Kai-Uwe Merz
» Revolte Berlin –
Eine Kulturgeschichte der 1970er-Jahre
Autor: | Kai-Uwe Merz (Deutschland, 2023) |
Titel: | Revolte Berlin – Eine Kulturgeschichte der 1970er-Jahre |
Ausgabe: | Elsengold, 2023 |
Erstanden: | Pankebuch in Berlin-Pankow |
Irritierend das Titelbild, denn was haben Herrr Langhans und Frau Obermeier mit der Kultur im Berlin (West) der Siebziger zu tun?
Besonnener wird’s mit den Portraits der beiden regierenden Bürgermeister in West-Berlin in der Zeit, Pastor Heinrich Albertz und Klaus Schütz. Da gelingt es dem Autor sogar bei mir, ausgewiesener »Schütz-Hasser«, einen Hauch von Sympathie für den stockrechten »Sozi« Schütz zu wecken. »Phrasendrescher, Knüppel im Genick, das ist Berliner Schütz’en Politik«; ein Slogan, den ich auf mancher Demo voll Überzeugung mitgerufen habe. Den der Autor zitiert, aber deutlich macht, dass Schütz’ besonnene (Außen-)Politik indirekt Anteile am enorm erleichternden Berlin- und Transit Abkommen hatte. Die Berliner CDU war stets gegen Verhandungen mit dem »Osten«!
Zu Schütz’ Regierungszeit gehörte auch die Etablierung der »Schaubühne am Halleschen Ufer« mit Peter Stein. Genauso wie die Etablierung der Berliner Betonmafia, ihrer Abrisspolitik, die Koruptionsfigurine der Baumafia S. Kressman-Zschach. Die Ruine ihres Steglitzer Kreisels leuchtet noch heute über der Stadt. Und: Der Autor greift dafür richtigerweise auf die Zeit vor den Siebzigern zurück, die Studentenbewegung begann ja auch bereits dort. Ganz anders als K. Schütz nun Heinrich Albertz, den erst die Ereignisse um den Schahbesuch im Juno ’67 zum Studentenbewegungs-Versteher gemacht haben, eine enorme Wandlungsfähigkeit, die seinem Nachfolger abging.
Merz geht natürlich auf Rudi Dutschke ein, mit dem wesentlichen Anteil, den sein späterer Arbeitgeber, der Springer Verlag, an Hetze und Mordanschlag auf Dutschke hält Merz sich (verständlicherweise) nicht auf. Ebenso zeigt er Null echtes Verständins für seine Theorie und Praxis. Immerhin gibt er vom Autor Peter Schneider eine treffende Charaktisierung des Auftretens von Rudi wieder. Ansonsten zeigt er, dass er weder die Achtundsechziger noch ihr Wirken in den Siebzigern auch nur ansatzweise verstanden hat. Wozu die Befreiung vom Mief seit 1945 gehörte, von Kontrolle sozialer Normen, kein Sex vor der Ehe, strenge Monotonie in sehr eingeengter Musik, Bild und Ton. Oder z.B. das emanzipatorische, weltberühmt werdende »Grips Theater«.
Ausführlich kommt die »Friedenau-Connection«, also U. Johnson, Max Frisch und Günther Grass zu Wort, warum nicht. Was aber das bestimmende am Kiez Friedenau, an der Wohlfühlstätte für Poeten war, begreift er nicht und kann es daher nicht widergeben.
Zum Vietnam-Krieg, einem bestimmendem Thema der Siebziger zitiert er Grass, S. 65: »Das Leben unter dem Vietcong habe er nicht verlockend gefunden« – au weia!
Schön von den Bischöfen Dibelius und Scharf zu hören, ihrer Zerrissenheit zwischen Ost und West, die Kabbeleien mit den Ost-Bürokraten. Ein extrem spannender Abschnitt über die gesamtdeutsche Geschichte der evangelischen Kirche. Incl. des damaligen Berliner Kirchenstreits, »Pfarrer, die dem Terrorismus dienen«, so mischte sich die Springer Meute ein.
