Stefan Zweig
» Ungeduld des Herzens
Autor: | Stefan Zweig - (Deutschland, 1939) |
Titel: | Ungeduld des Herzens |
Ausgabe: | Manesse, 2015 |
Erstanden: | Antiquarisch, via Booklooker |
Die Handlung ist schnell erzählt. Im k.u.k. Kaiserreich Österreich Ungarn, im Jahr vor dem Ausbruch des 1. Weltkriegs, in einer öden Garnisonsstadt im Ungarischen trifft der junge Leutnant Hofmiller auf die 17jährige Edith, schön, schwerbehindert und aus reichem Haus. Dies entwickelt der Autor zu einem atemberaubenden Gefühlsplot. Zwischen Liebe, Zuneigung, Standesvorurteilen, Feigheit und Zweifel. Von einem, der sich am Ende in den Krieg hineinrettet, aus einer verzweifelten Situation.
Zweig leitet seinen Roman ungewöhnlich ein und spricht von dem Mut zum Widerspruch, Widerspruch gegen den Krieg und die Kriegstreiberei. Genau das, was der Papst vor einigen Monaten zum Ukrainekrieg sagte – 100 Jahre später.
Mit dem Protagonisten, Leutnant Hofmiller, erleben wir die öde Atmosphäre der k.u.k. Kleinstadt, das Offizierkorps als abgegrenzte einsame Kaste, im weitesten Sinne zu den Stadthonoratioren zählend. Im Sommer 1914, also direkt vor einer historischen Zeitenwende. Dem Leutnant Hofmiller passiert die unfassbare Blamage, die schwerbehinderte Tochter des reichen Gastgebers, ahnungslos zum Tanz aufzufordern – einen Krüppel! S. 48: »Blamiert auf Lebenszeit,… ausgestoßen aus der Gesellschaft, bespöttelt von den Kameraden beschwätzt von der ganzen Stádt,«
Schon hier fragt man sich: Ist die eigene Blamage seine größte Sorge? Wobei er – in diesen Momenten noch – zwischen zwei jungen Frauen steht: Der eleganten Nichte Ilona und der verkrüppelten Gastgebertochter Edith, die sich eigentlich sehr nach Zuneigung ujnd Zuwendung sehnt. Aber, S.65: »Mit der einen möchte man tanzen, möchte man sich küssen, die andere wie eine Kranke verwöhnen.«
Nicht nur die 17-18-jährige Edith leidet unter ihrer schweren Behinderung, ihr reicher Vater, Gutsbesitzer, adlig, leidet in ungeheurem Maße, S.74: »…wie stillhalten, wenn man so geschlagen wird von Gott und hat doch nichts getan!« Das Erlebnis mit der sehr jungen und schwerbehinderten Edith bricht jetzt förmlich in die bisher eher unbelastete Welt des jungen Offiziers ein. Dabei ist der körperlich fühlbare Dank des Vaters, das Glück der beiden jungen Frauen für ihn etwas wie eine Macht über andere verliehen zu bekommen. Und, S.95: »… sobald man weiß, dass man auch anderen etwas ist, fühlt man Sinn und Sendung der eigenen Existenz.« Aber es ist auch das Neue für den Leutnant, unter jungen Frauen zu sein, S.99: »…genoss ich zum ersten Mal mein eigenes Nicht-scheu-sein mit jungen Mädchen …«.
