
Michael Baade
» Der Tod des Grenzsoldaten
Autor: | Michael Baade (Deutschland, 2015) |
Titel: | Der Tod des Grenzsoldaten |
Ausgabe: | Edition Berliner Unterwelten im Ch.Links Verlag, 2. erweiterte & aktualisierte Auflage 2015 |
Erstanden: | Vom Verlag |
Download: | als PDF |

Der Rostocker Michael Baade, dessen Erinnerungen an Jan Vogeler (vergleiche hier) mich begeisterten, hat mit »Mein Freund Egon« (Erstauflage 2012) bzw. »Der Tod des Grenzsoldaten« (Neuauflage 2015) einen wichtigen Beitrag zur jüngeren deutschen Geschichte und zum Sündenregister des Kasernenhof-Sozialismus der DDR vorgelegt. Und wie nebenbei Schlaglichter auf eine für mich schon leicht verschüttete Zeit aus Berliner bzw. West-Berliner Geschichte wirft:
Fluchttunnel und Fluchthelfer.
Ein Buch, das mit der Vielzahl der persönlichen Dokumente, der Zeitzeugenschilderungen und der stets spürbaren Emotion des Erzählers Michael Baade gegenüber dem Opfer, dem Grenzsoldaten, seinem Freund Egon Schultz, dokumentarisch eine außerordentliche Nähe schafft.
Ein Buch, das so vielfach betroffen macht:
- Wie verkraftet es der Autor, 20 Jahre junger, engagierter Pädagoge und Freizeitkorrespondent lokaler Zeitungen, wenige Jahre nach dem Mauerbau die Morgenzeitung aufzuschlagen und zu erfahren, dass sein bester Freund, Egon Schultz, tot ist, erschossen an der Berliner Grenze?
- Wie kann man benennen und fassen, dass die Verantwortlichen des MfS in der DDR propagandistisch die mindestens grob fahrlässige Tötung des Egon Schultz durch die eigenen Leute (nach erster schwerer Verletzung durch westliche Fluchthelfer) in einen Mord vom Westen umlogen; und darauf die gesamte Propagandamaschine der DDR ansetzten?
- Wie gehe ich selbst, der Rezensent, damit um, dass ich damals und lange danach, den wenigen vorhandenen alternativen Medien (im Westen) geglaubt habe, die ihrerseits die MfS-Lüge transportierten? Und mich somit in einer ähnlichen Lage versetzten, wie die ob des erzählt-gelogenen Geschehens in ehrlicher Empörung um Egon Schultz trauernden DDR-Bürger?
Biografisches

Mir ging Thema und Geschichte sehr nahe und untypisch für meine Rezensionen habe ich eng und umfangreich mit dem Autor korrespondiert und kommuniziert. So habe ich mich gewundert, warum Egon Schultz, als Junglehrer SED-Kandidat und Unteroffiziersschüler wird, aber nicht als »Genosse« in M. Baades Briefen angeredet werden möchte. Das resultierte wohl daraus, dass E. Schultz »ein ganz Lieber« war, nicht »nein« sagen konnte, Werbungen von NVA und Partei (die sehr nachdrücklich sein konnten) schwer ablehnen konnte. So berichtet mir der Buchautor im Gespräch.
So hat er nur zwei Wochen vor seinem Tod beim letzten Heimaturlaub in Rostock dem Autor nichts von der SED-Kandidatur erzählt. Wohl aber vom Kummer keine Freundin zu haben, schüchtern und als Uniformträger in (Ost-)Berlin in der Damenwelt nicht unbedingt beliebt gewesen zu sein. Er war aber Lehrer mit Leib und Seele, eigentlich unpolitisch. Als Arbeiterkind und ohne Westverwandschaft schien er in damaligen DDR-Verhältnissen ideal für NVA und den Dienst an der Grenze, erklärt M. Baade mir: Er war ein sehr lieber Kerl, etwas schüchtern ein begeisterter Pädagoge. Darüber berichtet Baade in beeindruckenden Sätzen und schönen Dokumenten gerade zu Beginn seiner Bücher.
