
Felix Lobrecht
» Sonne und Beton
Autor: | Felix Lobrecht (Deutschland, 2018) |
Titel: | Sonne und Beton |
Ausgabe: | Ullstein Taschenbuch, 2021, 15. Auflage |
Erstanden: | Antiquarisch |
Nach dem Alter des Autors, dem Namen der Handies (Tastenhandy, Sterntaste) darf man schlussfolgern: Das ist so vor rund 20 Jahren entstanden. Nur um mal eine Marke zu setzen, also vor dem Siegeszug der Smartphones. Nicht ganz unwesentlich, um manche Handlung zu manchen Verlauf und verstehen. Was sowohl für die 2023 entstandene Verfilmung (Berlinale Erfolg) als auch für die bei Hanser erhältliche Grapic Novel dazu gilt. Genauso fürs Hörbuch und für den großen Verkaufserfolg (15. Auflage) des Buchs.
Die andere Markierung: Es spielt unter Jugendlichen in einem der Berliner Betonghettos, in der Gropiusstadt, am Stadtrand von Neukölln gelegen. Genau dort, wo vor fast 50 Jahren »Christiane F.«, die Geschichte der Kinderprostitiuerten und Heroin-Abhängigen, begann. Und wenn man »Sonne und Beton« liest, bekommt man den deutlichen Eindruck: Es hat sich, in mehr als 40 Jahren wenig geändert seither. Jedenfalls nicht zum Guten. Und mit der Vertreibung in die Außenbezirke und dem Hartz IV / Bürgergeldschwindel werden die schon schlimmen Verhältnisse weiter zementiert. Zumal der CDU/SPD Senat aktuell (Sommer 2023) verlauten lässt, gerade im sozialen Bereich Mittel kürzen zu wollen. Sozialarbeit überlässt die Law-and-Order Fraktion lieber der Polizei, siehe die Situation in den Freibädern.
Es gibt in der Stadt wesentlich mehr als dieses eine Ghetto, die dazu zählen die ebenfalls in . Neukölln befindliche High-Deck Siedlung, dann Marzahn-Hellersdorf, das Märkische Viertel, die Siedlung Heerstraße-Nord und wie sie alle heißen. Und aus allen von ihnen können ähnliche Geschichten erzählt werden, aus allen …
Der Autor, der selbst in Gropiusstadt aufgewachsen ist, erzählt eher über die Verlierer unter den Jugendlichen dort. Abgehängt sind sie, perspektivlos, arm, ohne Zukunftsaussichten. Lobrecht erzählt bestechend nah am Alltag von Menschen und Kiezen, von denen sonst gar nicht geschrieben wird, oder nur in negativen Schlagzeilen. Die Jugendlichen in diesem Buch hangeln sich von Tag zu Tag, sind Kriminellen ausgesetzt, einer eruptiven Gewalt. Wollen cool sein, abhängen, träumen von Geld, Einfluss, Macht – alles, was sie nicht haben. Lobrecht erzählt aus der Sicht der Looser, nicht der Angeber.
Sie leben in kaputten Wohnungen, mit kaputten Familienverhältnisse (die eher zu wenig geschildert werden), und allgegenwärtiger Gewalt. Die Schule, in die sie – sporadisch – gehen, erscheint eher sinnlos, die Lehrer eher hilflos, weitab von der Lebensrealität ihrer Schüler.

Sie unterliegen einem irren Druck nach Markenklamotten. So heißt es gegenüber einem aus Marienfelde kommendem Jungen, der in der Gropiusstadt massiv gemobbt und terrorisiert wird, S. 164: »Und er sieht nicht nur aus, wie der letzte Deutsche, sondern trägt auch noch Klamotten, bei denen man auf den ersten Blick sieht, dass er von irgendwo anders ist.«
Ganz neu für mich waren im Buch benannte Ghetto-Unterschiede: Ein farbiger Junge, ein Kubaner, der sich mit großer Schnauze schon in Marzahn durchgeboxt hat, fragt ob’s hier viele Nazis gibt. Und erhält zur Antwort: Nazis gibt’s hier nicht, in Gropiusstadt, die würden hier nicht lange überleben. Während er zur alten Heimat sagt, S. 48:»… in Marzahn und Hellersdorf jibs nur Deutsche, Russen und Fitschis. Die Russen sind die schlimmsten«.
Über die Gropiusstadt aber erweckt der Autor den Eindruck des umgekehrten Rassismus: Nach einer Schlägerei heißt es, S. 30: »Ich wette, wenn Julius und ich nicht Deutsch wären, hätten die nichts gemacht.« Oder später, S. 165: »Als Blonder, der keine Leute kennt, ist Neukölln echt Krieg.« Also Rassimus umgedreht, der sich sonst an den »schwarzhaarigen« austobt. Also Rassismus gegenüber Deutschen (oder was man dafür hält), die der Macht von türkischen und arabischen Gangs ausgesetzt sind, denen man tunlichst ausweicht oder sich mit ihnen arrangiert.
Marihuana gibts überall, es wird auch damit gedealt. Wer die größten Tüten dreht oder den härtesten Stoff hat, gilt im Viertel etwas. Die Jugendsprache nervt im Lesefluss auf Dauer etwas, erscheint aber angemessen und gibt ein Feeling von Gropiusstadt: »Wallah«, »Ich schwöre «, »Du Opfer«, »Bist Du behindert?« oder »Ich fick Dich!« ; das als kleine Auswahl. Es darf in beliebigen Kombinationen und oft wiederholt eingesetzt werden.