Auffallend trotz der verdienstvollen Beleuchtung manch wichtiger Kulturepigone das (Ver-)Schweigen von noch viel mehr. Wo bleibt die einstige West-Berliner Subkultur, wo bleiben »Lok Kreuzberg«, das »Casa Leon«, das »TiK«, »Quartier Latin«? Warum gibts zu dem Foto des ermordeten Benno Ohnesorg nicht mal den Namen des stadtbekannten Fotografen, Jürgen Hentschel? Warum kennt er keine »Neue Welt«, keine Pressefeste, keine »SEW«, keine Folkbewegung wie die Kneipe »Go-In« oder den Jazzladen »Quasimodo«? Selbst die kleine, aber feine »Elefantenpress«, ein ikonischer Verlag der Zeit, entgeht ihm. Ebenso wie Kurt Mühlenhaupt, die Rixdorfer Maler/Grafiker, der Mariannenplatz, Kampf um Bethanien, die verhinderte Westtangente und das Kraftwerk Oberjägerweg – verheerend viele weiße Flecken in der Kulturkarte des Herrn Merz. Und das ganz besonders für die völlige Abwesenhneit der Frauenbewegung, kein Wort zu den Zeitschriften »Courage« oder der »Pelagea« des SFB (=Sozialistischer Frauenbund). Oder die Berliner Autorenbuchhandlung in der Carmerstraße.
Immerhin wird einmal, im Zusammenhang mit der Schaubühne, der grauenvoll provinzielle Westberliner (Kultur-)Mief erwähnt, einer Teil-Stadt, die seit ihrer Spaltung 47/48 im eigenen Frontstadtmief schmorte und jeden Hauch von weltgewandter Kultur gerne verjagte. Die Schaubühne hat er überhaupt gut beschrieben, ihre Aufführungen benennt er, S.92: »… Erarbeitung eines zweiten Naturzustandes …!«
Dieser gewaltige Theaterumbruch, dieser Frischesturm im Berliner Kulturmief, aber, S.99: » Ein Publikum in Nerzen applaudierte denen, die auf der Bühne vorschlugen, die Gesellschaft dieser Applaudierenden abzuschaffen.«
Vorkommend die Inszenierung des Vietnam-Diskurses, Wolfgang Neuß, Edith Clever, Bruno Ganz. Die Biermann Blamage der DDR wird wie bekannt widergegeben. Man hätte ergänzen können des Liedermachers grobe Beleidigungen des Alterspräsidenten des Deutschen Bundestages, Stefan Heym. Oder Biermanns Rechtfertigung der Irak-Kriege mit 2 Mio Toten, eine Abrundung des Biermann Themas. Manne Krug wird in erster Linie über seine DDR-Ausreise definiert, sehr wenig über schauspielerische Leistungen, noch nicht einmal über das ikonische »Spur der Steine«!
Recht schön der lange Abschnitt zu Rio Reiser und »Ton, Steine, Scherben«. Aber das Anarcho-Sponti Milieu, aus dem diese Band kam, das sie mitbestimmte, das kommt bei Merz praktisch nicht vor. Dafür wird »Hoffmanns Comic Theater« erwähnt, das »Zentrifuge Theater« fehlt ebenso wie das »TiK« und die ganze Herausbildung einer unabhängigen Theater- und Kulturszene in der Halbstadt. Immerhin gibt es Bezüge zur Hausbesetzerszene, die Arbeit gegen die erste Abriss- und Gentrifizierungswelle, vor allem in Berlin Kreuzberg, Stichworte Bethanien, Georg-von-Rauch-Haus.
Als durchweg unangenehm habe ich das lange Kapitel über David Bowie empfunden, den androgynen »Helden« der Kommerzialierung des Pop. Ich weiß, dass einige ihn feiern, in der Berliner Kulturszene hat er nie mehr als eine kurze Gastrolle gespielt.
Das krasse Gegenteil: Wolfgang Kohlhaase, der Drehbuchautor und Urberliner, Berlin-Ost, DDR sollte man dazu sagen. Hier konzentriert sich der Autor auf den Film »Solo Sunny« mit den unvergessenen Kohlhaase Dialogen. Wo die Sunny (beeindruckend Renate Krössner!) ihrem kurzfristigen Bettgenossen am Morgen bescheidet: »Is’ ohne Frühstück!« Und auf seinen Protest ihn abbürstet »Is’ auch ohne Diskussion«. Interessantes über das reale Vorbild der Sunny – wenn’s denn stimmt. Ein Hinweis auf https://mittelhaus.com/2019/12/31/antje-vollmer-hans-eckardt-wenzel-konrad-wolf-chronist-im-jahrhundert-der-extreme/ fehlt auch nicht, erfreulich. Ein Film der kongenial für das ganze Lebensgefühl von Generationen steht – in Ost und West!
Lehrreich ist das Buch auch für Berliner Zeitgenossen, wenn der Autor über Künstler dieser Zeit spricht, die manchem schon aus dem Gedächtnis entflohen sind, der Maler Rainer Fetting z.B. zu dem er sagt, was für so viele in der Stadt galt: Flucht vor dem Wehrdienst und der Wohlstandswelt. Ganz anders der Ost-Berliner bildende Künstler Walter Womacka, stadt-und DDR-bekannt für seine Fresken und Mosaiken. So das Mosaik-Fries am Haus des Lehrers am Alexanderplatz und ebd. das Relief »Der Mensch überwindet Raum und Zeit« am Haus des Reisens. Merz lobt Womackas handwerkliche Fähigkeiten und sein Können. Seine Integration in das sozialistische Stadtbild der »Hauptstadt der DDR«. Das sind lehrreiche Abschnitte, ebenso wie die recht gute Bebilderung des Buchs insgesamt.
