und Bundespolitik unterscheiden?
Identitätspolitik / Sprachüberhöhung
Wieder ein sehr erhellender Abschnitt im Buch, in dem die Autorin die akademischen Urprünge der »Sprachpolizei« (Focault, Derida) aufdeckt und geschickt mit einem literarischen Hinweis bzw. Beleg verknüpft (P. Roth »The human stain, Der menschliche Makel«, S. 100): »… dass die Hypersensibilität in Fragen von Sprache und Symbolik von Anfang an ein Elitenprojekt war.«
Und wie sie den Begriff »Mikroaggression« einführt, mit Beispielen belegt und dass man sich kaum dagegen wehren kann. »Für Uneingeweihte: Mikroaggressionen sind Worte durch die sich jemand, der einer als Opfergruppe qualifizierten Minderheit angehört, durch einen Sprecher, der nicht zu dieser Minderheit gehört, verletzt fühlt.« (S. 101).
Das sind nun keineswegs sozial oder wirtschaftlich Unterprivilegierte oder Diskriminierte, sondern es »… wird vielmehr von äußerst privilegierten Personen aufgrund ihrer Hautfarbe, Ethnie oder sexuellen Orientierung in Anspruch genommen.«
Ich füge hinzu, dass solche Pseudodebatten um eine korrekte Sprache lediglich dazu dienen, reale Konflikte zu überdecken oder von ihnen abzulenken.
Dahinter steht die »Identitätspolitik« mit »Augenmerk auf immer kleinere und immer skurrilere Minderheiten zu richten.« Und um dort Opfer zu sein, muss es sich »um individuelle Merkmale handeln, nicht um solche, die mit soziökonomischen Strukturen zusammenhängen.«
Und aus diesem Denken entsteht die »Gendertheorie« in der »sogar das Geschlecht als gewalthafte Zuweisung der heteronormalen Gesellschaft dekonstruiert und die Behauptung, es gäbe biologische Unterschiede zwischen Mann und Frau zu einem Akt diskursiver Machtausübung erklärt wurde.«

Sarah spricht mir mit dieser Kritik aus dem Herzen, zumal Identitätspolitik und Gendern auch in originär linken Kreisen und Medien (TAZ, ND) beherrschend geworden sind. Aber das verstehe ich als »alter weißer Mann« natürlich nicht, so soll es ja auch sein, dass keine Diskussion zwischen den Gruppierungen möglich ist, womit wir beim postfaktischen angekommen wären. — Hervorragend Sarah!
Die hohe Qualität ihrer Aussagen hat Feddersen/Gessler wohl dazu bewogen, S. Wagenknecht ausführlich zu zitieren (ebd. S. 37/38). Diese Identitätspolitik ist nun ein Kern des Linksliberalismus, aber wir »reden nicht über das Ringen um Gleichheit, sondern über die Forderung nach Privilegierung von Minderheiten.«
Statt generell für Gleichheit aufzutreten (wie es die Linke traditionell tut), werden Unterschiede zu bombastischen Trennlinien aufgebläht, die »weder durch Verständigung noch durch Empathie überbrückt werden können.«; (S. 105/106).
Quoten und Diversity huldigen der Ungleichheit und tragen den Anspruch der Gleichheit zu Grabe. Statt die rechtliche Gleichheit nur als Stufe vor der soziale/wirtschaftlichen Gleichheit zu sehen, wird genau davon abgelenkt. S. 106, die Identitätspolitik »lenkt die Aufmerksamkeit weg von gesellschaftlichen Strukturen und Besitzverhältnissen und richtet sie auf individuelle Eigenschaften wie Ethnie Hautfarbe oder sexuelle Orientierung. So werden soziale Gruppen gespalten…«
Welch alberne Früchte die Identitätspolitik trägt, konnte man am Kommentar von Simon Poelchau im ND am 17. Januar 2022 lesen, der den Bundespräsidentenkandidaten der Linken kritisierte, weil er kein »Hartz-IV-Bezieher, ein Geflüchteter oder eine Trans-Person« sei. Das ist dann auch ein wesentlicher Unterschied zur anderen linken Tagesszeitung aus Berlin, der »Junge Welt« – dort findet man derartigen Unsinn nicht. Sarah weiter: Spaltung in kleine und kleinste Gruppen, statt gemeinsam gegen Ausbeutung zu stehen. Und Menschen über ihre Hautfarbe oder Abstammung zu definieren, ist nur umgekehrter Rassismus. Und auf S.109 (ganz unten) bei Sarah: »An den nicht mehr vorhandenen Aufstiegschancen des ärmeren Teils der Bevölkerung ändert das Quoten- und Diversity Theater jedenfalls nichts. Und die Debatte verdeckt, dass die untere Hälfte der Bevölkerung aus dem Parlament verschwunden ist.«
Sie weist darauf hin, wie man keine Solidarität schafft:?Was hat der schwule LKW-Fahrer mit Ex-Minister Spahn gemein? Und super, ihr Nachweis, wie rechte Strategen (Steve Bannon, S. 115) auf die Spaltung der Bevölkerung setzt, z.B, durch Black lives matter, die die weiße amerikanische Bevölkerung unter Kollektivschuld-Verdacht stellt. Diese Spaltung macht die Rechte stark, auch in Europa.
Natürlich hat sie Recht, wenn sie schreibt (S. 118), »in den französischen Banlieus sei ein Paralleluniversum entstanden« [was auch für Teile Neuköllns gilt]. Nur ohne nähere Einordnung solche Klassifizierung bedient man dann nicht doch die Sarrazins-Buschkowskys-Giffeys dieser Welt?
Auf S. 123 drückt Sarah es so aus: »Die Kultivíerung der Unterschiede…zerstört das Zusammengehörigkeitsgefühl der Gesellschaft.« ; klare Abgrenzung zur Identitätspolitik!
