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Julia Franck
» Wel­ten auseinander

Autorin:Julia Franck
Titel:Wel­ten auseinander
Aus­gabe:Fischer Ver­lag, Frank­furt am Main 2011
Erstan­den:anti­qua­risch
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Nach zehn Jah­ren Pause mel­det sich Julia Franck mit einer auto­bio­gra­fi­schen Coming-of-Age-Geschichte zurück (Buch­co­ver: S.Fischer Ver­lag, Hin­ter­grund: Gerda Bergs) | Quelle

Was will Julia Franck uns erzäh­len in ihrem Roman, der kein Roman ist, auto­bio­gra­fi­sche Züge trägt, aber keine Auto­bio­gra­fie ist? Warum muss ich wis­sen, dass ihre Groß­mutter und ihre Mut­ter die Grö­ßen der Lite­ra­tur aus der DDR – Hei­ner Mül­ler, Christa Wolf, Ste­fan Herm­lin, Wolf Bier­mann, Nina Hagen, usw. – nicht nur gekannt, son­dern auch mit ihnen kom­mu­ni­ziert hat? Auch zu Robert Have­mann hat­ten sie Kon­takt. Diese Kon­takte wer­den aber nicht näher erläu­tert, hat man über Lite­ra­tur dis­ku­tiert oder über Poli­tik? Warum stellt die Erzäh­le­rin zunächst mehr oder weni­ger lei­den­schafts­los ihr Erwach­sen­wer­den in der nord­deut­schen Pro­vinz vor? »Es war eine uns gänz­lich unbe­kannte Welt, die west­li­che Welt des Wirt­schafts­wun­ders mit ihren länd­li­chen Dör­fern um die Kreis­stadt, eine Welt, die sich dort mit ihren Klein­fa­mi­lien zeigte, ihrem uns noch unbe­kann­ten Geschlech­ter­ver­hält­nis, in denen es meist einen Vater gab, der das Geld ver­diente … und eine Mut­ter, die Mann und Kin­der lie­be­voll und haus­hal­tend umsorgt … « (S. 126).

Die Mut­ter hat mit ihren Kin­dern nach einem Aus­rei­se­an­trag die DDR in den 70er Jah­ren ver­las­sen. Warum, kann man nur erah­nen. Hat die Erzäh­le­rin unter dem Leben in der nord­deut­schen Pro­vinz gelit­ten? Die Fami­lie lebt in einem alten Bau­ern­haus, zum Teil ohne Strom und Hei­zung, baut ihr Gemüse sel­ber an, die Mut­ter ist Ego­ma­nin, die Kin­der müs­sen die Arbei­ten erle­di­gen und neben­her durch Ver­tei­len von Wer­be­zet­teln Geld ver­die­nen. Die Kin­der gehen zur Wal­dorf­schule und heute würde man die Fami­lie viel­leicht als ›Aus­stei­ger‹ bezeich­nen, sie leben auf einem alten Bau­ern­hof mit Fens­tern ohne Gar­di­nen, so dass die Dorf­be­woh­ner sehen konn­ten, wie die Mut­ter nackt durch die Woh­nung tanzt. Sie wer­den besucht von Mit­glie­dern ande­rer bun­ter Land­kom­mu­nen und Sann­ya­sins (die mit den oran­ge­nen Kla­mot­ten). Die Fami­lie lebt von der Sozi­al­hilfe, aber lei­det die Ich-Erzäh­le­rin dar­un­ter? Sie spricht davon, dass sie das Ver­hal­ten der Mut­ter als ›pein­lich‹ emp­fin­det. »Anfangs ärger­ten wir uns noch und baten sie darum, bitte nicht im geflick­ten Bau­ern­hemd, das sie als Kleid über­ge­wor­fen hatte, bar­fuß zur Monats­feier in unsere Schule zu kom­men. Da sie täg­lich mehr als eine Schach­tel Ziga­ret­ten raucht …, roch sie nicht nur nach Ziege und Schwein, Mensch und Knob­lauch, son­dern auch nach Asche.« (S. 130). Das Lei­den der Ich-Erzäh­le­rin wird erst durch Rück­bli­cke deut­lich. »Der Wunsch weg­zu­tau­chen tauchte auf, immer wie­der. Ich war zwölf Jahre alt und wollte ver­schwin­den.« (S. 167).

Aber immer noch ist die Dar­stel­lung sehr zäh! Die Erzäh­le­rin erhält uner­war­tet Post, aber die Ziege hat die Hälfte des Brie­fes gefres­sen. »Ich schämte mich zu Tode. Nie­mals hätte ich irgend­je­man­dem schrei­ben und sagen kön­nen, in wel­chem Irren­haus ich lebte.« (S. 160). Ab jetzt taucht das Wort ›Scham‹ sehr häu­fig auf. Was ver­steht man unter Scham? Viel­leicht ein unan­ge­neh­mes Gefühl, wenn man sich vor ande­ren Men­schen in einer pein­li­chen Situa­tion befin­det? »Bei der Rück­gabe der ers­ten Klau­su­ren bra­chen man­che Schü­ler in Trä­nen aus, es gab fast nur Vie­ren und Fün­fen, eine Drei und eine Eins. Ich wurde rot vor Scham.« (S. 262). Die Beschrei­bung des Vaters: »Die Krank­heit, das Ster­ben, die Ver­bände am Hand­ge­lenk – er schämte sich für alles.« (S. 264). Aber: »Er schämte sich nicht, dass er unse­rer Mut­ter im Wes­ten über Jahre den Unter­halt für uns vor­ent­hal­ten hatte.« (S. 267). »Ich wollte nie­man­den nei­disch, unglück­lich und wütend machen. Zeig nicht, was du kannst. Ich lernte Scham.« (S. 34). »Meist aber schämte ich mich allein für mich selbst.« (S. 165). »Da ich oft mit dem Ärmel ver­suchte, meine Hände zu bede­cken, sie über die Fäuste und Fin­ger zog, hat­ten meine Ärmel unzäh­lige kleine Löcher am Saum. Ich schämte mich.« (S. 188). »Not und Scham der Kind­heit sind in den weit über zwan­zig Tage­bü­chern abge­legt.« (S. 190). Wäre es nicht bes­ser gewe­sen, sprach­li­ches Pathos und die dau­ernde Beschwö­rung von Scham etwas weni­ger ein­zu­set­zen? »Wäre es nicht ehr­li­cher gewe­sen, den Stolz (es trotz allem geschafft zu haben) hin­ter der Scham zu the­ma­ti­sie­ren?« (Die Welt vom 2.10.2021).