Merkwürdig wird’s in einem »Frauen und Männer« überschriebenen Kapitel, eine Mischung aus Ulrike Meinhof, Uschi Obermaier und der DDR-Schauspielerin Angelica Domröse. Die schrumpft er komplett auf ihre Rolle in »Die Legende von Paul und Paula«. Was der großartigen Schauspielerin nicht im entferntesten gerecht wird. Und den Film, diesen Aufschrei gegen das spießig-graue der DDR Konformität – nicht verstanden vom Autor muss man wieder konstatieren. Der Abschnitt über die Meinhof und die Baader-Meinhof Bande erscheint vollständig und gelungen bis auf etwas Wesentliches: Kein Wort darüber, was diese Leute antrieb, was ihr Manifest war. Wiederum hat der Autor die Leute offenbar nicht verstanden. Über die pittoresken Nebenfiguren der Siebziger, Langhans und Obermaier schreibt er entschieden zuviel, typisch Boulevard eben. Dann kommen noch traurige Brosamen der sonst komplett ignorierten Frauenbewegung. Aber ausgrechnet anhand von Gretchen Dutschke, die kaum einen nennenswerten Teil dieser Bewegung darstellte.
Das Buch hat zweifellos den Verdienst, Namen und Ereignisse aus den Siebzigern in Berlin in Erinnerung zu rufen. Das auch mit einer interessanten Bebilderung. Und dafür eine geradezu verrückte Mischung von Akteuren aufzurufen. Allerdings mit einem übergroßen Schwerpunkt West-Berlin. Ein paar »Alibi-Ossis« (Biermann, Kohlhaase, Womacka) ändern daran zu wenig. Wahrscheinlich aber ist das sogar besser so, wenn Merz schon vom Westteil der Stadt so merkwürdig linksignorant schreibt …
In puncto West-Berlin geht der Autor geschickt auf völlig unterschiedliche Charaktere ein, zum Teil in ihrer realen Widersprüchlichkeit. Die aufkommende Frauenbewegung ignoriert er allerdings komplett. Frau Obermeier gehörte nun wirklich nicht dazu, eher im Gegenteil. Leider merkt man den meisten Portraits an, dass Kai-Uwe Merz offenbar nie selbst Teil einer Bewegung oder Strömung war, als Jahrgang ’62 hätte er das sein können. Ulkig auch, dass er das Fehlen jeder Polizeistunde, die Abwesenheit jeglichen Militärs im Stadbild West-Berlins (außer in den allierten Nischen) gar nicht erwähnt. Was konnte die Stadt damals schön erscheinen in ihrem bröckeligem, gänzlich unmilitaristischem Charme.
Viel schlimmer dagegen die weitestgehende Ignoranz aller emanzipativen, linken oder Frauenbewegungen. Da fällt ihm doch mindestens die Hälfte dessen, was die »Revolte Berlin« eigentlich ausgemacht hat, glatt unter den Tisch!
Das verwundert insofern nicht, wenn man im Klappentext liest, dass er für die Springer Boulevardbätter »BZ« bzw. »Berliner Kurier« tätig war. Deren Linie war und ist ja nie Verständnis für Emanzipatorisches zu zeigen oder zu wecken, sondern sie stets agitatorisch nieder zu machen. Von realem Verständnis alternativer Bewegungen keine Spur und damit das größte Manko des Buchs. Das ich als engagierter Zeitzeuge und Aktiver der Studentenbéwegug der siebziger Jahre bewusst hart kritisiere. Und: Es gibt wesentlich Besseres zu dem Thema!
Mäßig gelungene Rückschau auf die Siebziger in Berlin (West)
Nachtrag: Aufgrund der sehr einseitigen Themenauswahl und der weitgehenden Abwesenheit von Verständnis für Bewegungen habe ich entschieden, mir von den andereren fünf Bänden der Kulturgeschichte Berlins von Kai-Uwe Merz nichts zuzulegen.
2024 rezensiert, Berlin, Heinrich Albertz, Rudi Dutschke, Schaubühne, Siebziger Jahre, Solo Sunny, Studentenbewegung, Ton Steine Scherben, Walter Womacka, Wolf Biermann, Wolfgang Kohlhaase