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WolterC-DieAlleinseglerin

Chris­tine Wol­ter
» Die Alleinseglerin

Autor:Chris­tine Wol­ter (DDR/Deutschland, 1982/2022)
Titel:Die Allein­seg­le­rin
Aus­gabe:Auf­bau Ver­lag, DDR, 1982, 1. Auf­lage / Ecco Ver­lag 2022
Erstan­den:Anti­qua­risch, auf Tipp der Tages­zei­tung »ND«
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Mit den Zei­ten ändern sich die Cover, die aktu­elle Neu-Aus­gabe im Ecco Ver­lag 2022
© Ecco Ver­lag – Ein­band­ab­bil­dung Sibylle Ber­ge­mann / OSTKREUZ

Der Titel mar­kiert den Inhalt, hier geht eine Frau ganz bewusst allein durch das Leben. Eine Frau in der DDR der acht­zi­ger Jah­ren, mit kri­ti­schem Blick. Die teils in der DDR und teils in Ita­lien lebt. Und mit dem Segeln im gekauf­ten (Drachen-)Boot das Ver­hält­nis zu und mit dem Vater abar­bei­tet. Einem Vater, den man auch stell­ver­tre­tend für die DDR bzw. ihre Nomen­kla­tura sehen kann, sie hält denen vor, was aus ihren Träu­men gewor­den ist.

Das wäre schon unge­wöhn­lich genug, aber hinzu kommt ein Sprach­zau­ber, von dem man auf den ers­ten Sei­ten (235 sind’s gesamt) gefes­selt, hin­ein­ge­so­gen wird. Und in dem man durch inten­sive Streif­lich­ter mit Roman­thema und -Leu­ten ein­lei­tungs­los ver­traut gemacht wird.

Über den Vater spricht sie,  S. 11: »Ich bewun­derte ihn, ich ver­ach­tete ihn … Mir pass­ten diese Pri­vi­le­gien nicht zu sei­nem Reden von der neuen Gesellschaft.«

Ein Vater, preis­ge­krön­ter DDR-Archi­tekt, der die Fami­lie ver­lässt, als die Toch­ter 11 war. Par­al­lel zum Abar­bei­ten an dem Vater lie­fert die Wol­ter Gedan­ken­bil­der aus Ber­lin, aus Bran­den­burg und aus der Lom­bar­dei. Viel­leicht etwas geschönt, aber auch immer mit Augen­zwin­kern. Und reflek­tiert ihre Rei­sen ins andere Land, S. 21:»Warum also wie­der die­ses Fort­wol­len, Umschlag des Fern­wehs? Will man woan­ders sein, um anders zu sein?«

Gera­dezu atem­los liest man ihre Pas­sa­gen, was Segeln und Segeln ler­nen heißt, viel­leicht auch, weil ich in eben die­ser Land­schaft erste Segel­erfah­run­gen gemacht habe. Wobei im Buch das Segeln fast syn­onym für Erin­ne­run­gen an den Vater steht. Beein­dru­ckend ihre Gesprä­che mit dem Freund Wer­ner, ob man das Segel­boot kauft, einen Dra­chen, wie ihn der Vater hatte. Gesprä­che, die aber gleich­zei­tig Gesprä­che über eine Part­ner­schaft sind. Wun­der­bar die Ver­hand­lun­gen zwi­schen Käu­fern und Ver­käu­fern des Boots, die bei ihr zu Begeg­nun­gen von Geschich­ten und Wel­ten werden.

Sie kauft das Boot, trotz knap­per Finan­zen und reflek­tiert vorab, was das Leben mit die­sem Boot brin­gen kann, S. 48/49: »Das Boot ist ange­füllt mit die­sem Stoff, des­sen Zusam­men­set­zung ich noch nicht kenne.« Sie reibt sich auf mit die­sem Boot, das sie sich nicht leis­ten kann, aber es ist auch ein Auf­be­geh­ren gegen gön­ne­ri­sche Sprü­che wie: Junge Frau, das is nix für Sie. Hinzu kom­men DDR-Spe­zi­fika, die Suche nach einem geeig­ne­ten Mate­rial für eine Abdeck­plane treibt sie durch ganz Ber­lin nebst Vor­or­ten, was mit die­sem Satz ver­ar­bei­tet wird, S. 86: » Die Suche war keine ein­sied­le­ri­sche Beschäf­ti­gung wie meine Abend­stu­dien.« Denn einen Part­ner hatte sie zu der Zeit nicht, nur einen Sohn und ein Drachenboot.

