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Titel-seglerin

Chris­tine Wol­ter
» Die Alleinseglerin

Autorin:Chris­tine Wolter
Titel:Die Allein­seg­le­rin
Aus­gabe:Auf­bau-Ver­lag, 1. Auf­lage Ber­lin 1982
Erstan­den:anti­qua­risch
Titel-seglerin-1982
Der Umschlag der Erst­aus­gabe 1982 in der DDR beim Auf­bau Ver­lag
© (Ent­wurf) Ger­hard Bunke/Aufbau Verlag

Allein der Titel »Die Allein­seg­le­rin« von Chris­tine Wol­ter, ver­öf­fent­licht 1982 in der DDR, macht schon neu­gie­rig, denn auch eine Nicht­seg­le­rin weiß, dass es sehr schwie­rig ist, alleine zu segeln. Das Segel­boot eine Meta­pher für Unab­hän­gig­keit und Frei­heit? Beson­ders inter­es­sant an die­sem Roman ist der Blick­win­kel, aus dem Chris­tine Wol­ter erzählt. Sie hat 1978 einen Archi­tek­ten aus Mai­land gehei­ra­tet, hat einen Aus­rei­se­an­trag gestellt und ist mit ihrem klei­nen Sohn nach Mai­land gezo­gen. Also vom süd­li­chen Mai­land aus betrach­tet sie die DDR, den mär­ki­schen See und erin­nert sich an die Mark, den See, an die Kie­fern und das Segel­boot, ein Drachenboot.

Almut, die Prot­ago­nis­tin, hat an die­sem See in der Mark Bran­den­burg immer den Som­mer zusam­men mit ihrem Vater ver­bracht. Das hört sich sehr idyl­lisch an, so war es aber kei­nes­wegs, das Dra­chen­boot, das vom Aus­se­hen her alle Boote über­ragte, war für ihren Vater das Wich­tigste. »Ich bewun­derte ihn. Ich ver­ach­tete ihn. Auto, Wald­stück, See­ufer, Ter­rasse, Haus – mir pass­ten diese Pri­vi­le­gien nicht zu sei­nen Reden von der neuen Gesell­schaft.« (S. 11) Es geht in die­sem Roman also nicht nur um das Ver­hält­nis Vater/Tochter, son­dern auch um Gesellschaftskritik.

Nach dem Tod des Vaters erbt sie die­ses Segel­boot nicht, son­dern sie hat es ihm vor sei­nem Tod abge­kauft. Sie hat sich also bewusst für die­ses Boot ent­schie­den und nimmt damit ihr Leben selbst in die Hand. Aber das Boot muss unter­hal­ten und drin­gend gewar­tet wer­den. Leis­ten kann sich Almut das kei­nes­wegs, sie schreibt ihre geis­tes­wis­sen­schaft­li­che Dok­tor­ar­beit und hält Semi­nare ab. Viel­leicht kann man jetzt schon erah­nen, was auch das Thema des Romans ist?

Sie hat viel von ihrem Vater gelernt, aber: »Ich stu­dierte Lite­ra­tur­wis­sen­schaft, die Kunst als Wider­spie­ge­lung der Wirk­lich­keit, aber die wirk­li­che Wirk­lich­keit begriff ich nicht. Unfass­bar blieb mir der Unter­schied zwi­schen wirk­li­chem und schein­ba­rem Wind.« (S. 22) Das ist jedoch nicht das größte Pro­blem, denn sie muss sich gegen eine von Män­nern domi­nierte Boots­be­sit­zer­welt durchsetzen.