Fotos, Bilder von E. Schultz mit Schülern, seine Berufung zur Lehrerausbildung, der Studentenausweis, die Bemerkung auf dem Abgangszeugnis: »Egon Schultz hat hart an sich gearbeitet, und mit dem Lernen hat er es sehr ernst gemeint.«
Dann Bilder aus seiner Lehrerzeit, Unterrichtsentwürfe. Schließlich Briefe, Karten, der Austausch zwischen Berlin, wo Egon stationiert wird und Michael Baade, der in Rostock Lehrer bleiben konnte, nicht einberufen wurde. Ein alter ND-Artikel, den Baade richtig stellen muss, ein Brief des »Uffz-Sch. Egon Schulz« an die Schulklasse seines Freunds. Besonders schön ein postmortem Schreiben einer ehemaligen Schülerin »Erinnerungen an meinen Klassenlehrer Egon Schultz.« Schließlich zeitgenössische und heutige Einbettungen in diese Ära der DDR, manches hautnah, bestechend historisch.
Ich habe lange mit dem Autor gesprochen, ihn gefragt, warum dieses Buch: »Ich möchte, dass Egon nicht vergessen wird, ich möchte erinnern, daher der Titel der ersten Ausgabe. Ich möchte, dass mein Jugendfreund nicht vergessen wird.« Und gegen Ende unserer Telefonate: »Ich möchte gerne Egons Weg entlang gehen – mit Dir.«
Ich hoffe, mit diesem Text Michael Baades Anliegen etwas gerecht zu werden.
Der traurige Anlass
Dies ist ein Buch über den besten Freund des Autors, der frisch gebackener Junglehrer aus Rostock, als NVA-Soldat bei der Aufdeckung eines Tunnel-Fluchtunternehmens an der Berliner Grenze im Dienst 1964 erschossen wurde. Und zwar durch »friendly fire«, also Schüsse aus der Kalaschnikow eines Kameraden, die Egon Schultz tödlich trafen. Trafen, als er nach einer schweren Verwundung durch den Schuss eines West-Berliner Fluchthelfers verwundet am Boden lag. In der DDR wurde das in einen glatten Mord durch die Fluchthelfer umgelogen, was – landesweit – immense Trauer, Beileid und Ehrungen des Verstorbenen auslöste. Bis 1994/2001 die Wahrheit herauskam, was Michael Baade veranlasste dieses Buch / diese Bücher zu schreiben und seinem toten Freund so ein Ehrenmal zu setzen.
Der Mensch und sein Lebensweg
Der Autor bringt dem Leser den Menschen, den Lehrer, den Pädagogen, den Freund Egon nahe. Das macht er – wie fast im ganzen Buch – anhand zahlreicher Dokumente, Bildern, Biefe, Faksimiles, die viel Zeitgeist transportieren. Z.B. in den Briefen von Egon, wo er den Stumpfsinn beim Dienst in der NVA beklagt, oder seinen Freund Michael bittet, auf den Briefen, die dieser ihm in die Kaserne nach Berlin schickt, nicht »Genosse« Egon Schultz zu schreiben. Mehr dazu im obigen Abschnitt »Biografisches«; dazu noch ein Brief eines ehemaligen Kameraden von Egon: »Im Grunde war er Pazifist und hätte nie an der Grenze eingesetzt werden dürfen.«
Ost/West
Ich muss eine erklärende Entschuldigung beim Autor einflechten: Ihn bewegt die Trauer um seinen Freund Egon und die Aufklärung der vom MfS der DDR begangenen groben Geschichtsfälschung. Wie er und alle anderen Menschen, die um Egon Schultz in echter Anteilnahme trauerten, betrogen wurden und das Opfer einen zweiten Tod starb. Oder wie M. Baade es (1. Auflage, S.247) ausdrückt: »Ist Egon Schultz nicht ein dreifaches Opfer? Unschuldig mit 21 Jahren getötet, in der DDR als Held geehrt und gefeiert, und nach der Wende wird sein Name (Straßen, Schulen, etc.)gelöscht.«
Eine Frage, die man gut versteht und nur mit »Ja« beantworten kann.