Rückzug des Staats
Mit dem Neoliberalismus Thatchers (Es gibt keine Gesellschaft, es gibt nur Individuen) begann der Rückzug des Staats von vielen Aufgaben. S. 124 : »Im Rahmen dieser Erzählung war es nur konsequent, dass der Staat sich aus vielen Aufgaben zurück gezogen hat: Wo es kein Gemeinwesen gibt, gibt es auch kein Gemeinwohl, im Sinne dessen die öffentlichen Aktivitäten, etwa im Wohnungsbau, der Gesundheitsversorgung, den kommunalen Diensten oder der schulischen Versorgung, gerechtfertigt werden können.«
Womit der Linksliberalismus beim Neoliberalismus angekommen ist, denn es gibt »für die Linksliberalen nur noch Individuen und identitätspolitisch definierte Minderheiten…» Ihre ganze Identität lebt vielmehr gerade vom Anderssein, von ihrer Abgrenzung gegenüber der Mehrheit.«
Sehr schön, wie sie kurz nennt, wie der Sozialstaat einmal aussah (S.126) und dass der Linksliberalismus im Gegensatz dazu nur einen Sozialstaat für Arme, als ansonsten ausgegrenzte Gruppe haben will. Und dass bei den Renten der soziale Absturz schon fast erreicht ist (S. 127). Und diesem Minimal-Sozialstaat hat uns Hartz-IV ein erhebliches Stück nähergebracht: von der Ampelkoalition gibt es keine Pläne, das Hartz-IV-System wirklich aufzugeben, ein neuer Name (»Bürgergeld«) alleine reicht nicht.
Ob man aus dieser Argumentation wirklich eine Ablehnung eines bedingungslosen Grundeinkommens (S. 128) begründen kann, da bin ich unsicher, halte die Diskussion aber nicht für wesentlich, es gibt wirklich wichtigeres.
Ihre Argumentation (S. 129 f), dass ein starker Sozialstaat »für alle« nicht finanzierbar wäre, hat die große Schwäche, dass er eine mögliche Umverteilung von oben nach unten und eine Beendigung des Rüstungwahns nicht mit einbezieht. Ihr daraus (und anderen Positionen von ihr) eine AfD-Nähe zu konstruieren, kann ich mir nur erklären aus dem seit dem Stalinismus offenbar unausrottbaren Tendenz in linken Parteien, Andersdenkenden stets Parteifeindlichkeit und »die Sache des Gegners zu vertreten« zu unterstellen.
Ein schreckliches Phobie-behaftetes Denken, was bestenfalls für eine Zerstörung der Diskussionskultur und ggfs. auch der Partei sorgt.
Fortschritte aber keine offene Gesellschaft
Sie konstatiert gesellschaftliche Fortschritte wie:
- (formale) Gleichberechtigung
- Akzeptanz der Homosexualität
- verbessertes Abtreibungsrecht
Damit könne man aber die zurückliegenden Jahre nicht in eine Erfolgsgeschichte umdeuten, denn für Menschen mit mittleren und niedrigen Bildungsabschlüssen gilt:
- Verlust an Gleichheit
- Verlust an Sicherheit
- Wohlstandsverlust –
- keine/kaum Aufstiegschancen
- Verlust normaler Arbeitsverhältnisse
Die vermeintlich offene Gesellschaft ist tief gespalten und sozial undurchlässig. Die Freizügigkeit kennt Grenzen, Zuzug ja, aber nicht in die guten Viertel.
Skeptisch bin ich, ob die Aussage, für Frauen ohne Abitur, ohne Uni habe keine Emanzipation statt gefunden – ist das wirklich so ? Sicher ist:?Alleinstehende Frauen sind bei weitgehend privatisierter Infrastruktur schnell ganz unten in der Gesellschaft angelangt.
Die große Erzählung
Nun kommen wir zu einem zentralen Punkt des Buchs: Die große Erzählung des Linksliberalismus bindet – wie andere große Erzählungen – auch Gruppen in die bestehende Ordnung ein, die eigentlich etwas verändern wollen.
S. 138: »Der Linksliberalismus bestimmt heute das Weltbild und das Denken großer Teile der akademischen Mittel- und Unterschicht. Die linksliberale Fortschrittserzählung… prägt das Lebensgefühl dieses Milieus.«
Dem Linksliberalismus ist es gelungen, den eigentlich abgewirtschafteten Neoliberalismus fortzusetzen. Gleichzeitig entfremdet er die »in diesem Milieu verankerten linken Parteien der traditionellen Mittelschicht, der Arbeiterschaft und den ärmeren Nicht-Akademikern , die sich… von der linksliberal-weltbürgerlichen Erzählung weder sozial noch kulturell angesprochen fühlen, sondern sie .. als Angriff auf ihre Lebensbedingungen, ihre Werte, ihre Traditionen und ihre Identität empfinden. Der Linksliberalismus sichert damit die soziale Spaltung der Mittelschicht .. ab und verhindert, dass politische Mehrheiten für einen anderen Zukunftsentwurf entstehen können.« (S. 139) – Wie jüngst bei der Bundestagswahl deutlich wurde.
Migration und Zuwanderung – ein heikles Kapitel
M.E. zutreffend: Lockere Einwanderungspolitik und positive Haltung zur Migration sind ein Dogma der Lilis (= Linksliberalen), wer das nicht vertritt wird »exkommuniziert«.

https://www.global2000.at/publikationen/klimamigration / https://www.global2000.at/sites/global/files/Klimamigration_grafik2_ohneLogo_2500px_komp.png – icons designed by flaticon.com
Sie stellt die ketzerisch wirkende Frage (S. 141): »Ist die Förderung und Erleichterung von Migration in diesem Zusammenhang [der weltweiten Ungleichheit] eine geeignete Maßnahme?« Bei ihrer Antwort geht sie zunächst auf historische Migrationswellen ein. Um dann zur Unterscheidung zwischen »Flucht« und »Migration« zu kommen. Wer flieht, muss das aus Angst um sein Leben oder wegen anderer Notlagen tun, wer migriert tut das, um ein besseres Leben zu finden.
