Douglas Stuart
» Shuggie Bain
Autor: | Douglas Stuart (Großbritannien, 2020) |
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Titel: | Shuggie Bain |
Ausgabe: | Picador, 2020, englische Originalfassung |
Erstanden: | Antiquarisch, auf Tipp des Guardian |
Es ist wirklich selten, auch in den Rezensionen meines Literaturblogs »altmodisch:lesen«, dass ich eine Lektüre als so hart, so schockierend ampfinde, dass ich Pausen einlegen muss, weil ich es schier nicht ertragen konnte. Womit vielleicht schon der Kern dessen beschrieben wird, was ich beim Lesen des Aufwachsens des kleinen Hugh »Shuggie« Bain im schottischen Glasgow der achtziger des 20. Jahrhunderts empfunden habe. Ein Leben stets am Rande der Armut bei einer schwer alkoholkranken und alleinstehenden Mutter, Agnes (39), in der Hoffungslosigkeit einer sozialen Abgehängtheit, das durch die De-Industrialisierung der Thatcher-Regierung noch deutlich verstärkt wurde.
Eines der traurigsten je gelesenen Bücher, dessen Kunst darin besteht, Elend so greifbar zu machen, dass es den Leser körperlich angeht. Es zeigt die ganze schreckliche Kraft- und Hoffungslosigkeit der Armut im Norden Großbritanniens, eines Landes, das aktuell mit dem Tod seiner Königin Elizabeth. II mit Pomp und Verschwendung nur so um sich wirft.
In einer Armut, in der ein kleiner Mensch aufwächst, in der er kaum Liebe erlebt, sich vielmehr um die im Suff verfallende Mutter kümmern, ja sie pflegen muss. In der Shuggie stellvertretend für Generationen ohne Kindheit steht, in sein extrem zeichenbegabter Bruder Leek von einer Akademie-Aubildung nur träumen kann. Er hätte nie das Geld dafür.
Einem Leben in erschütternden Wohnverhältnissen, einem Leben, in dem jeder mal klaut, anders geht es gar nicht. Aber die Alltagskriminalität kann übel eskalieren, was Leeks ein halbes Jahr ohne Zähne im Unterkiefer bedeutet, den Hallenwächter aber ein Invalidendasein für den Rest des Lebens. Stuart verschweigt diesen Aspekt des Klauens nicht. Eine Mutter, die von der staatlichen Unterstützung lebt, die es jede Woche am Montag und Dienstag gibt, die aber schon am Donnerstag überlegt, woher sie Geld für Alk bekommen kann? Eine Frau, die sich längst für den Alkohol prostituieren muss und während dessen die Wohnung für Shuggie verschlossen bleibt. Eine Mutter, die vormittags reflektiert (p. 162): »She sat drinkingthe dregs of old Lager and wondering where exactly her boy was hiding his childhood«
Und eine Flucht aus einer zu engen kommunalen Wohnung (in der noch die Großeltern mit leben), in ein Reihenhaus in einer ehemaligen Bergarbeitersiedlung, die sich – weitab von der Stadt – als noch schlimmeres Ghetto erweist und – und noch engere Wohnverhältnisse mitbringt.
Eine der härtesten, aber auch kennzeichnenden Szenen des Buchs: Agnes Vater liegt (im Mehrbettzimmer eines Spitals) im Sterben. Seine Frau legt sich auf ihn, um ihn mit Bewegungen ihre Anwesenheit spüren zu lassen. Als eine Schwester das unterbinden will, fragt Agnes Mutter: Na, eifersüchtig Nurse?
Worauf selbst einer wahrlich abgehärteten Glaswegian Nurse nichts mehr einfällt.
Eine Szene, die aber auch für das Buch ebenso typischen schottischen Humor zeigt, der den Leser trotz aller Schrecken zum Lachen bringt. Besonders in einer Eingangsszene, in der seine Mutter im Kreis von Kameradinnen sitzt, die alle neue BHs anprobieren, BHs aus einer »günstigen« Quelle.