Mich aber bewegt mein eigenes Erleben aus der Perspektive eines West-Berliners aus dieser Zeit, der sich mit der Aufdeckung der wahren Geschichte des Egon sich von eigenen, lange erhaltenen Mythen und Dogmen trennen muss. Das kommt oft genug nicht überein mit dem Erleben des Autors. Von daher, pardon Michael Baade, wenn meine, wohl persönlich geratene Rezension, mancherorts Ihren Intentionen widersprechen sollte.
Schließlich bewegt mich vieles in dem Buch selbst als eigen erlebte Geschichte, nur eben von der anderen Seite der Mauer. So die Artikel über das erste Berliner Passierscheinabkommen, exakt in der Ära des Tods von E. Schultz liegend. Ich habe selbst mit meiner Mutter und meinem Bruder abwechseln ab morgens um 5:00 fast 6 Std. vor dem Passierscheinbüro in der Belzigerstr. in Berlin (West)-Schöneberg angestanden, um eine Besuchserlaubnis für meine in Lichtenberg (Berlin-Ost) wohnende Großmutter zu erhalten. Oft also für mich eine andere Geschichte als die, die der Autor erzählt, eine typische Ost/West Kluft. Auch eine Geschichte, die sich hier reflektiert, wenn ich lese, dass E. Schultz mit genau diesem Abkommen an der Grenze eingesetzt war, ob meine Mutter ihn gesehen hat? Wahrgenommen sicher nicht, für uns, von der »anderen Seite« blieben die »Kontrollorgane« und die NVAler stets anonym.
Zeitgefühl
Bermerkenswert finde ich die Art, wie M. Baade sich der Wirklichkeit nähert, die Zeitdokumente, Artikel, Bilder, Briefe, Zeugnisse echter Trauer. Aber auch das Eingehen auf andere Mauertote wie Reinhold Huhn, kaltblütig von einem Fluchthelfer ermordet und von der westdeutschen Justiz geschützt.
Dazu gehören auch Zeitungsartikel damaliger westlicher Medien, die auch offenbaren, dass aus den (Mord-)geschichten der Fluchten und ihrer Helfer gut bezahlte Sensationsstories wurden – der Stern zahlte 25.000 DM für die Publikationsrechte zur Flucht durch den Tunnel 57, den Tunnel, an dessen östlichem Ende Egon Schultz starb. Den Rest des Unternehmens finanzierte die schon immer mit rechtsnationalen Kreisen gut vernetzte Berliner CDU, die sich am Schusswaffengebrauch der so bezahlten Fluchthelfer wenig störte – gegen das verhasste »Zonenregimer« waren im Grunde alle Mittel Recht.

So kann sich der Rezensent gut daran erinnern, dass im Westen in dieser Zeit Fluchthelfer – auch bewaffnete – als Helden gefeiert wurden. Da nimmt es – meinerseits – wenig Wunder, dass es meist gegen Fluchthelfer im Westen keine (ernsthafte) Strafverfolgung gab. So auch im Falle des Christian Zobel, dessen erste (unprovozierte) Schüsse auf E. Schultz auslösend für das Desaster und den Tod des Grenzsoldaten waren. Zobel war zu diesem Zeitpunkt in Begleitung von Reinhard Furrer, dem späteren deutschen Astronauten, der selbst aussagte, dass bei seinem Zurückweichen in den Fluchttunnel weder von MfS noch NVA auf ihn geschossen wurde (2. Auflage, S.204). Strafverfolgung gab es übrigens auch nicht wg. des Umstands, dass Zobel und Co. mit Pistolen aus den Beständen der West-Berliner Polizei ausgestattet waren; eines der Indizien für die Verstrickung von Teilen der Fluchthelfer in das West-Berliner kriminelle Milieu. Zu diesem Thema bemerkenswert gut die Anmerkungen des ehemaligen Bürgermeisters (von West-Berlin) und Pastors Heinrich Albertz in seinem Erinnerungsband »Blumen für Stukenbrock«, (vergleiche hier).
