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Shuggie-Bain-230

Dou­glas Stuart
» Shug­gie Bain

Autor:Dou­glas Stuart (Groß­bri­tan­nien, 2020)
Titel:Shug­gie Bain
Aus­gabe:Pica­dor, 2020, eng­li­sche Originalfassung
Erstan­den:Anti­qua­risch, auf Tipp des Guardian
Shuggie-Bain
Umschlag der eng­li­schen Ori­gi­nal­aus­gabe
Titel­bild © Jez Coul­son /insight-visual.com
Cover design Stuart Wil­son, Pica­dor Artdepartment

Es ist wirk­lich sel­ten, auch in den Rezen­sio­nen mei­nes Lite­ra­tur­blogs »altmodisch:lesen«, dass ich eine Lek­türe als so hart, so scho­ckie­rend amp­finde, dass ich Pau­sen ein­le­gen muss, weil ich es schier nicht ertra­gen konnte. Womit viel­leicht schon der Kern des­sen beschrie­ben wird, was ich beim Lesen des Auf­wach­sens des klei­nen Hugh »Shug­gie« Bain im schot­ti­schen Glas­gow der acht­zi­ger des 20. Jahr­hun­derts emp­fun­den habe. Ein Leben stets am Rande der Armut bei einer schwer alko­hol­kran­ken und allein­ste­hen­den Mut­ter, Agnes (39), in der Hof­fungs­lo­sig­keit einer sozia­len Abge­hängt­heit, das durch die De-Indus­tria­li­sie­rung der That­cher-Regie­rung noch deut­lich ver­stärkt wurde.

Eines der trau­rigs­ten je gele­se­nen Bücher, des­sen Kunst darin besteht, Elend so greif­bar zu machen, dass es den Leser kör­per­lich angeht. Es zeigt die ganze schreck­li­che Kraft- und Hof­fungs­lo­sig­keit der Armut im Nor­den Groß­bri­tan­ni­ens, eines Lan­des, das aktu­ell mit dem Tod sei­ner Köni­gin Eliza­beth. II mit Pomp und Ver­schwen­dung nur so um sich wirft.

In einer Armut, in der ein klei­ner Mensch auf­wächst, in der er kaum Liebe erlebt, sich viel­mehr um die im Suff ver­fal­lende Mut­ter küm­mern, ja sie pfle­gen muss. In der Shug­gie stell­ver­tre­tend für Gene­ra­tio­nen ohne Kind­heit steht, in sein extrem zei­chen­be­gab­ter Bru­der Leek von einer Aka­de­mie-Aubil­dung nur träu­men kann. Er hätte nie das Geld dafür.

Einem Leben in erschüt­tern­den Wohn­ver­hält­nis­sen, einem Leben, in dem jeder mal klaut, anders geht es gar nicht. Aber die All­tags­kri­mi­na­li­tät kann übel eska­lie­ren, was Leeks ein hal­bes Jahr ohne Zähne im Unter­kie­fer bedeu­tet, den Hal­len­wäch­ter aber ein Inva­li­den­da­sein für den Rest des Lebens. Stuart ver­schweigt die­sen Aspekt des Klau­ens nicht. Eine Mut­ter, die von der staat­li­chen Unter­stüt­zung lebt, die es jede Woche am Mon­tag und Diens­tag gibt, die aber schon am Don­ners­tag über­legt, woher sie Geld für Alk bekom­men kann? Eine Frau, die sich längst für den Alko­hol pro­sti­tu­ie­ren muss und wäh­rend des­sen die Woh­nung für Shug­gie ver­schlos­sen bleibt. Eine Mut­ter, die vor­mit­tags reflek­tiert (p. 162): »She sat drin­king­the dregs of old Lager and won­de­ring where exactly her boy was hiding his childhood«

Und eine Flucht aus einer zu engen kom­mu­na­len Woh­nung (in der noch die Groß­el­tern mit leben), in ein Rei­hen­haus in einer ehe­ma­li­gen Berg­ar­bei­ter­sied­lung, die sich – weitab von der Stadt – als noch schlim­me­res Ghetto erweist und – und noch engere Wohn­ver­hält­nisse mitbringt.