Frage: Mir kommt bei dieser Unterscheidung leider sofort der böse Begriff von den »Wirtschaftsflüchtlingen« in den Sinn – ähnelt sich das nicht zu sehr? Und ignoriert das nicht die Tatsache, dass der globale Reichtum des Nordens auf der Armut des Südens beruht?
Kann man den Zustand, dass Menschen zur Migration gezwungen werden, weil sonst einfach kein besseres Leben möglich ist, wirklich exakt von Flucht unterscheiden? Hochinteressant die historischen Beispiele auf positive Wirkung von Migration, wie den USA oder den Zielländern der Hugenotten. Heute gibt es eine hochgradige Migration medizinischer Fachkräfte, von der Deutschland und die angelsächsischen Länder profitieren, ähnliches kann man im IT-Bereich vermelden. Nur: 20 bis 50 % der Hochqualifizierten aus Afrika und Mittelamerika wandern aus, und das bei einem sehr geringen Akademiker-Anteil dieser Regionen. Aus meiner und aus Sarahs Sicht wird Migration so zum Neokolonialismus pur!
Migranten, die mit Hilfe von Schlepperbanden herkommen, gehören stets zu den besser Bemittelten ihres Landes und der mexikanische Unesco-Migrationskoordinator Raul Delgado Wise kommt zu dem Urteil (S. 146): »Wenn man sich die Daten anschaut, ist Migration eine Subventionierung des Nordens durch den Süden.« Sarah weist dann daraufhin, dass bis 2004 Freizügigkeit in der EU als normal galt. Dann aber kam die Osterweiterung der EU, es folgte ein massenhafter Zustrom aus dem Osten vor allem von jungen qualifizierten Kräften. In 25 Jahren haben rund 20 Millionen Menschen Ost-Europa verlassen [das hat also schon vor 2004 begonnen]. So heißt es im stark betroffenen Rumänien »Europa hat uns zerstört«, mit dem Beispiel einer Stadt aus der 90 % der Bewohner migriert sind.
Als Folge herrscht in weiten Teilen Ost-Europas ein dramatischer Mangel an Ärzten, Alten- und Krankenpflegern. Rund die Hälfte der Syrer mit höherer Bildung befindet sich in Europa.
Deutlich Sarahs Einschätzung (S. 150): »Heute hat Flucht großenteils einen anderen Charakter, Kriege und Bürgerkriege verbunden mit ethnischen und religiösen Progromen.«
»Nur 10 % der von Fluchtgründen bedrohten Menschen können wirklich fliehen und nur denen hilft die herrschende Politik«.
Daher lautet die These von Sarah (S. 151): Man könnte mit einem Bruchteil der Mittel mit denen man Flüchtlingen hilft, wesentlich mehr Menschen helfen, wenn man die Fluchtursachen unterbindet.
Nebenbei: Eine wichtige Interessengruppe für Migration sind hiesige Unternehmen auf der Suche nach (billigen) Arbeitskräften. In GB waren schon 2016 rund 20 % aller niedrigqualifizierten Jobs von Ausländern ausgeführt. Während der Periode höchster Zuwanderung sind die Löhne in den betroffenen Sektoren um 15 % eingebrochen, auch Ausbildungsstellen verringerten sich. Und weil Beschäftigte in niedrigqualifizierten und Billiglohnjobs genau dies am eigenen Leib erfahren, sehen sie Migranten als unwillkommene Konkurrenten (genau wie auf dem Wohnungsmarkt.) Diese Abwehr hat auch damit zu tun, dass Migranten Löhne, Arbeits- und Wohnbedingungen zuerst (und für 1-2 Generationen) an dem Niveau ihrer Herkunftsländer messen, und daher bereit sind, wesentlich schlechtere Bedingungen zu akzeptieren, als hierzulande üblich sind.
Damit wird das Lohnniveau insgesamt »gedämpft« (S. 161) und in Bereichen, wo über Fachkräftemangel geklagt wird, liegt dieses Niveau auch unter dem Durchschnitt. Ein heißes Eisen ist die (Schein-)Frage: Kann unser Land alle oder einen Großteil der 60 Millionen (weltweiten) Flüchtlinge aufnehmen? (S. 152). Zwar ist dies eine bewusst von rechts aufgeworfene Scheinfrage, zu Sarahs Antwort (nein, selbst wenn man Reichensteuern einrichtet oder Rüstungsausgaben einschränkt wäre es nicht möglich) sind einige Anmerkungen nötig.
Ihre Antwort finde ich zu knapp, denn Reichensteuer/Rüstungsstopp würden helfen, wenigstens das größte Flüchtlingselend zu mildern. Andererseits wäre eine Gesellschaft ab einer bestimmten Schwelle sozial und kulturell überfordert, Flüchtlingsmassen aufzunehmen. Allerdings fehlt dann wieder der Hinweis, in welch hohem Maß arme Länder wie der Libanon Flüchtlinge der Nahost-Konflikte aufgenommen haben.
Eine deutliche Gegenposition gegenüber Sarah vertritt Katja Kipping in ihrem Buch »Wer flüchtet schon freiwillig?« ( 2015, ab S. 69f), aus ihrer Sicht wären Zahlen zu den aufgenommenen Flüchtlingen deutlich übertrieben und wesentlich mehr wäre möglich. Selbst wenn wir 60 Millionen aufnehmen würden, wäre die Bevölkerungsdichte nicht höher als die der Niederlande, sagt die Autorin. Es könnte sich lohnen, wenigstens Teile des Buchs von K. Kipping als Kontrapunkt zu Sarahs zu verarbeiten, bzw. in einer Neuauflage der »Selbstgerechten« darüber nachzudenken.