Mit Ilona zu flirten versagt er sich angesichts der Behinderten. Dabei wird er durch die neuen Bekanntschaften aus dem Stumpfsinn seines militärischen Alltags heraus geweckt. Gleichzeitig hat das Mitleid für Edith sein Mitgefühl geweckt – sein Mitgefühl für die Mitmenschen. Sein Mitleid hat aber auch eine etwas dunklere Seite, wie er im Verkehr mit seinen Offizierskameraden feststellt, S. 117: »… von dieser subtilen Lust des Mitleidens der ich … wie einer dunklen Leidenschaft verfallen war.«
In wunderbaren Passagen beschreibt der Autor die Schönheit, als der Leutnant in aller Ruhe das Gesicht der schlafenden Edith betrachtet – S. Zweig, ein Meister der Beschreibung von Schönheiten! Edith aber reicht es irgendwannn vor lauter Mitleid, in einem Zornesausbruch wird sie deutlich, sie spürt Unehrlichkeit, Heuchelei und Falschheit. Da ist ihr die unbedachte Ehrlichkeit einer neuen Dienstkraft lieber, S. 141: »Jessus, so ein Unglück, … Ein so reiches, so vornehmes Fräulein … und ein Krüppel!«
Von Ediths Vater lernt Hofmiller über die Aufopferung von Ediths Arzt Condor, eigentlich einem Arzt für Arme, dass der die eine Patientin, der gegenüber sein Heilungsversprechen sich nicht erfüllte, geheiratet hat. Und den keine große Praxis, sondern die schweren, die großen Fälle interessieren. Die Verpflichtungen, die nun der Leutnant Hofmiller gegenüber Vater Kekesfalva und Tochter aufnimmt, treffen einen noch ungefestigten Menschen; S. 160: »Die Bitte Kekesfalvas sprach nicht den Offizier in mir an, sondern jenes noch ungewisse innere Ich, dessen Fähigkeit und Leistungsgrenzen ich erst zu entdecken hatte.« Denn er soll den Arzt Condor aushorchen, wie es wirklich um Edith steht, ob es ernsthaft Heilungschancen gibt. Condor macht sich eher Sorgen um den Vater und dessen Gesundheitszustand. Und blättert mit einer überraschenden Geschichte auf, was es mit Adel, dem Gutshof, dem ganzen Richtum des Vaters von Edith, dem Herrn von Kekesvala auf sich hat. Was hinter der Fassade steht. Wie das Gut im Grunde ergaunert und wie aus einem reisenden Händler ein reicher Gutsbesitzer wurde. Der eine betrogene Erbin heiratet, eine kurze glückliche Ehe, der frühe Krebstod der Frau, von niemandem, keiner Kapazität und keinem Honorar zu heilen. S. 265: »Von diesem Tag blieb etwas verändert … Ein Gott war ihm gestorben, dem er von seiner Kindheit an gedient: das Geld. «
Aber er hat noch die Tochter, ein elfenhaftes Wesen mit der Schönheit der Mutter und dem Scharfsinn des Vaters, sportlich, beweglich, verzaubernd. Und dann die bisher unheilbare Krankheit, die ausgerechnet dieses blühende Wesen trifft, an Krücken zwingt, zu einem Mauerblümchen-Dasein verurteilt. Und wieder ist etwas, sind Menschen, ihre Verhältnisse ganz anders als auf den ersten Blick typisch für den Roman.
Ob Ediths Fall unheilbar sei? Dr. Condor gibt darauf eine wirklich kluge Antwort, in der er auf mögliche Fortschritte in der Medizin verweist. Und offenbart, wie er als Mediziner mit schweren Erkrankungen umgeht, S. 284: » … Medizin hat mit Moral nichts zu tun. Jede Krankheit an sich ist ein anarchischer Akt, eine Revolte gegen die Natur , deshalb darf man alle Mittel gegen sie einsetzen, alle.«
Edith jedoch, der ewigen Geduldsforderung gegenüber mangelnder Besserung, unendlich leid, versteht die vorsichtigen Hinweise auf mögliche neue Therapien falsch, nimmt sie für bare Münze. Mit ihr findet eine unfassbare Verwandlung statt, sie will ausfahren, reisen, das jahrelange Verkriechen im Winkel beenden. In morbider Schönheit schildert Zweig einen Auflug Ediths in einer alten Prachtkutsche, mit ihrer verblichenen Schönheit. S. 318: »Insbesondere Edith, die seit Monaten nicht richtig aus dem Hause gekommen war, funkelte ihren unbändigen Übermut hemmungslos in den herrlichen Sommertag hinein. … steigerten die Stimmung der beiden zu einer Art Luft- und Sommerrausch.« Rauschhafte Zustände sind es, die eine chronisch Kranke bei einem solchen Abwechslung begründet auf Hoffnungsschimmer, erlebt, rauschhaft, nur bedingt rational zugänglich. Umso verständlicher, das extrem intensive Gebet Ediths in einer Kirche. Und Zweig mixt folkloristisch-belebende Elemente in den Roman hinein: Wie die Vorführung ungarischer Reitkünste, eine Zigeunerkapelle, ein wilder Tanz und eine Bauernhochzeit. Ebenso wie eine Weisssagung einer Zigeunerin für Edith, sie glaubt das nicht unbedingt, aber, S.332: »Warum sich nicht einmal ganz ehrlich betrügen lassen?«
Dabei erlebt auch der Leser durch die Erzählkunst Zweigs ganz analog zur Protagonistin ein Wechselbad der Gefühle, in nahezu alle Richtungen. So dass der Arzt den jungen Mann ermahnen muss, S. 343: »… es ist eine verflucht zweischneidige Sache mit dem Mitleid«, es kann sich wie Morphium in ein mörderisches Gift verwandeln – wieder eine sehr genaue psychologische Beobachtung des Autors!