Eine der här­tes­ten, aber auch kenn­zeich­nen­den Sze­nen des Buchs: Agnes Vater liegt (im Mehr­bett­zim­mer eines Spi­tals) im Ster­ben. Seine Frau legt sich auf ihn, um ihn mit Bewe­gun­gen ihre Anwe­sen­heit spü­ren zu las­sen. Als eine Schwes­ter das unter­bin­den will, fragt Agnes Mut­ter: Na, eifer­süch­tig Nurse?

Wor­auf selbst einer wahr­lich abge­här­te­ten Glas­we­gian Nurse nichts mehr einfällt.

Eine Szene, die aber auch für das Buch ebenso typi­schen schot­ti­schen Humor zeigt, der den Leser trotz aller Schre­cken zum Lachen bringt. Beson­ders in einer Ein­gangs­szene, in der seine Mut­ter im Kreis von Kame­ra­din­nen sitzt, die alle neue BHs anpro­bie­ren, BHs aus einer »güns­ti­gen« Quelle.

Anders grau­sig, wenn der Halb­wüch­sige in den letz­ten Wochen des Lei­dens sei­ner Mut­ter ihre Mund­höhle von Schleim säu­bern muss, damit sie nicht erstickt – anstatt selbst eine sehn­lichst gewünschte müt­ter­li­che Für­sorge zu erfahren.

Als Shug­gie auf der Suche nach sei­ner sau­fen­den Mut­ter von einem Taxi­fah­rer ver­ge­wal­tigt wird, wäh­rend ein Kol­lege von ihm Shug­gies Pro­sti­tu­ti­ons­an­ge­bot deut­lich ablehnt. Das Leben des Jun­gen ist mit dem Glas­gower Taxi­fah­rer­mi­lieu ver­knüpft, dort­her kom­men Agnes Part­ner. – Und was ist es für ein Halb­satz, wenn die ältere Schwes­ter das Heim ver­lässt (p. 125): »… away from their dis­in­te­gra­ting mother.«

Douglas-Stuart
Der Autor Dou­glas Stuart, selbst in Glas­gow auf­ge­wach­sen
Foto: © Mar­tyn Pickersgill

Deut­li­che Kri­tik an ver­hee­ren­den sozia­len Ein­spa­run­gen der Tory-Regie­rung, sym­bol­haft an dem ein­ge­spar­ten Halt des Glasgow—Edinburgh Zuges ver­deut­licht: »Years ago the coun­cil had rip­ped out the only sta­tion, for savings in sta­ti­ons­mas­ter wages«.

Shug­gies schreck­li­cher All­tag, wenn er aus Furcht vor Hohn und Spott in der Schule über seine alko­hol­kranke Mut­ter in die Hosen macht, die Schule vor der letz­ten Stunde ver­las­sen muss. Kritik

Es gibt so man­che Kri­tik an dem Roman, dem man deut­lich anmerkt, dass es ein Erst­ling ist:

Vie­les fehlt an der (inne­ren) Ent­wick­lung des klei­nen Shug­gie. Die Idee des neuen Lovers von Agnes, sie zum Trin­ken zu ani­mie­ren, erscheint unpas­send zu des­sen Cha­rak­ter. Auch an ande­ren Stel­len fal­len logi­sche Brü­che der Erzäh­lung auf, war das Lek­to­rat bewusst so zurückhaltend?

Etwas zu oft bekommt man den Ein­druck, es ist weni­ger ein Buch über Shug­gie als eines über das Lei­den sei­ner Mut­ter Agnes, des Schre­ckens­all­tags der Alkoholabhängigen.