Sarah nun weiter: Die akademische Mittelschicht aber profitiert, denn Hilfs- und Servicekräfte werden billiger. Zuwanderung aber führt auch zu »Wohnen im Brennpunkt«, Zuwanderer gehen (notgedrungen) dahin, wo Geringverdienende und Arme wohnen. Häufig tragen die finanziell schwächsten Kommunen die Kosten dafür (S. 165). Auch die Schulen sind arg betroffen, Sarahs Zahlen zeigen: 2,9% Migrantenkinder im Berliner Bezirk Prenzlauer Berg, aber 92,1% in Berlin-Gesundbrunnen (S. 166).
Und im Gegensatz zum Gerede über Integration kommt es zu einer fortschreitenden Des-Integration, Arbeiter und Angestellte fühlen sich durch massive Zuwanderung aus ihren angestammten Quartieren vertrieben.
Auf Seite 170 macht S. Wagenknecht dann sehr gute Vorschläge zur Reduzierung der Migration. Hier ist ein Kapitel, das durch eine ungewohnte Sichtweise, Schlussfolgerungen und unbequeme Fakten überrascht und meistens überzeugt. Vor der Lektüre war ich ein Anhänger unbegrenzter Zuwanderung, das vertrete ich jetzt nicht mehr.
Das Märchen vom rechten Zeitgeist
»Die politische Rechte ist der große Gewinner des beginnenden 21. Jahrhunderts« – dem muss man leider zustimmen.
Die rechten Parteien sind die neuen Arbeiterparteien, nicht von den Mitgliedern sondern von den Wählern (S. 175). Die AfD hat Wähler mobilisiert, im prekären Milieu bekam sie bis zu 28 %.
Bei der Erzählung der jungen Mutter, die beklagt, dass alles die Zuwanderer bekämen, im Gegensatz zu ihr (S. 180 f) wäre aber dringend ein Wort zur verheerenden Rolle neoliberaler und rechtspopulistischer Medien erforderlich, die dieses Narrativ aufbringen, fördern und es als beliebtes Mittel nutzen, die Ärmeren zu spalten.
Die folgenden Beispiele für Sozialprogramme rechter Parteien (PiS in Polen, Fides in Ungarn, PVV in NL; S. 184/185) mögen richtig sein, aber soll das Politikanalysen ersetzen?
Was mir aber deutlich im Buch fehlt, ist eine Analyse, wodurch die Linkspartei insbesondere im Osten Deutschlands so massiv Wähler an die AfD verloren hat – oder habe ich das übersehen?
Elitenprojekt EU
Es folgen Fakten zum Wirtschaftsliberalismus der EU. Seit 2011 (S. 185) hat die EU Einfluss auf die nationalen Haushaltspläne. So hat es 63 mal Aufforderungen zu (nationalen) Kürzungen und mehr Privatisierung im Gesundheitswesen gegeben (vgl. S. 186)
Ebenso zur Einschränkung im Kündigungsschutz, zu Rentenkürzungen (F, 2013) und zu Arbeitsmarktreformen. Ebenso stehen die extremen Sozialkürzungen durch die Troika in Spanien, Portugal und Griechenland in diesem Zusammenhang. Den EuGH sieht sie als Pressuregroup von Konzernen: Streiks gegen Tarifflucht (Finnland) für illegal erklären, ein Subventionsverbot für öffentlichen Nahverkehr zu erlassen oder Gemeinden zur europaweiten Ausschreibung von Aufträgen zu zwingen. Letzteres ein typisches Mittel für Lohndumping und gegen einheimische Mittelstandsbetriebe gerichtet. Ebenso gegen Arbeitnehmer, aber pro transnationale Konzerne. Eine entsprechende Agenda sieht sie schon in den Maastrichter Verträgen, mehr dazu ab S. 187. Und sie kommt zu dem Schluss: »Die heutige EU ist ein Elitenprojekt«
Zeitgeist und mehr

Quelle. Umweltbundesamt
Sehr interessant auf S. 196: »Die große Mehrheit der Menschen … sind keine verbohrten Ewiggestrigen. Es ärgert sie allerdings, dass es immer nur die Lebensentwürfe von Minderheiten … sind, die im Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit stehen.«
Genau das ist auch meine Kritik an der Zeitung »ND«, die ja der Linkspartei zumindestens nahesteht. Wobei ich zu Sarahs »Lob« der traditionellen Familie doch die Frage stellen möchte, ob sie da nicht etwas altbackenen Zöpfen anhängt?
Etwas ratlos, aber auch skeptisch bin ich gegenüber dem »Taschenspielertrick« (S. 198 ) , kann mir das jemand erklären?
Glaubhaft erscheint mir dagegen die Schlussfolgerung auf der Seite unter der Headline »Kulturkampf gegen rechts«, dass der Sound dieses Kampfes »Arbeiter, einfache Servicebeschäftigte und die klassische Mittelschicht … vertreibt … weil sie spüren«, dass es gegen ihre Lebensweise, ihre Welt, ihre Werte geht.
Ich ahne, was sie auf S. 199 unter der Überschrift »Beleidiger treiben zum Backlash« meint und sehe, dass so beim Ansprechen des Themas »Klimawandel« Aversionen ausgelöst werden.
Dass aber FfF die Klimadebatte zu einer Lifestyledebatte gemacht hätte, finde ich übertrieben Es ist höchstens, das was konservative Medien daraus gemacht haben, um FfF zu diskreditieren. Das tut Sarah hier aber auch etwas, wie sie insgesamt die Fragen des Klimawandels viel zu gering schätzt, wenn nicht sogar herunterspielt (vgl. S. 284-291). Eine Haltung, die ich allerdings für absolut unangebracht halte.
Natürlich hat S. Wagenknecht Recht, wenn sie schreibt, das Klimapaket der [alten] Bundesregierung würde die untere Mitte, Arme, die ländliche Bevölkerung über Gebühr belasten. Nur: Das muss ja nicht sein, ist nicht von FfF zu verantworten, sondern von der Groko. Genauso ist das beim von der GroKo seit 2015 völlig vermurksten EEG (führend Ex-Minister Altmaier).