Anders grausig, wenn der Halbwüchsige in den letzten Wochen des Leidens seiner Mutter ihre Mundhöhle von Schleim säubern muss, damit sie nicht erstickt – anstatt selbst eine sehnlichst gewünschte mütterliche Fürsorge zu erfahren.
Als Shuggie auf der Suche nach seiner saufenden Mutter von einem Taxifahrer vergewaltigt wird, während ein Kollege von ihm Shuggies Prostitutionsangebot deutlich ablehnt. Das Leben des Jungen ist mit dem Glasgower Taxifahrermilieu verknüpft, dorther kommen Agnes Partner. – Und was ist es für ein Halbsatz, wenn die ältere Schwester das Heim verlässt (p. 125): »… away from their disintegrating mother.«
Deutliche Kritik an verheerenden sozialen Einsparungen der Tory-Regierung, symbolhaft an dem eingesparten Halt des Glasgow—Edinburgh Zuges verdeutlicht: »Years ago the council had ripped out the only station, for savings in stationsmaster wages«.
Shuggies schrecklicher Alltag, wenn er aus Furcht vor Hohn und Spott in der Schule über seine alkoholkranke Mutter in die Hosen macht, die Schule vor der letzten Stunde verlassen muss. Kritik
Es gibt so manche Kritik an dem Roman, dem man deutlich anmerkt, dass es ein Erstling ist:
Vieles fehlt an der (inneren) Entwicklung des kleinen Shuggie. Die Idee des neuen Lovers von Agnes, sie zum Trinken zu animieren, erscheint unpassend zu dessen Charakter. Auch an anderen Stellen fallen logische Brüche der Erzählung auf, war das Lektorat bewusst so zurückhaltend?
Etwas zu oft bekommt man den Eindruck, es ist weniger ein Buch über Shuggie als eines über das Leiden seiner Mutter Agnes, des Schreckensalltags der Alkoholabhängigen.
Agnes, eine Frau die im Grunde daran zerbricht, dass kein Mann sie so akzeptiert, wie sie ist, weder Shuggies Vater noch ihr späterer Partner Eugene.
Und gibt es unter den Lebensbedingungen von Shuggies Eltern und deren Umkreis wirklich kein liebevolles Zusammenleben von Partnern? Sondern nur Brutalität, insbesondere Frauen und Kindern gegenüber, wobei darin ja nur die selbst erlebte (soziale) Brutalität wider gespiegelt wird..
Eine Brutalität, die in diese Sätze mündet, als Shuggies Vater die Agnes kaltschnäuzig mit 3 Kindern alleine lässt (p. 110): »He had to squeeze all the small bones in her hand to get her to release him. She had loved him and he needed to break her completely to leave her for good. It wouldn’t do to leave pieces of her for another man to collect and repair later«. Unwahrscheinlich erscheint es, dass Agnes trotz jahrelangem hohem Alkoholkonsum äußerlich attraktiv bleiben soll. Die Zustandsbeschreibung der Agnes ist infam gut, was aber in ihr passiert, scheint weniger gelungen geschrieben.
Warum spielt die Solidarität der Ärmeren untereinander höchstens eine Nebenrolle, so wie sie – hervorragend beschrieben – ansatzweise in der verelendeten ehemaligen Bergarbeitersiedlung auftaucht, in die es Agnes verschlagen hat?
Und warum macht der Autor nicht deutlicher, wie die von der Gesellschaft aufgezwungenen Lebensverhältnisse all dieses Grauen produzieren?