Die Edith erleidet nach einer unbedachten Äußerung in ihrer Umgebung einen totalen emotionalen Absturz. Der Leutnant wird gewarnt, S. 345: »Jenes Mitleid, das gar nicht Mit-leiden ist, sondern nur instinktive Abwehr des fremden Leidens von der eigenen Seele.« Homiller spürt, was er bis jetzt aus Mitleid gelogen hat, wird er nun nach dem Gespräch mit Condor, wissentlich tun. Edith wiederum gesteht, im Überschwang eines Aufbruchs zu einer Reise in die Schweiz, sie hätte in der Vergangenheit zweimal versucht, sich umzubringen.
Beide schämen sich voreinander, er wegen seiner finanziellen Schwäche, sie wegen ihrer Behinderung. Und: Ist sie so empört gegenüber dem Leutant wegen seines Mitleids, oder weil sie Gefühle ihr gegenüber nur für Mitleid hält?
Dabei beobachtet sie alle Menschen in ihrer Umgebung genau, spürt, wenn sie nicht ehrlich sind ihr gegenüber. Zum Leutnant detonieren ihre Gefühle förmlich, aus einer mitleidigen Geste seinerseits, macht sie einen innigen, einen gierigen Kuss und eine Umarmung, Zärtlichkeiten sondergleichen. Meisterhaft das Spiel des Autors in der Orchestrierung des Gefühlskonzerts, hier im Crescendo!
Und er, der Dummkopf, wie Edith ihn ruft, dachte, es ginge nur um Mitleid, dass sie, ein Krüppel, erotische Liebe zu ihm empfinden könnte, für ihn unvorstellbar. Dabei, sagt ihm Ilona, lebte Edith schon seit Wochen im Wahn der Liebe. Womit Hofmiller kaum umgehen kann, S. 409: »… quälte mich der Gedanke, wider meinen Willen geliebt zu werden.« Und er merkt, geradezu ohnmächtig, S. 412: »Einen Menschen neben sich an der Glut seines Verlangens verbrennen zu sehen und ohnmächtig dabei zu stehen …« Und S. Zweig schildert dieses Begehren geradezu obszön prägnant, gefühlsüberwältigend.
Aber Hofmiller, der bis dahin in seiner Gefühlswelt eher oberflächlich gelebt hat, kann damit nicht umgehen und wägt, im Grunde zutiefst erschreckt, Fluchtgedanken. Nur eine Flucht ins Zivilleben, aber da müsste er von vorne anfangen, er zählt ja bisher nur im Militär etwas. Als ein ehemaliger Militärkamerad ihm eine solche Flucht ins Zivilleben geradezu anbietet, greift er zu. Nicht ohne zuvor bei »einer scharfen Fahrt« mit einem Automobil (1914!) sein Leben, vor allem die letzten Wochen und Monate im Zeitraffer an sich vorbeirasen zu sehen. Merkt aber, dass dies eine feige Flucht wäre und will bei Dr. Condor rekapitulieren. Der wird deutlich: Eine Flucht Hofmillers wäre gleichbedeutend mit einem Mord an Edith! S. 504: »… – ich bin überzeugt, sie übersteht eine solche Rohheit nicht, und Sie Herr Leutnant wissen das genau so gut wie ich! … wäre Ihr Auskneifen nicht nur Schwäche und Feigheit, sondern ein gemeiner, ein vorbedachter Mord!« Und er legt, psychologisch geschickt, vor ihm frei: Hofmiller hat wegen der Liebe Ediths zu ihm nur Furcht, sich von seinen Kameraden verspottet zu sehen. Eine Welt, aus der der Militär nicht herauszutreten wagt. Und redet ihm zu, schließlich stand er zu seiner eigenen Frau einst im ähnlichen Verhältnis und ist – heute – froh, sie gerettet zu haben.
In einer letzten Begegnung zwischen Hofmiller und Edith schreibt Zweig wieder ungeheuer emotional, schafft es mit seinen Worten die ungeheure Spannung greifbar zu machen, in der zwei sich begegnen mit geradezu entgegengesetzten Gefühlen. Kaum fassbar, wie er die Zärtlichkeit Ediths auf den Händen Hofmillers in Sprache umsetzt, Gefühle verdeutlicht, dem Leser hautnah bringt. S. 534: »Lass Dich lieben von ihr, sagte ich mir immer wieder …«
Die Täuschung gelingt Edith gegenüber begrenzt, denn S. 534: »Liebenden ist immer eine unheimliche Hellsichtigkeit für das wahre Gefühl des Geliebten zu eigen …«.
Der Autor steigert die Spannung noch einmal bis ins fast Unerträgliche, Quälerische, lässt den Leser ob des Hin- und Hers in den Gefühlen und den Entscheidungen des Leutnants fast verzweifeln.