Und all das hat nichts mit Linksliberalismus zu tun, es sei denn nun wird (nachträglich) die Große Koalition zu einem linksliberalen Projekt erklärt. Sie schreibt dann (S. 201): »Der unregulierte globalisierte Kapitalismus ist für große Teile der Bevölkerung eine soziale und kulturelle Zumutung.« Einverstanden, aber gibt es kein überzeugendes politisches Programm dagegen? Sind die programmatischen Aussagen der Linkspartei so schlecht? Oder von FfF?
Teil II – Ein Programm
Essentiell
Die wirklich wichtigen Aussagen des Buchs stehen in den Kapiteln 1-7 und damit in Teil I. In den übrigen Kapiteln/Teilen wiederholt sie sich oder greift Themen auf, die sie nicht beherrscht (Thema Klimawandel. Letzteres handelt sie auf sieben (!) Seiten (ab Seite 284) ab und moniert vor allem, dass grüne Alternativen vieles teurer und für Ärmere nicht bezahlbar machen. Dies gelte insbesondere für Lebensmittel und Fleischpreise, ohne dass sie Ersatzmöglichkeiten aufzeigt. Sie hängt sich an die Mainstream-Kritik des Veganismus an, die sich vor allem an globale Transporte veganer Waren richtet. Andere, vor allem positive Aspekte veganer Ernährung (keine Fleischproduktion, Ressourcenersparnisse) ignoriert sie.
Ihr Ansatz, dass es ein Wachstum geben müsse, aber ein andersartiges (im Konsumgüterbereich) wird nicht nennenswert ausgeführt.
Sie kommt nicht einmal zu so essentiellen Kritiken wie der Tatsache, dass nur 10 % der Weltbevölkerung für 60 % aller CO2-Emissionen verantwortlich sind, oder die Trennung von Wohnort und Arbeitsplatz, sowie eine völlig verfehlte Siedlungs- und Mobilitätspolitik hauptverantwortlich für den CO2-Ausstoß des Verkehrssektors sind.
Ähnliche Defizite zeigt sie in Interviews, so in der NOZ oder dem ND (1.11.21), wo ihrer Meinung nach der frühere Kohleausstieg eine angeblich schon vorhandene Versorgungslücke vergrößere [Anmerkung: Deutschland hat seit Jahren einen Netto-Überschuss beim Stromexport, zuletzt in 2020 von 21.000 Giga-Wattstunden, in diesem Jahr bisher 18.000 Giga-Wattstunden]. Ihre Aussagen zu dem Thema werden der Tatsache, dass der Klimwandel eine Existenzfrage der Menschheit ist, nicht wirklich gerecht.
Dennoch gibt es viel Lesenswertes auch hier, nur dass sich das in der Summe nicht zu einem wirklichen Programm fügt.
Historisches
Zunächst weist die Autorin auf geschichtliches hin: Über Jahrhunderte haben die Menschen in sozialen Gemeinschaften gelebt, wo die faire Kooperation miteinander wichtig für das eigene Überleben gewesen ist. Noch im Mittelalter hätte es eine Bewirtschaftung der Gemeingüter gegeben. Erst in der frühkapitalistischen Ära (ab S. 210) seien dörfliche Gemeingüter zerstört worden – durch Privatisierung mittels Einzäunung von (entstehenden) Großgrundbesitzern.
Wichtig ist, so schreibt die Autorin, wichtig ist in jeder Gesellschaft und Wirtschaft ist Vertrauen, einem Handwerker vertraut man ebenso wie einem Arzt, Misstrauen würde zerstören. Adam Smith war überzeugt, dass die unsichtbare Hand des Markts nur in einer Ökonomie funktioniert, in der gewisse Anstandsregeln gelten. Das heißt, der Markt regelt nur, wenn es ein gewisses Grundvertrauen (unter den Akteuren) gibt. Smith selbst fügt aber in seinem Werk »Theorie der ethischen Gefühle« hinzu, dass der Markt selbst diese Anstandsregeln nicht garantieren kann. Im Gegenteil, denn wie Karl Marx schon als Tendenz sah, der Kapitalismus habe die »persönliche Würde in den Tauschwert aufgelöst« und »kein anderes Band zwischen Mensch und Mensch übrig gelassen als das nackte Interesse, die gefühllose bare Zahlung«. Wagenknecht folgert: »Aber eine Gesellschaft, die ihre Traditionen, ihre Werte und ihre Gemeinsamkeiten zerstört, zerstört den Kitt, der sie zusammenhält.«
Menschen, die auf den Regeln und Werten beharren, auf denen eine Gesellschaft basiert, sind konservativ im besten Sinne, das hat nichts mit politischem konservativ sein, zu tun.
Daher (S. 223): »sich von reaktionären Traditionen zu verabschieden, ist etwas ganz anderes als die Auflösung aller Gemeinsamkeiten, den Zerfall der Gesellschaft in ein gleichgültiges Nebeneinander vereinzelter Individuen und egoistischer Kleingruppen als progressive Modernisierung zu bejubeln.«
Mit anderen Worten etwas anderes als das neoliberale Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell.
Gegen den Einstellungen und Reaktionen stehen die Wünsche nach einem vertrautem stabilen Umfeld, nach gewohnten Lebensräumen, und einer stabilen Familie. Aber nicht nach Flexibilisierung und Mobilität. Das Effizienzstreben des Kapitals steht für die Autorin gegen mehrheitliche Wünsche der Menschen. Und sie macht (S. 225) deutlich, dass es dabei mitnichten um eínen »Rollback« in alte Zeiten geht. Sondern um die Besinnung auf Werte eines fairen Miteinanders.
Nationalstaat
Dann kommt sie zu dem Thema Nationalstaat und das »Wir-Gefühl«, warum eine totgesagte Idee eine Zukunft hat. Sie zitiert den Gründer des Davoser Weltwirtschaftsforums, Klaus Schwab (S. 227): »Die souveränen Staaten sind überflüssig geworden«, sagte er auf dem Forum der Reichen und Mächtigen bereits 1999.