Georg, eine neue Bekannt­schaft spot­tet über Besor­ge­rei, sei­ner­zeit DDR-typisch, spot­tet in Anleh­nung an Par­tei-Slo­gans, S. 91: »Eine ganze sich ent­wi­ckelnde Gesell­schaft rennt ihren sich ent­wi­ckeln­den Bedürf­nis­sen hin­ter­her?« Und kri­ti­siert: »… die­ses Besor­gen müs­sen ist doch nur ein Vor­wand … , sich zu beschäf­ti­gen, sich aus­zu­fül­len …«. Wor­auf­hin sie ihn rät­seln lässt: » Ich brau­che eine Sache, um eine Sache zu erhal­ten, von der ich mich befreien muss.«

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Die Autorin, abge­bil­det auf der Umschlag­klappe der DDR-Aus­gabe des Jah­res 1982
© Auf­bau Verlag

Wun­der­schöne Satz­spiele aus der poe­tisch geschil­der­ten Begeg­nung mit einem Georg – Epi­sode wie vie­les. Auch ihr distan­zier­tes Ver­hält­nis zum eige­nen Kind, S. 126: »Mein ver­nach­läs­sig­tes Kind, mein Abgebe- und Abhol­kind …«. So schafft sie das Mut­ter-Kind Ver­hält­nis mit weni­gen Wor­ten auch emo­tio­nal zu fassen.

Satz­spiele mit Hin­ter­sinn, S. 95: »Wer weg­geht ver­gisst uns, der gibt alles auf, der gibt uns auf, der kann nichts mehr von uns erwar­ten.« – gemünzt auf schei­dende Mit­glie­der der Seg­ler­ge­mein­schaft und gleich­zei­tig das Dilemma der DDR der acht­zi­ger benen­nend. Und wer geht, wer schon anderswo lebt, für den sagt sie, S. 115: »Heim­weh ist auch eine Art von Liebe, eine schüch­terne, nachträgliche.«

Für mich ist vie­les in der Allein­seg­le­rin vor­züg­lich kom­pri­mierte DDR Dar­stel­lung, so S. 55 anläss­lich des Kaufs ihres Dra­chen­boots, S. 55, » Ich begriff, dass der Name Gebraucht­boot­messe aus dem Bezirks­wör­ter­buch der Ver­schö­ne­rungs­wör­ter stammte.« Mit dem Tod ihres Vaters, einer hoch­ge­stell­ten DDR/Persönlichkeit gelingt ihr eine der ein­drucks­volls­ten Buch­pas­sa­gen, S. 49: »Die geal­ter­ten Genos­sen der stür­mi­schen Jahre tru­gen Per­sia­ner­müt­zen, die Frauen schwere Pelze.«

Dabei beschreibt sie die­sen gro­ßen Haupt­stadt­markt (in den Zei­tungs­klein­an­zei­gen) als einen Hexen­sab­bat der schwe­ren Ver­stöße gegen die Prin­zi­pien des Sozia­lis­mus. Mit dem bei­ßend kari­kier­ten Lock­wort »Import! Import!« und ihrem Blick hin­ter das Vor­der­grün­dige der (Er-sucht-Sie)Anzeigen, S. 60: »Unwill­kür­lich glitt mein Blick über die Abtei­lung, wo die Leute nichts boten, außer sich selbst, oder Wesen such­ten, die ihnen ähnelten.«

Und wie­der kurze Schlag­lich­ter aus dem ver­gan­ge­nen Deutsch­land, 500 Mark gab’s fürs erste Kind, eine Tro­cken­schleu­der hat sie sich davon gekauft. Aber das Kind bleibt nur blasse Bei­gabe in einem gepress­ten Leben zwi­schen wis­sen­schaft­li­cher Arbeit, Geld dazu ver­die­nen, Boots­un­ter­halt und Segeln mit Gästen.