Dem Sohn der Marienfelderin Karin wird geraten, Umwege zu fahren, um dem Mobbing der Gropiusstädter aus dem Weg zu gehen. Und auf ihr Beharren erklärt er, ich kann Dir doch jetzt nicht Neukölln erklären – die Jungs sind selber hilflos.
Ihre Armut müssen sie öffentlich erklären, dass geht so: Schulbücher, Schullektüre muss jeder selber kaufen. Wer das nicht kann, muss das in der Klasse sagen, um es umsonst zu bekommen …
Wie die Jugendlichen selbst ihre Situation einschätzen, wird beim Besuch des älteren Bruders des Protagonisten Lukas, von Marco, ausgesprochen, S.57: »Gropiustadt steht noch … und schöner ist auch nich geworden hier. Aber wenigstens Sommer. Jetzt ist nicht mehr nur Beton, sondern Sonne und Beton …«
Marco, einige Jahre älter als Lukas, hat es aus dem Ghetto geschafft, hat sich dort als einer der ganz Harten durchgesetzt. Und er warnt wissend den kleinen Bruder, S. 58: »Ich habe früher auch viel Scheiße gebaut, ja. Jeden Tag Schlägereí, mit den ganzen Kanaken rumgehangen, klauen, ticken, dies und das … Aber eins will ich Dir sagen … Fick nich’ mit den falschen Leuten, ja! Ich schwör’s Dir, du weißt, was für Psychos hier rumlaufen. Irgendwelche kranken Ficker, die dich abstechen wegen zehn Euro oder so.«

Mit anderen Worten, das soziale Klima in der Gropiusstadt ist seit Marcos Zeiten noch viel härter, noch »kränker« geworden. Marco weiter, S. 64: »Aber heute? Alter, die Jungs heißen nicht mehr Schläger-Peter, sondern Ich-fick-Deine-Mutter-und-stech-Dich-kaputt-Abdul. Was willst Du mit denen groß reden, ich schwör’s Dir.« Wobei die Rolle des Marco nicht eindeutig wirkt. Dafür, dass er seiner Vergangenheit angeblich abgeschworen hat, kennt er doch noch sehr viele Verbindungen zu aktuellen Gangs.
In ihrem ziel- und perspektivlosen täglichem Treiben, immer in der Hoffnung auf etwas, was ihnen Geld und Geltung verschafft, überfällt einer von ihnen einen Taxifahrer mit Pfefferspray, Beute weniger als 30 Euro. Lukas tut das Opfer leid, er begehrt aber nicht auf, man steht unter Gruppenzwang.
Das entwickelt sich zum Handlungshöhepunkt. Die Schule erhält eine Ausstattung mit Computern, damals etwas Seltenes und Besonderes. Darauf fällt den »Helden« nichts Besseres ein, als die frisch aufgestellten Rechner zu klauen. Das wird zu einer völlig verpeilten Klau- und Verkaufsaktion, die zeigt, welch absoluten Amateure am Werk sind. Alle PCs zu klauen scheitert am Gewicht und mangels Transportmittel. Bei der Suche nach Hehlern wird’s ruppig, soweit sie nicht mächtig über den Tisch gezogen werden, droht ihnen deutlich Schlimmeres. Aber mit erzielten 800 Euro Verkaufspreis können einige der ersehnten Markenklamotten erstanden werden. Wobei sie im Stillen den frustrierten Lehrern recht geben müssen, die sich nämlich den Hintern aufgerissen hatten, um die Schüler am PC unterrichten zu können. Und als einer aus der Truppe, Gino, von seinem gewalttätigen Vater ins Krankenhaus geprügelt wird, zeigt sich die ganze Hilflosigkeit der Gruppe. Und danach? Genau wie vorher: Sonne und Beton!
Es ist ein beeindruckendes, auch erschreckendes Buch, einfach weil es einen Alltag von Menschen und ihren Lebenswelten widergibt, von denen wir eher wenig oder nichts hören. Und höchstens, wenn es im Boulevard mal für eine Schlagzeile gut ist. Lobeck aber geht im Detail auf den Alltag abgehängter Jugendlicher in der Gropusstadt ein. Das für mich furchtbarste ist die absolute Perspektivlosigkeit, die daraus spricht. Und das das Buch, wenn man genau hinschaut, auch Mechanismen zeigt, die dazu führen. Und das sich seit den achtziger Jahren, als ich selbst solche Jugendliche unterrichtet habe (Hauptschulabschluss nachholen), nichts zum Positiven gewendet hat.
Das Buch haben wir in unserem Lesekreis intensiv besprochen. Wir fanden es eindrucksvoll, mitten in Realitäten zu sein, denen wir im Alltag nur begrenzt begegnen. Der geschilderten Gewalt gegenüber zeigten wir uns hilflos. Aber es gab einen schönen Hoffnungsschimmer: Eine von uns, schwerbehindert, Rollifahrin, lebt selbst genau dort, in der Gropiusstadt. Und erzählt: Wenn ich vom Einkaufen komme, oder zurück ins Haus will, kann ich gar nicht so schnell gucken, wie mir Hilfe angeboten wird: Meist von migrantischen Jugendlichen. Was ich als regelmäßiger Nutzer der Öffis nur unterstreichen kann. Will sagen: Vieles hat zwei Gesichter – mehr als heutige Medien jedenfalls darstellen.
Sehr lesenswert
2023 rezensiert, Berlin, Felix Lobrecht, Fijis, Ghetto, Gropiusstadt, Kanaken, Nazis, Rassismus, Ullstein Verlag