Womit sie zur Folgerung gelangt: Die Märchen vom schwachen Nationalstaat dienen nur dazu, die Abkehr von einstigen Schutzregeln als Sachzwänge auszugeben. Eine europäische Identität ließe sich nicht per Dekret schaffen, gegen eine europäische Sozialunion spräche, dass es dann nur soziale Mindestabsicherungen gäbe. Es würden nur zusätzliche Funktions-/Abgeordnetenstellen auf europäischer Ebene geschaffen und der Lobby-Einfluss sei auf europäischer Ebene noch viel höher, als auf der Nationalen. Zumal es wenig Kontrolle der Entscheidungsträger und der Gremien auf europäischer Ebene gäbe. Von daher nennt sie die vertiefte europäische Integration einen Irrweg, für den es in der europäischen Bevölkerung keine Mehrheit gäbe. Den demagogischen Slogan der britischen Brexiteers »take back control« solle man für eine wirklich demokratische Konföderation nutzen. Die rund 20 Seiten, die sie insgesamt dem Thema Nationalstaat bzw. Europa widmet, waren für mich eher unergiebig, also zum nächsten Thema:
Demokratie oder Oligarchen – wie wir die Herrschaft des großen Geldes beenden.

Zunächst wieder Fakten von der Autorin: Allseits sinkende Wahlbeteiligungen aber wachsende Ungleichheiten, Parteimitgliedschaften halbieren sich. Paul Sethes [Mitgründer der FAZ] berühmtes Zitat (S. 252): »Pressefreiheit ist die Freiheit von zweihundert reichen Leuten, ihre Meinung zu verbreiten«. Nur sind heutzutage davon kaum 20 Reiche übrig – eine Medien- und Meinungsoligarchie also. Denn im meinungsbildenden Internet haben die großen wie Facebook, Twitter, Google und wie sie alle heißen mehr Meinungsmacht als jede Zeitungsredaktion.
Mit der Privatisierung des Internets, von Facebook und Co, zerfällt ein ehedem gemeinsamer Diskurs in getrennte Filterblasen. Dazu weist sie daraufhin, wie als Experten getarnte Lobbyvertreter die öffentliche Meinung beeinflussen, etwa zur Altersvorsorge, zur Gesundheitsversorgung oder dem Agieren der Pharmakonzerne. Folge:?Studien, die Glyphosat für unschädlich erklären oder dass Passivrauchen nicht ungesund sei. Dazu weist sie daraufhin, dass die WHO weitgehend privat finanziert sei oder dass RKI Experten in Projekten sässen, die von der Pharmaindustrie gesteuert werden.
Sie geht auf eine Bürokratie-Ausweitung durch Privatisierung ein (S. 258), Milliarden für Beratungsunternehmen wie PWC, oder die ca. 35 Milliarden Euro hinterzogener Steuern durch die CumEx Geschäfte. Öffentliche Projekte würden auch dadurch finanziell aus dem Ruder laufen, dass unerfahrene Behördenvertreter schlicht über den Tisch gezogen werden. Was ganz besonders für Projekte der »Public-Private Partnership« gälte, stets erheblich teurer als rein staatliche Projekte. Der Glaube an die Unfähigkeit des Staates für solche Projekte nähre sich allein aus den Unfähigkeiten eines unterfinanzierten Staates. Frankreich, Japan, China dagegen bewältigen solche staatlichen Großprojekte.
Nachdem sie Noam Chamsky zitiert, wie man Privatisierungen vorbereitet, kommt sie auch zu notwendigen Maßnahmen, oder besser Forderungen. Als da wären:?Entflechtung von Konzernen, ein starker öffentlicher Sektor, unabhängige Zeitungen statt Medienkonzerne, öffentlich-rechtliche Medien mit echter Meinungsvielfalt.
Das klingt alles einleuchtend und richtig – aber ist es damit schon ein Programm?
Wird auch gesagt, wie man zur Realisierung dieser Forderungen kommt?
Innovation?
Danach kommt ein Kapitel, in dem sie darstellt, dass Konzerne heute (vielfach) gar nicht mehr innovativ sind, nur altes rezipieren – was ist denn heute noch wirklich innovativ an einem Auto?
Den Punkt führt sie an Beispielen (bisher kein Ersatz für Plastik, kürzere Produkthaltbarkeit etc. ) aus, vergaloppiert sich aber auch, wenn sie mit den vielzitierten, praktisch durch Stromverbünde und Lastverteilung nicht existente »Dunkelflauten« die Möglichkeiten der Vollversorgung mit regenerativen Energien anzweifelt. Recht hat sie aber, wenn sie statt echter Innovationen Marketing-Tricks sieht (wovon eine Firma wie Apple lebt), wahrscheinlich auch, wenn sie den Kapitalismus heute für innovationsfaul hält – oder sprechen die Zahl der Start-ups dagegen?
Die sieht die aber eher als HighTech-Casino denn als wirkliche Innovationstreiber. Und weist darauf hin, dass dafür in der Regel ein couragiertes Engagement des Staates erforderlich sei: Halbleiter-Industrie, Internet, GPS, Nanotechnologie und – jüngst – Impfstoffentwicklung.
Sehr kritisch sehe ich aber Abschnitte (etwa ab S. 284), wo sie eine ehrliche Umweltpolitik statt Preiserhöhungen und Lifestyle Debatten fordert. Und kritisiert zu Recht, dass Heizung, Strom, Benzin und Essen durch Klimaschutzmaßnahmen teurer werden könnten.
Nur: Was ist die Alternative? Wo bleibt die Kritik am tödlichen Lebensstil vieler Menschen mit ihrem Fleischkonsum, PS-starken Autos, toten »sauber-und-ordentlich« Gärten und der Naturvernichtung mit Steingärten, Pestiziden, Rasenwüsten, Aufsitzmähern, Kantenschneidern und Laubbläsern?