Auf Bitten Kevalas sagt der Leutnant Hofmiller, wenn Edith ganz gesund sei, würde er auf sie zukommen – aus Mitleid? Ein Kuss aus Gefühlsaufwallung, ein wilder Ritt zur Entspannung, ein Verlobungsring, einige verzweifelte Schritte, der Zusammenbruch Ediths, des Hofmiller mehrfache Fluchten, folgen. Und was werden die anderen Offiziere sagen? Alles dringt zu Edith durch, sie versucht ihn anzurufen, erreicht ihn nicht, S.664: »In der Ungeduld ihres Herzens wollte sie nicht einen Tag, nicht eine Stunde warten.«
Im Chaos des ausbrechenden ersten Weltkriegs geht alles unter, endgültige Flucht Hofmillers, Ediths Selbstmord, die tatsächliche Bloßstellung des Leutnants in der kleinen Stadt – es ist geradezu eine Flucht in den Krieg. Aber auch danach will Leutnant Hofmiller an nichts erinnert werden, ein Symbol für das völlige Versagen der Militärkaste, der kaiserlichen Gesellschaft und ihres Ritts in den Abgrund.
Die Summe der Gefühle – Zusammenfassung
Das Ganze atmet auch noch die etwas morbide Atmosphäre der k.u.k. Monarchie an ihrem Ende. Wie schwer allen Beteiligten der Umgang mit der Krankheit Ediths fällt, wie verlogen fast alle sind. Treffsicher ist die öde Atmosphäre der österreich-ungarischen Kleinstadt charakterisiert, man fühlt sie förmlich.
Dass der Protagonist, Leutnant Hofmiller, sein »Mitgefühl« oder besser Mitleid gegenüber Edith nicht überwinden kann, sich zur Liebe zu bekennen nicht schafft – fatal! Dass dabei sein Mitleid/Mitgefühl ihm im Traum als ein Dschinn, der ihn reitet, erscheint, welch tiefenpsychologische Raffinesse. Der Roman geht in die Tiefe der Frage der Liebe zwischen sehr ungleichen Personen, der Frage des Umgangs mit Schwerbehinderten.
Meisterhaft insgesamt wie Zweig bei seinen Figuren wie bei einer Psychoanalyse Schicht für Schicht die Seele freilegt, und das sichtbar macht, was man eigentlich verbergen möchte.
Sei es bei Kelesvala, dem Leutnant, oder dem Arzt Condor. Alle Personen sind etwas anderes, als sie auf den ersten Blick scheinen. Zweig unterzieht – bis zu einem gewissen Grad – seine Figuren einer psychologischen Analyse. Dazu gehören die Fragen, wie man mit schwerem chronischem Leiden, wie man mit Behinderung und dem eigenen Mitleid umgeht.
Dabei zeigt er seine Kenntnisse der Psychoanalyse seines Zeitgenossen Siegmund Freud, zeigt viel von dem, was die Protagonisten eigentlich lieber verborgen halten würden. Dazu gehört auch, dass es der Roman einer tragischen Liebe ist, die Liebe des schwerbehinderten Mädchens, das erstmal Gefühle eines Mannes ihr gegenüber verspürt.
Das Hin und Her der Gefühle des Leutnant Hofmiller ist in Summe etwas zu viel, schwer enttäuschend seine beschränkte Entscheidung. Doktor Condor hat ihm doch vorgemacht, wie anders man leben und glücklich sein kann. Der Roman hat ein etwas unbefriedigendes Ende, traurig weil es Leutnant Hofmiller am Ende nur darum ging, in seinen Kreisen wohl angesehen zu bleiben. Das zieht sich von der Blamage am Anfang (fordert Edith zum Tanz auf) bis zu seiner endgültigen Flucht. Was, wie der Arzt Condor ihm darlegt, einem Mord an Edith gleichkommt. Er flieht also vom begangenen Mord.
Ein sehr emotionales Leseerlebnis, großartig erzählt. Vielleicht mit etwas zu viel Gefühl. Ein sehr, sehr intensives Buch aber, ich brauchte am Ende Pausen beim Lesen, Verarbeiten. Und ob man das Buch auch als Allegorie auf den Untergang eines morbiden Kaiserreichs verstehen kann?
Ganz großes Erzählkino!
Anhang: Im Blog der bildenden Künstlerin Elke Reher gibt es wunderbare Text- und Bildinformationen zu S. Zweig, seiner Biografie und speziell zur berühmten Schachnovelle. Eine wunderbare Webseite, mit viel Wissen, Text und Bildmaterial!
Ihr verdanke ich auch den Hinweis auf das digitale Archiv des Autors – Herzlichen Dank dafür!
Ebenso ein wichtiger Fundus zum Autor, die Webseite der brasilianischen Gedenkorganisation.
1. Weltkrieg, 2024 rezensiert, Behinderung, k.u.k Monarchie, Liebe, Manesse, Militär, Mitleid, Psychologie