Lang­sam wird deut­lich, wor­un­ter die Prot­ago­nis­tin lei­det, nicht dar­un­ter, dass die Fami­lie arm ist, dass sie Haus­ver­bot bei Kar­stadt hat, weil sie geklaut hat, son­dern ihr fehlt Mut­ter­liebe, Gebor­gen­heit. Die Erzäh­le­rin wech­selt die Erzähl­per­spek­tive vom Ich zum Es. »Es weint, dass es sich nicht mehr erin­nern könne, wann es zum letz­ten Mal in den Arm oder auf einen Schoß genom­men wor­den sei. … Ver­mut­lich nicht von sei­ner Mut­ter. Es kann sich nicht erin­nern, wann ihm jemand zum letz­ten Mal Gute Nacht oder Guten Mor­gen gesagt hat.« (S. 157). Jetzt wird uns das Lei­den der Prot­ago­nis­tin bewuss­ter, denn sie ent­schließt sich als Zwölf­jäh­rige ihre Fami­lie zu ver­las­sen und nach West­ber­lin zu gehen – allein! Jetzt wird deut­li­cher, worum es eigent­lich geht, um das kalte Fami­li­en­klima und das Erwach­sen­wer­den einer jun­ger Frau. In West­ber­lin beginnt ihre Lie­bes­ge­schichte, hier erfährt sie Nähe und Geborgenheit.

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»Wenn es dann doch jemand Roman nennt, ist es gar nicht so ver­kehrt«, sagt Julia Franck. ©?Mathias Bothor | Quelle

Immer wie­der geht die Erzäh­le­rin in die Ver­gan­gen­heit und die Ver­zwei­gung ihrer Fami­li­en­ge­schichte zurück, was zu Wie­der­ho­lun­gen und Län­gen in der Erzäh­lung führt. Warum muss sie immer wie­der beto­nen, dass ihre Groß­mutter und Mut­ter die Grö­ßen der DDR per­sön­lich gekannt haben? Auf der Suche nach einer Pfle­ge­fa­mi­lie: »Wir sind acht Monate alt. Bier­mann hat wohl bei der Ver­mitt­lung gehol­fen … Tag und Nacht leben wir jetzt dort, Monat um Monat. Sie wohnt in der Chaus­see­straße auf der­sel­ben Etage wie Bier­mann und Eva-Maria.« (S. 296). Auch die Ich-Erzäh­le­rin betont diese Kon­takte immer wie­der: »Manch­mal hatte Nina (gemeint: Nina Hagen) für und mit uns gesun­gen und faxen gemacht.« (S. 169). Auch in der West­ber­li­ner WG stellt sie uns Pop Iko­nen vor, wenn sie über ihre Mit­be­woh­ne­rin spricht: »Ich starb vor Ver­le­gen­heit. Allein, dass und wie sie stän­dig von Wim (gemeint: Wim Wen­ders) sprach, erschien mir pein­lich … Sie ver­göt­terte David Bowie anders als ich weni­ger für seine Musik als für sei­nen Sex, also schämte ich mich für sie, wie sie Details ihrer bis­her ein­zi­gen gemein­sa­men Nacht zum Bes­ten gab.« (S. 277). Hat die Erzäh­le­rin Min­der­wer­tig­keits­kom­plexe? Auch hier: »Sel­ten besuchte ich Rai­ner auf sei­nen Arbeits­rei­sen im Grand Hotel auf der Fried­rich­straße in Ost­ber­lin, wo er für den Spie­gel die ers­ten Nächte des Mau­er­falls Anfang Novem­ber 1989 filmte.« (S. 281).

Warum muss ich als Leser/Leserin wis­sen, wel­che berühm­ten Men­schen sie kennt, gekannt hat und gekannt hatte? »Trotz­dem ent­fal­tet sie auf ein­dring­li­che Weise eine sehr per­sön­li­che Geschichte über die Fremd­heit im eige­nen Lebens­um­kreis … « Quelle. Ein­spruch erhebe ich jedoch, wenn gesagt wird, dass ihre Art zu erzäh­len » … durch­aus mit Annie Ernauxs ›Die Jahre‹ ver­gli­chen wer­den kann.« Quelle

Arnie Ernaux (hier rezen­siert) ist eine sehr poli­ti­sche Schrift­stel­le­rin, die immer wie­der auf die poli­ti­sche, wirt­schaft­li­che und soziale Ent­wick­lung in Frank­reich der 40er bis 90er Jahre hin­weist, und damit auf die All­ge­mein­gül­tig­keit ihrer Aus­sa­gen. Das ist bei Julia Franck kaum zu fin­den, es han­delt sich bei ihr eher um eine sehr per­sön­li­che Geschichte.

»Eine sehr per­sön­li­che Geschichte über die Fremd­heit im eige­nen Lebensumkreis«

Unterschrift
Mar­gret Hövermann-Mittelhaus

2023 rezensiert, DDR, Fischer Verlag, Julia Franck