Mögliche Verteuerungen infolge klimapolitischer Maßnahmen auch noch FfF zuschieben, ist billiger Populismus, genau wie die Parole Veganer würden die Welt nicht retten. Besser als die ekelhafte massenhafte Fresserei von toten Tieren ist das allemal und wer sagt denn, dass die Grundlage für vegane Ernährung dauerhaft nicht aus Europa kommen kann? Und wer viel fliegt, ist nicht links und ein 200-PS-SUV-Besitzer ganz bestimmt auch nicht.
Im weiteren mischen sich richtige mit falschen Annahmen, klar gibt’s noch keine Batterie-LKWs, da heißt die Alternativer a) Bahnverkehr und b) Wasserstoff-Antrieb, was leider nicht erwähnt wird.
Sie nennt dann schon noch sinnvolle Forderungen, verhebt sich aber mit diesem nicht durchdachten Abschnitt ziemlich, insbesondere wenn sie sogar so weit geht (S. 290), dass angestrebte Lösungen zur Klimafrage ein Zurück ins 19. Jahrhundert bedeuten würden, weil viele Menschen sich dann vieles nicht mehr leisten könnten. Ganz provokativ gefragt: Sind Billigflieger ein zu schützendes linkes Gut? Insgesamt ist sie in Umweltdingen seltsam undifferenziert, wenig pointiert und übernimmt sogar manche Pseudoargumente der Fossilfraktion, schade.
Eigentumsfrage
Bei ihren Ideen zu Reformen von Kapitalgesellschaften bzw. besser kontrollierten Unternehmen (Begriff »Leistungseigentum«) bekomme ich das Gefühl, dass sie sich nur um das Thema Enteignung herum drückt. Was aber in Berlin z.B. betreffs der Deutschen Wohnen äußerst populär ist, und ich sonst bei ihr eher nicht verorten würde.
Auch wenn ich ihre Kritik an einer Art »Leistungsfetisch« teile, der ganze Abschnitt wirkt wiederum unausgegoren. Kritik am ausgeübten Leistungsdruck in Bildung bzw. Ausbildung wirkt eher daneben, Alternativen wie z.B. Waldorfschulen ignoriert sie.
Aber natürlich hat sie Recht, wenn sie ungleiche Bildungschancen moniert und einen Rückgang der Bildungsinvestitionen um 30 Milliarden Euro hierzulande kritisiert.
Finanzwirtschaft
Logisch, dass sie darauf zu sprechen kommt, ihr schon 2008 erschienenes Buch »Wahnsinn mit Methode« war zu dem Thema unverzichtbar. Ein paar wichtige Punkte: Seit 2009 ist das weltweite Finanzsystem ununterbrochen im Krisenmodus, die Fehlentwicklungen zeigen sich im Wachstum von Schulden und Vermögen, wobei die (billigen) Zentralbankengelder wie Drogen wirken.
Die EZB drückt die Zinsen, um die Zahlungsunfähigkeit einiger Länder zu verhindern, aber mit verheerenden Nebenwirkungen. Hier geht massenhaft Geld an Banken und Finanzmarktplayer, die damit Anlageprodukte wie Aktien, Immobilienanteile kaufen, was den Dow Jones Index mitten in der Coronakrise zu Rekorden treibt, das Vermögen der Milliardäre wuchs um 1000 Milliarden! Sparer (Mittelschicht) werden seit Jahren enteignet. Das EZB Geld vergrößert aber die Finanzmarktblase, im Immobiliensektor wird eine einzigartige Preisinflation getrieben mit übelsten Folgen für Mieter, Stadtentwicklung und den Erwerb von Wohneigentum. Reiche werden noch reicher, denn sie profitieren in erster Linie von Kapitalmarktprodukten, schließlich gehören 1 % der Menschen 70 % aller privat gehaltenen Aktien.

Hier fragt Sarah aber auch, wie man aus der Verschuldung herauskommen kann? Aktionäre und Gläubiger sollten haften, Staatsschulden von der EZB gestrichen werden. Eine einmalige Vermögensabgabe für Vermögen oberhalb von 10 Millionen Euro sowie eine harte Regulierung und De-Globalisierung der Finanzmärkte schlägt sie weiter vor.
Dabei bekennt sie sich durchaus zu Märkten, stellt aber fest (S. 310): Globale Märkte kennen keine Regeln, weil es auf globaler Ebene keine machtvollen Regierungsinstanzen gibt. Und: Corona hat gezeigt, wie verletzlich eine Wirtschaft ist, wenn Schlüsselelemente und wichtige Güter abhängig vom anderen Ende der Welt sind.
Es geht also um bestimmte Teile der Globalisierung. Denn während Mittelständler Steuern zahlen, können Dax-Konzerne dem ausweichen. Die industrielle Wertschöpfung sollte man zurück nach Europa holen. In Schlüsselbranchen wie der Digitalwirtschaft sind Abhängigkeiten zu überwinden.
Dass Verkäuferinnen und Paketzusteller von ihrem Lohn leben können, viele Jahre war das so. Denn »Die Globalisierung der letzten Jahrzehnte war kein Motor für Wohlstand sondern für wachsende Ungleichheit.« Und: Die Globalisierung ist durch einen mehrfachen Hin- und Hertransport der Waren ein ökologisches Desaster.
Digitale Zukunft ohne Datenschnüffler
Im 12. und letzten Abschnitt geht sie auf die Digitalthemen ein und stellt fest, das Geschäft mit den Daten ist das Kerngeschäft der vier, fünf großen Internet-Konzerne. Sie führt den Begriff des »Überwachungskapitalismus« ein, denn die Daten der Internetkonzerne sind essentiell für CIA & Co. Sie bemerkt, dass Fitness-Uhren auch ohne Datenschleuderei laufen würden. Dass mit Schnüffelsoftware aus PKW (Navis) Bewegungsprofile herstellbar sind. Umso mehr mit den suchterzeugenden Netzwerken wie Facebook, Whatsapp & Co. Schließlich entscheidet das »Wahrheitsministerium» in Kalifornien, also Facebook und Google, was Millionen zu lesen bekommen. Und schließt das Thema mit (S. 329):»Eine echte Alternative zu den Big Five .… wären nicht-kommerzielle digitale Plattformen mit öffentlich zugänglicher Software, die individuelle Verhaltensweisen schlicht nicht mehr speichert.«
Eine 2-seitige Bibliographie und 8 Seiten Quellenangaben schließen das Buch ab.