Agnes, eine Frau die im Grunde daran zer­bricht, dass kein Mann sie so akzep­tiert, wie sie ist, weder Shug­gies Vater noch ihr spä­te­rer Part­ner Eugene.

Und gibt es unter den Lebens­be­din­gun­gen von Shug­gies Eltern und deren Umkreis wirk­lich kein lie­be­vol­les Zusam­men­le­ben von Part­nern? Son­dern nur Bru­ta­li­tät, ins­be­son­dere Frauen und Kin­dern gegen­über, wobei darin ja nur die selbst erlebte (soziale) Bru­ta­li­tät wider gespie­gelt wird..

Eine Bru­ta­li­tät, die in diese Sätze mün­det, als Shug­gies Vater die Agnes kalt­schnäu­zig mit 3 Kin­dern alleine lässt (p. 110): »He had to squeeze all the small bones in her hand to get her to release him. She had loved him and he nee­ded to break her com­ple­tely to leave her for good. It wouldn’t do to leave pie­ces of her for ano­ther man to coll­ect and repair later«. Unwahr­schein­lich erscheint es, dass Agnes trotz jah­re­lan­gem hohem Alko­hol­kon­sum äußer­lich attrak­tiv blei­ben soll. Die Zustands­be­schrei­bung der Agnes ist infam gut, was aber in ihr pas­siert, scheint weni­ger gelun­gen geschrieben.

Warum spielt die Soli­da­ri­tät der Ärme­ren unter­ein­an­der höchs­tens eine Neben­rolle, so wie sie – her­vor­ra­gend beschrie­ben – ansatz­weise in der ver­elen­de­ten ehe­ma­li­gen Berg­ar­bei­ter­sied­lung auf­taucht, in die es Agnes ver­schla­gen hat?

Und warum macht der Autor nicht deut­li­cher, wie die von der Gesell­schaft auf­ge­zwun­ge­nen Lebens­ver­hält­nisse all die­ses Grauen produzieren?

Mys­tisch erscheint auch das »Anders­sein« des Shug­gie, was öfter erwähnt aber nie wirk­lich erklärt wird. Oder meint er damit die eher erfri­schende Tat­sa­che, wel­ches Selbst­be­wusst­sein der Kleine früh ent­wi­ckelt? Oder soll eine Homo­se­xua­li­tät ange­deu­tet wer­den? Viel­leicht geht es auch um die Tat­sa­che, dass Shug­gie ein­fach »anders« ist, andere Musik hört, anders tanzt, ein »Anders­sein«, was in vie­len (sozial engen) Com­mu­ni­ties der acht­zi­ger kei­nes­wegs tole­riert wurde (vgl. Anna Burns »Milk­man«). Fazit:

Die Kri­tik ändert nichts daran, dass es ein groß­ar­ti­ges Buch ist, das den Schre­cken eines Lebens in heu­ti­ger Armut unglaub­lich prä­sent macht. Einem Kind, das unter weit­ge­hen­der Ver­wahr­lo­sung auf­wächst und diese ver­mut­lich in die nächste Gene­ra­tion trans­por­tie­ren wird.

Shuggie-Bain-deutsch
Cover der deut­schen Aus­gabe
© Han​ser​-lite​ra​tur​ver​lage​.de

Kin­dern, denen die Kind­heit gestoh­len wird ebenso wie die müt­ter­li­che Liebe – für ihr gan­zes Leben

Das Buch schließt mit dem Zusam­men­le­ben des Teen­agers Shug­gies mit einer Freun­din, an deren Mut­ter er exakt noch ein­mal sein eige­nes grau­si­ges Auf­wach­sen sieht. Und einer vagen Hoff­nung: Viel­leicht geht sie mit ihm tan­zen und viel­leicht lernt er es?