Mit­tig im Buch wech­selt sie den Kutte zur Fast-Haupt­fi­gur, den Gele­gen­heits­mau­rer, den Alles­kön­ner und Alles-Besor­ger, des­sen abso­lute Boden­stän­dig­keit so scharf mit ihr kon­tras­tiert. Und der äußert, wenn ick ver­rei­sen muss, kriege ick Magen­schmer­zen. Der so ein voll­stän­di­ger, ruhen­der Gegen­pol zu ihr ist, »alt­ein­ge­ses­sen, zu kei­nem ande­ren Ort fähig …« und, nicht zu ver­ges­sen, »Stand­ort wird gerne mit Stand­punkt ver­wech­selt.«; S. 220.

Ich könnte noch sei­ten­weise Bei­spiele die­ses wun­der­sa­men Schrei­bens zitie­ren, wie auf S. 133: »… eine Ange­stellte abge­trie­ben in den All­tag, den sie ver­ach­tet hatte, zwi­schen Qua­li­täts­män­geln und Ver­sor­gungs­eng­päs­sen … » Prä­gnant auch Anmer­kun­gen zur Eman­zi­pa­tion, anläss­lich eines leicht miss­glück­ten Anle­ge­ma­nö­ver mit Freun­den auf ihrem Boot, S. 162: »Die typisch weib­li­che Unge­nau­ig­keit … Eine Art weib­li­ches Prä­zi­si­ons­de­fi­zit«, meint der tem­po­räre Part­ner. Dem sie prompt ent­geg­net: »Oder Groß­zü­gig­keit … Man könnte auch sagen männ­li­ches Toleranzdefizit.«

Über ihr Ver­hält­nis zu Ita­lien und der DDR spricht sie, mit­ten in der Mai­län­der Som­me­hitze, zu ihren ita­lie­ni­schen Freun­den, S. 167: »Ich brau­che sie immer noch. Die mat­ten Far­ben die­ser Rent­ner­land­schaft, ihren lei­den­schafts­lo­sen Ton und die beschei­dene Dra­ma­tur­gie klei­ner Bege­ben­heí­ten, die sie hervorbringt.«

Über Bücher und Lesen heißt es bei ihr, S. 222: »Merk­wür­dig, wie sich die Bücher ver­än­dern mit unse­rem Älter­wer­den … Wie alt muss man wer­den, um alle Les­ar­ten erfah­ren zu kön­nen?« Und im Kon­trast zu ihrem eige­nen Ver­hal­ten, S. 223: »Sich erin­nern, das ist: sich von den Gegen­stän­den zu befreien.« Eine der typi­schen Stel­len, warum ich kon­sta­tiere, es ist auch ein klu­ges Buch, mit Sät­zen vol­ler hilf­rei­cher Philosophie.

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Das Titel­bild der DDR-Aus­gabe von 1982. die ich gele­sen habe.
© (Ent­wurf) Ger­hard Bunke/Aufbau Verlag

Nach einem Som­mer mit vie­len unter­schied­li­chen Segel­gäs­ten hat sie es satt und ent­schei­det sich fürs Allein­se­geln. Und beschreibt lange, wie sie den Tri­umph des Allein­se­gelns genießt, die Früchte ihrer Arbeit, mit Sät­zen vol­ler Gefühl und Sinn, Sät­zen zum Mit­den­ken. Und Sät­zen mit phi­lo­so­phi­schem Inhalt, über das Erken­nen ande­rer und des eige­nen Ichs. Über das Ver­hält­nis zu ihrem Boot und ande­ren Sachen.

Am Ende des Buchs kommt sie auf die Trauer um den Vater zurück, den sie fragt, ob er nicht hätte mehr sein kön­nen als Käptn? Die Aus­ein­an­der­set­zung mit dem Vater, inmit­ten des eige­nen Alterns erscheint als ein zen­tra­les Ele­ment der »Allein­seg­le­rin«, frei­lich kein unpo­li­ti­sches, S. 229: »… mit uns geht die neue Zeit, und sie gibt Dir zu bauen: Schu­len, Sana­to­rien, eine Pracht­straße fürs Volk. Unbe­schränkt vom Pri­vat­be­sitz, beschränkt im Geschmack …«. Und setzt fort, S. 230: »Ich war ein­mal auf einem Begräb­nis. Es war ein kal­ter Febru­ar­tag mit frisch gefal­le­nem Schnee. Die Genos­sen der Glanz­jahre waren alt gewor­den, sie erschie­nen wie Mumien in ihren edlen Pelzen.«