Mystisch erscheint auch das »Anderssein« des Shuggie, was öfter erwähnt aber nie wirklich erklärt wird. Oder meint er damit die eher erfrischende Tatsache, welches Selbstbewusstsein der Kleine früh entwickelt? Oder soll eine Homosexualität angedeutet werden? Vielleicht geht es auch um die Tatsache, dass Shuggie einfach »anders« ist, andere Musik hört, anders tanzt, ein »Anderssein«, was in vielen (sozial engen) Communities der achtziger keineswegs toleriert wurde (vgl. Anna Burns »Milkman«). Fazit:
Die Kritik ändert nichts daran, dass es ein großartiges Buch ist, das den Schrecken eines Lebens in heutiger Armut unglaublich präsent macht. Einem Kind, das unter weitgehender Verwahrlosung aufwächst und diese vermutlich in die nächste Generation transportieren wird.
Kindern, denen die Kindheit gestohlen wird ebenso wie die mütterliche Liebe – für ihr ganzes Leben
Das Buch schließt mit dem Zusammenleben des Teenagers Shuggies mit einer Freundin, an deren Mutter er exakt noch einmal sein eigenes grausiges Aufwachsen sieht. Und einer vagen Hoffnung: Vielleicht geht sie mit ihm tanzen und vielleicht lernt er es?
Schockierend gut
PS: Eine deutsche Übersetzung ist 2021 bei Hanser erschienen, es wäre spannend zu wissen, wie die den Roman mitprägenden Stellen im Glaswegian Dialekt übersetzt werden; dem Vernehmen nach als norddeutsches Idiom.
Das deutsche Titelbild jedenfalls ist – im Gegensatz zum Original – eine grobe Verzerrung des tatsächlichen Buch-Inhalts.
English
This »Shuggie Bain« is one of the rare books, which made me shudder again and again, stop reading after some pages and reflecting the immense hardness of fates with a youth in Glasgow and his alcohol addicted mother Agnes.
Maybe thats the main art of the author Douglas Stuart, bringing the fates of poverty, socially outdistanced people, hopeless lifes enhanced by Thatchers de-industrialization to painfull closeness to the reader. A hurting closeness that is.
A poorness destroying any childhood and youth, hiding tenderness and love, which is all such a small human is longing for. A life in devastasting environments, which makes people sick, stealing normal and creating though even more sickness.
A mother (Agnes) who lives of social welfare, receiving it monday and tuesday, but looking for ways to finance her alcohol already on thursday. She’s even prostituting herself, locking out her son, so »She sat drinkingthe dregs of old Lager and wondering where exactly her boy was hiding his childhood«.
A life where Suggies talented brother Leeks will never be able to pay for an art academy, leaving, as his sister her mother, (p. 125): »….away from their disintegrating mother.«
The boy is living in a Glasgow cab drivers society, which leads to a rape of Shuggie by a driver, while another driver declines his prostitution offer. All happening while the boy tries desparately to find his drinking mother on the town.
Really awful the relations between the sexes, culminating when Agnes (second) husband leaves her coldhearted with three kids on her own, declaring:
(p. 110): »He had to squeeze all the small bones in her hand to get her to release him. She had loved him and he needed to break her completely to leave her for good. It wouldn’t do to leave pieces of her for another man to collect and repair later«. Though fascinating, the book shows some crucial items:
- Why is there hardly any solidarity amongst the poor helping them selves?
- Why is Eugene, another taxi driver and Agnes new partner, bringin her back to alcohol?
- Sometimes its more a book on Agnes, Shuggies mother, her life destroyed by the fact, that none of her partnersd accept her, as she is.
- The fact, that Shuggie is somewhat different, likes different music, moves different while dancing, dislikes football is never really clarified. Did Stuart just want to to denounce the bullying of »different« people in tight knitted social communities in the eighties of last century (see Anna Burns »milkman«)?
Anyway its a really great narration, showing the horrors of life in poorness, socially distanced environments. Showing children growing up in dilapidation propably transferring that to the next generation.
The book closes with a vague hope, that a teenaged Shuggie might learn to dance with his young partner, quite a vague hope.
Scary while brilliant!
2022 rezensiert, Douglas Stuart, Englische Originalausgabe, Glasgow, Großbritannien, Picador Verlag, Schottland