Scho­ckie­rend gut

PS: Eine deut­sche Über­set­zung ist 2021 bei Han­ser erschie­nen, es wäre span­nend zu wis­sen, wie die den Roman mit­prä­gen­den Stel­len im Glas­we­gian Dia­lekt über­setzt wer­den; dem Ver­neh­men nach als nord­deut­sches Idiom.

Das deut­sche Titel­bild jeden­falls ist – im Gegen­satz zum Ori­gi­nal – eine grobe Ver­zer­rung des tat­säch­li­chen Buch-Inhalts.


Eng­lish

This »Shug­gie Bain« is one of the rare books, which made me shud­der again and again, stop rea­ding after some pages and reflec­ting the immense hard­ness of fates with a youth in Glas­gow and his alco­hol addic­ted mother Agnes.

Maybe thats the main art of the aut­hor Dou­glas Stuart, brin­ging the fates of poverty, soci­ally out­di­stanced peo­ple, hope­l­ess lifes enhan­ced by That­chers de-indus­tria­liza­tion to pain­full clo­sen­ess to the rea­der. A hur­ting clo­sen­ess that is.

A poor­ness des­troy­ing any child­hood and youth, hiding ten­der­ness and love, which is all such a small human is lon­ging for. A life in devas­ta­sting envi­ron­ments, which makes peo­ple sick, ste­al­ing nor­mal and crea­ting though even more sickness.

A mother (Agnes) who lives of social wel­fare, recei­ving it mon­day and tues­day, but loo­king for ways to finance her alco­hol alre­ady on thurs­day. She’s even pro­sti­tu­ting hers­elf, locking out her son, so »She sat drin­king­the dregs of old Lager and won­de­ring where exactly her boy was hiding his childhood«.

A life where Sug­gies talen­ted brot­her Leeks will never be able to pay for an art aca­demy, lea­ving, as his sis­ter her mother, (p. 125): »….away from their dis­in­te­gra­ting mother.«

The boy is living in a Glas­gow cab dri­vers society, which leads to a rape of Shug­gie by a dri­ver, while ano­ther dri­ver decli­nes his pro­sti­tu­tion offer. All hap­pe­ning while the boy tries des­pa­ra­tely to find his drin­king mother on the town.

Really awful the rela­ti­ons bet­ween the sexes, cul­mi­na­ting when Agnes (second) hus­band lea­ves her cold­he­ar­ted with three kids on her own, declaring:

(p. 110): »He had to squeeze all the small bones in her hand to get her to release him. She had loved him and he nee­ded to break her com­ple­tely to leave her for good. It wouldn’t do to leave pie­ces of her for ano­ther man to coll­ect and repair later«. Though fasci­na­ting, the book shows some cru­cial items:

  • Why is there hardly any soli­da­rity amongst the poor hel­ping them selves?
  • Why is Eugene, ano­ther taxi dri­ver and Agnes new part­ner, brin­gin her back to alcohol?
  • Some­ti­mes its more a book on Agnes, Shug­gies mother, her life des­troyed by the fact, that none of her part­nersd accept her, as she is.
  • The fact, that Shug­gie is some­what dif­fe­rent, likes dif­fe­rent music, moves dif­fe­rent while dancing, dis­li­kes foot­ball is never really cla­ri­fied. Did Stuart just want to to denounce the bul­ly­ing of »dif­fe­rent« peo­ple in tight knit­ted social com­mu­ni­ties in the eight­ies of last cen­tury (see Anna Burns »milk­man«)?

Any­way its a really great nar­ra­tion, show­ing the hor­rors of life in poor­ness, soci­ally distanced envi­ron­ments. Show­ing child­ren gro­wing up in dila­pi­da­tion pro­pa­bly trans­fer­ring that to the next generation.

The book clo­ses with a vague hope, that a teen­aged Shug­gie might learn to dance with his young part­ner, quite a vague hope.

Scary while brilliant!

2022 rezensiert, Douglas Stuart, Englische Originalausgabe, Glasgow, Großbritannien, Picador Verlag, Schottland