Fazit zu Teil II
Mit dem ersten Abschnitt des Buchs endet der wichtigste Teil, der besonders hilfreiche, das, was die Leser wirklich weiterbringt. Damit wird auch die Schwäche der Autorin, der Einzelkämpferin, deutlich: Für ein echtes Programm braucht es mindestens ein Kollektiv, das mehr Wissen, unterschiedliche Erfahrungen und Aspekte einbringt, als eine einzelne Autorin. Das wird auch beim Versagen des Buchs zum Thema Klimakatastrophe deutlich, die Autorin war nie Teil der Bewegung dagegen und verarbeitet offensichtlich auch wesentliche Beiträge dazu nicht. Als z.B. zu nennen wären Naomi Klein »Die Entscheidung – Kapitalismus vs. Klima, Susanne Götze/Annika Joeres »Die Klimaschmutzlobby«, Luisa Neubauer/Alexander Repenning »Vom Ende der Klimakrise«
Den ersten Teil des Buchs (bis S. 201) halte ich für den wichtigen, lesenswerten Teil. Den »programmatischen« Teil II halte ich für deutlich schwächer und zu wenig programmatisch, sondern eher als Ergänzung und Wiederholung des ersten Teils. Auch wenn einige gute Punkte in Teil II vorhanden sind und der Abschnitt zum Finanzsystem (da ist sie zu Hause) wieder erhellend ist. In den Mängeln des programmatischen Teils wird auch die Schwäche sichtbar, als Einzelne einer ganzen Bewegung ein Programm zu schreiben — das klappt leider nicht!
Zusammenfassend
Kernbegriffe sind »Linksliberalismus« und die »Lifestyle-Linken«, Begriffe, die ich nicht für geschickt halte, weil sie Mainstream-Medien die Gelegenheit bieten, über die ohnehin ungeliebten Linken herzuziehen, eine andere Begrifflichkeit wäre hilfreicher gewesen.
Gerade der »Linksliberalismus« ist in keinem Fall sauber definiert, sondern wird schlagwortartig benutzt. Er wäre als Begriff wesentlich verständlicher wenn er nach den 30 bis 40 Seiten Sozialgeschichte, die das Buch enthält, strukturiert eingeführt worden wäre.
Überwältigend gut ist die Autorin im ersten Teil des Buchs, wenn sie zentrale Begriffe heutiger Debatten wie »Identität«, »Gendern« einer schonungslosen Kritik unterzieht, diese als Ablenkung und Überdecken von eigentlich wichtigen sozialen und politischen Fragen charakterisiert.
Genauso, wenn sie eindrücklich und eingängig erklärt, warum so viele Menschen ungebremste Zuwanderung und andere Globalisierungsfolgen als Bedrohung sehen. Genial ihre Erklärung der »großen Erzählung« mit der es den neoliberalen Medien gelingt, ihre Ausplünderung der Welt und der Menschheit als alternativlos zu verkaufen. Dass die »große Erzählung« des Kapitalismus ein wesentlicher Herrschaftsmechanismus ist. Das alles ist Aufklärung vom Feinsten und ein riesiges Verdienst der Autorin.
Es gibt von mir viel Kritik an einzelnen Aussagen und Behauptungen, es könnte mehr belegt werden, aber mit dem Teil I des Buchs von Sarah habe ich erstmals eine halbwegs schlüssige Erklärung gefunden, warum große Teile der Wählerschaft den Rechtspopulisten auf den Leim gehen, sich von den Linken abwenden. Diese Menschen haben eine ungeheure Angst vor der Globalisierung (und wohl auch Digitalisierung), vor Zuwanderung, die sie in erster Linie als negativ und bedrohlich für sich empfinden und massiv zu spüren bekommen.
Hinzu kommt, dass die Autorin sehr gut und verständlich formulieren und Sachverhalte und Zusammenhänge darstellen kann, ein Grund für ihre Popularität in der Bevölkerung, wie mir gerade kürzlich z. B. ein Taxifahrer bestätigte.
Ich halte das Buch trotz einiger Kritik für eine sehr gute Denkanregung und hilfreich für das Verständnis aktueller politischer Fragen.
Schade ist, dass Sarahs Buch als die Leistung einer einzelnen Person daher kommt und nicht als Ergebnis kollektiver Arbeit einer Gruppe von Linken. Ihre aktuellen Aussagen zum Klimawandel und der Covid19-Strategie kann ich nur aus einer weitgehenden sehr traurigen Isolation von S. Wagenknecht von Gremien und Foren der Partei verstehen. Sie ändern aber nichts an den richtigen Analysen in Teil I des Buchs. Nachtrag: Beim Verständnis des Buchs haben mir zwei Dikussionsabende im Freundeskreis geholfen. Mein Dank geht an Bärbel, Ferencz, Margret und Mechthild.
Im Heft von Sozialismus.de im Supplement zu Heft 12/2021 gibt es eine Kritik an Sarahs Thesen von Franziska Wiethold: »Wie ernst nimmt Sarah Wagenknecht die soziale Frage?«
Auch das habe ich gelesen und als weitgehend falsch und billige, aber nicht sachgerechte Polemik empfunden, daher gehe ich hier im Detail nicht weiter darauf ein. Mein Fazit zum Buch von Sarah Wagenknecht »Die Selbstgerechten«:
Außerordentlich lesenswert
2022 rezensiert, Campus Verlag, Die Linke, Junge Welt, ND, Politik, Sarah Wagenknecht, Umwelt