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Tove Dit­lev­sen
»Kind­heit

Autorin:Tove Dit­lev­sen
Über­set­ze­rin:Ursel Allen­stein
Titel:Kind­heit
Aus­gabe:Auf­bau Ver­lag Ber­lin, 2. Auf­lage 2021
Erstan­den:anti­qua­risch, gele­sen im Lite­ra­tur­kreis der Fürst Donnersmarck-Stiftung
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Tove Dit­lev­sen eine Vor­läu­fe­rin der fran­zö­si­schen Autorin und Lite­ra­tur Nobel­preis­trä­ge­rin Annie Ernaux?

Ebenso wie Annie Ernaux hat Tove Dit­lev­sen einen auto­fik­tio­na­len Text über ihre Kind­heit, ihre Jugend und ihre Abhän­gig­keit geschrie­ben, die Kopen­ha­ge­ner Tri­lo­gie. Aber reicht es schon aus, das Genrè Auto­fik­tio­na­li­tät zu benut­zen, um mit Annie Ernaux ver­gli­chen wer­den zu kön­nen? Auto­fik­tio­nale Texte, also lite­ra­ri­sche Selbst­er­kun­dun­gen, sind seit eini­gen Jah­ren en vogue, las­sen sich also gut ver­mark­ten. Warum wider­strebt mir diese Gegen­über­stel­lung von Tove Dit­lev­sen mit Annie Ernaux?

Tove Dit­lev­sen schreibt in dem schon 1967 ver­fass­ten 1. Band »Kind­heit« aus der Sicht eines Kin­des, wie es im Kopen­ha­ge­ner Stadt­teil Ves­ter­bro groß gewor­den ist. Sie wächst in einem ärm­li­chen, bil­dungs­fer­nen Haus­halt auf, ihr Vater gehört zur Arbei­ter­schaft, wir befin­den uns im Jahr 1920. Wir erfah­ren etwas über ihre Fami­li­en­kon­stel­la­tion, ihre Träume, ihre Gefühle im Aus­ge­schlos­sen­sein, aber auch eini­ges über poli­ti­sche The­men. Der Vater und die Mut­ter spie­len für Tove eine ganz unter­schied­li­che Rolle, wäh­rend der Vater ihr Inter­esse für Lite­ra­tur unter­stützt – aber nur das Lesen, auf gar kei­nen Fall das Schrei­ben als Dich­te­rin – wirkt die Mut­ter eher kühl, sie scheint haupt­säch­lich ihre eige­nen Inter­es­sen zu ver­tre­ten, wenn das über­haupt mög­lich ist, denn ihr Leben und das Leben ihres Man­nes ist gekenn­zeich­net von Per­spek­tiv­lo­sig­keit. Daher auch das Inter­esse der Eltern, Tove so schnell wie mög­lich 15jährig zu ver­hei­ra­ten, ihr den Besuch des Gym­na­sium zu ver­bie­ten und damit auch Toves Wunsch, Dich­te­rin zu wer­den, zu vernichten.

Tove ver­sucht, sich gleich­zei­tig anzu­pas­sen, aber auch die­sem Milieu zu ent­flie­hen. »Die Kind­heit ist lang und schmal wie ein Sarg, aus dem man sich nicht allein befreien kann.« (S. 21). Der Vater und die Mut­ter hel­fen nicht, im Gegen­teil, Tove sagt, immer wenn sie die Welt fürchte, »fällt sie (die Mut­ter) mir in den Rücken.« (S. 18). So wählt Tove den eige­nen Weg, um die­ser Situa­tion zu ent­flie­hen, sie schreibt heim­lich Gedichte und es gelingt ihr, einige davon zu ver­öf­fent­li­chen, wor­auf sie stolz ist, aber leben kann sie davon nicht. So beschreibt sie abschlie­ßend ihre Kind­heit als eine Zeit, die ver­ging, »und die Kind­heit wurde dünn und platt wie Papier. Sie war müde und faden­schei­nig, und an schlech­ten Tagen sah es nicht so aus, als würde sie hal­ten, bis ich erwach­sen war.« (S. 73).

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Die däni­sche Schrift­stel­le­rin Tove Dit­lev­sen (geb. 14.12.1917 – gest. 07.03.1976) | Quelle

Tove Dit­lev­sen benutzt eine lako­ni­sche Spra­che und hält damit die Lese­rIn­nen auf Distanz. Bei Annie Ernaux steht nicht die Distanz, son­dern der Wie­der­erken­nungs­wert beim Leser und der Lese­rin im Vor­der­grund, wenn sie über das Auto­bio­gra­fi­sche hin­aus gesell­schaft­li­che Ent­wick­lun­gen abbil­det und damit Lite­ra­tur von blei­ben­dem Wert erschafft. Anie Ernaux, Die Jahre – hier nach­zu­le­sen.

Durch­schnitt­li­ches Leseerlebnis!

Nach­trag: In unse­rem Lite­ra­tur­kreis wurde kon­tro­vers dis­ku­tiert. Immer wie­der wurde die Klar­heit der Spra­che betont, die Erzäh­le­rin flüchte in die Worte, um die Rea­li­tät aus­zu­hal­ten, nur so könne sie die Wider­sprü­che leben. Ihr Text sei sehr ergrei­fend und berüh­rend. Dem stimme ich ohne wei­te­res zu. Aber reicht es, wenn ich von Lite­ra­tur berührt werde? Wel­che neuen Erkennt­nisse nehme ich mit?

Unterschrift
Mar­gret Hövermann-Mittelhaus

2023 rezensiert, 20er Jahre, Aufbau Verlag, autofiktionales Schreiben, Dänemark, Kindheit, Tove Ditlevsen