Nicht dass es keine Kri­tik an dem Buch gäbe. Merk­wür­dig bleibt die Dar­stel­lung zum Kind der Erzäh­le­rin, bes­ten­falls eine schmü­ckende Bei­gabe, kein Lebens­in­halt. Warum gibt es nichts zum Leben der Mut­ter? Etwas wie ein Ziel der Erzäh­lung habe ich nicht aus­ma­chen kön­nen. Oder doch: Bil­der eines Lebens in der DDR der acht­zi­ger, Arche­ty­pen im ver­gan­ge­nen deut­schen Staat? Und das Erin­nern an das eigene Ich?

Unklar ist mir auch geblie­ben, ist sie zer­ris­sen zwi­schen der DDR und Ita­lien, oder der grauen Mark und dem lich­ten Süden? Wel­che Rolle spielt das Leben in zwei Län­den eigent­lich, nur das Fern­weh der Leser zu füttern?

All das tritt aber zurück hin­ter dem mäch­ti­gen Sprach­zau­ber der Autorin, ihren Wort­bil­dern. Den hin­ter­grün­dig kom­po­nier­ten Sät­zen, in denen man so viel ent­de­cken kann. In denen man, genaues Lesen vor­aus­ge­setzt so vie­les über den unter­ge­gan­ge­nen Ver­such des unter­ge­gan­ge­nen Deutsch­lands ler­nen kann. Buch voll mit Kom­po­si­tio­nen des Erzäh­lens, die einen immer wie­der zum freu­di­gen Stau­nen bringen.

Und die so viel des Lebens in einem längst ver­gan­ge­nen Staat, aber auch dar­über hin­aus trans­por­tie­ren kann. Des Lebens einer Frau, einer Alleinseglerin.

Superb, eines der Bücher des Jahres


Nach­trag 1

Höchst erfreu­lich, dass der Ber­li­ner Ecco Ver­lag im August ’22 eine Neu-Aus­gabe her­aus­ge­bracht hat. Das Cover dem Zeit­geist geschul­det, gute Lite­ra­tur ver­kauft sich nicht mehr allein – man sieht es gut im Ver­gleich der Titel­bil­der. Die Neu-Aus­gabe hat übri­gens dafür gesorgt, dass die Preise für die Ori­gi­nal­aus­gabe aus der DDR von 1982 auf über 40 Euro hoch­ge­schos­sen sind. Wir haben sei­ner­zeit 8 Euro dafür bezahlt …

https://​www​.ecco​ver​lag​.de/​b​u​e​c​h​e​r​/​d​i​e​-​a​l​l​e​i​n​s​e​g​l​e​r​i​n​-​c​h​r​i​s​t​i​n​e​-​w​o​l​t​er/


Nach­trag 2

Eine weit­ge­hend andere, aus­ge­zeich­nete Rezep­tion des Titels fin­det man bei Gun­nar Decker in der Ber­li­ner Tages­zei­tung »ND«.
Durch die­sen Text bin ich erst auf die Allein­seg­le­rin auf­merk­sam gewor­den, mei­nen Dank an Zei­tung und Autor. Ich finde es fas­zi­nie­rend im Ver­gleich mit G. Deckers Text, wie unter­schied­lich man ein Buch rezi­pie­ren kann. Und fühle, dass das im Wesent­li­chen den Sozia­li­sa­ti­ons-Unter­schie­den (West/Ost) der Autoren geschul­det wird.


Nach­trag 3:

Das erste Mal auf unse­rem Blog wird es zu einem Buch eine Rezen­sion von mir und eine von mei­ner Frau geben, ein abso­lu­tes Novum. Um uns darin nicht allzu sehr gegen­sei­tig zu beein­flus­sen, haben wir uns erst nach erfolg­ter Rezen­sion inten­siv zum Titel ausgetauscht.

2023 rezensiert, Aufbau Verlag DDR, Christine Wolter, DDR, Ecco Verlag