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Foto aus dem DEFA Film glei­chen Titels.
Regie: Herr­mann Zscho­che, 1987) Foto­gra­fin: Christa Köfer (Quelle)

»Frauen ver­stan­den nichts von Autos und noch weni­ger vom Segeln. In einem Sturm konnte man sich nur einen Mann vor­stel­len, der unbe­irrt das Ruder legte und die Segel reffte, wäh­rend Frauen sich jam­mernd in der Kajüte ver­steck­ten.« (S. 141) Hier muss sie sich erst mal bewäh­ren und das kos­tet Zeit und Ener­gie. Sie ver­aus­gabt sich über Jahre hin­weg, nicht nur finan­zi­ell, son­dern auch kör­per­lich. Ihr Vater, der am See von allen bewun­dert wurde, kann sie nicht mehr unter­stüt­zen. »Der Pro­fes­sor schützt nicht mehr. Ich war nur ich: Frau Nichts, Frau Titel­los. Junge Frau mit dem Ton auf der ers­ten Silbe: Jun­ge­frau.« (S. 80) Um aner­kannt zu wer­den, ist jedoch fol­gende Erkennt­nis für sie wich­tig: »Aber ich habe wirk­lich geglaubt, das Boot mache mich zum Skla­ven, und dabei war ich es selbst.« (S. 204)

Almut kämpft um ihre Selbst­ver­wirk­li­chung auch auf sexu­el­ler Ebene, sie hat nur lose Män­ner­be­kannt­schaf­ten, die ihr »Klam­mer­wör­ter, Klam­mer­ge­dan­ken« (S. 34) vor­wer­fen. So macht sie sich Gedan­ken über eine andere Boots­be­sit­ze­rin, eine Male­rin, die die tra­di­tio­nelle Rol­len­ver­tei­lung nicht akzep­tie­ren will. »Mehr­mals benutzte sie das Wort Joch in bezug auf Män­ner und Kin­der, ein Joch, das sie nicht auf sich zu laden gedachte.« (S. 32) Diese Male­rin hat Selbst­be­wusst­sein, Almut ist von ihr beein­druckt, muss sich aber wei­ter­hin bei den männ­li­chen Boots­be­sit­zern durchkämpfen.

»Sie hat­ten es bestä­tigt, mit einem Mann ging die Arbeit voran, ein Mann hatte den Dreh gleich raus; die Frau, die sie mit Mäd­chen ange­re­det hat­ten, wurde zurück­ge­stuft, zum Hand­lan­ger, zum Gib-mal- und Hol-mal-Befehls­emp­fän­ger. Eine Welt­an­schau­ung war geret­tet. Sie nann­ten es natür­lich nicht Welt­an­schau­ung, son­dern Erfah­rung.« (S. 119) Auch hier Gesell­schafts­kri­tik, die sich immer wie­der auch an der Eman­zi­pa­tion fest­macht, wenn die Erzäh­le­rin von der »… gehor­sa­men Gleich­be­rech­ti­gung « (S. 207) spricht. Es geht also in dem Roman um die Selbst­ver­wirk­li­chung als Frau und dabei ist das Segel­boot eine Meta­pher für die Frei­heit und die Sehn­sucht, wonach auch immer! Nicht neu in der Lite­ra­tur, schon der alte Goe­the hat diese Meta­pher genutzt!

Johann Wolf­gang Goethe

Glück­li­che Fahrt
Die Nebel zerreißen,
Der Him­mel ist helle,
Und Äolus löset
Das ängst­li­che Band.
Es säu­seln die Winde,
Es rührt sich der Schiffer.
Geschwinde! Geschwinde!
Es teilt sich die Welle,
Es naht sich die Ferne;
Schon seh‘ ich das Land.

Nicht nur the­ma­tisch ist die­ser Roman lesens­wert, auch sprach­lich ist er beein­dru­ckend. »Unter den schwan­ken­den Kro­nen der Kie­fern hüpf­ten Son­nen­fle­cken auf dem Moos und den Nadeln hin und her, der Wald­bo­den war ein Tiger­fell, gefleckt und im zucken­den Sprung.« (S. 197)

So schöne Bil­der kann Chris­tine Wol­ter sprach­lich malen!

Auf der Suche nach dem eige­nen Ich – Sehr lesenswert!

Unterschrift
Mar­gret Hövermann-Mittelhaus

2023 rezensiert, Aufbau Verlag DDR, Christine Wolter, DDR, Frauenemanzipation