Zweifellos waren die Fluchthelfer eine »gemischte Szene«, unter die Idealisten mischten sich mehr und mehr professionelle, kommerziell Orientierte. Muss man das im Zusammenhang der Würdigung von Leben und Sterben von Egon Schultz ausweiten? Genauso wie die juristische Würdigung des Handelns der Fluchthelfer, rechtfertigt das Grenzregime, die rigide Einschränkung der Reise- und Bewegungsfreiheit der DDR-Bürger wiederum völker- und strafrechtliches Unrecht der damaligen Fluchthelfer? Das hätte wohl eher Platz in einem anderen Buch gefunden und dieses, dem Andenken an E. Schultz gewidmete gesprengt, belassen wir es dabei.
Zeitgefühl, die Zweite
Authentisches Zeitgefühl bringen – neben vielen zeitgenössischen Dokumenten von M. Baade selbst verfasste Artikel als »Volkskorrespondent« der Ostsee-Zeitung Rostock. Als Volkskorrespondent« hat er am 1.4.1964 seinen ersten Artikel verfasst, über Volksbildung geschrieben, seine Schule, Theater, Kultur, alles in allem 800-950 Artikel, ein »Schreibfuchs« also. Volks- und Arbeiterkorrespondenten waren eine DDR Einrichtung, die – nur annähernd ähnlich – 30 Jahre später, honorarsparend von manchem »Wessi-Blättchen« als »Leserreporter« als Novität gepriesen wurde. Ich war mit der Einrichtung dieser Korrespondenten (als stets neugieriger Westberliner) vertraut, aber merkwürdig berührt, mit einem von ihnen persönlich zu sprechen. Ebenso wie über Literaturverweise (»Wir sind nicht Staub im Wind«) zu reden, Titel, die in der heutigen Buchschwemme untergehen, die kaum ein »Wessi« kennt. Das gilt auch für viele andere erwähnte, sich historisch anfühlende Momente der damaligen Zeit, nur wurden die vom Rezensenten eben von der »anderen Seite« (der Grenze) erlebt und gesehen.
Dies ist auch eine besondere Leistung des Autors, die »Markierung« solcher Momente, der sich erfolgreich um Bild- und Dokumentensammlung an den unterschiedlichsten Stellen bemüht hat, sei es bei Egons Mutter, dem Regiment und der Kompanie, wo Uffz. Schultz diente. Der verantwortliche Major reagierte positiv auf M. Baades Ersuchen um Erinnerungsstücke, ebenso die wichtige Sammlung von Hagen Koch. Ein ehemaliger Kulturoffizier im Wachregiment, der viele im Wendechaos auf dem Müll gelandeten Dokumente gerettet und M. Baade zur Verfügung gestellt hat. Zu diesem Zeitgefühl gehören Faksimiles von Artikeln aus Medien der DDR, ganz besonders auch die, die den Mord an E. Schultz als Torpedierung des gerade abgeschlossenen Passierscheinabkommens sahen – was wirklich Besorgnis auf »unserer«, also der Westberliner Seite weckte. Schließlich – gut, dass Baade auch das erwähnt – wurde dieses Abkommen von der (Westberliner) SPD gegen die CDU durchgesetzt, die in dem Abkommen eine unzulässige Anerkennung und Aufwertung der DDR sah. So war er, der kalte Krieg, ein Krieg, in dem Egon Schultz starb.

Gleichermaßen eindrucksvoll die vielen (Zeit-)Zeugnisse der Betroffenheit und Trauer über Egons Tod, Trauerfeier und Bestattung, Gedenkstein, die zahllosen Bekundungen, Fotos, Artikel, Reden, Briefe, Ehrenbrigaden, Texte in Schulbüchern und Pionierkalendern und Kollektive, sehr eindrucksvoll und bewegend. Zum Beispiel die Kompanie »Egon Schultz«, deren Antreten ich in der Friedrichs-Engels-Kaserne in Berlin aus meinem Büro im 12. Stock des IHZ in der Berliner Friedrichstr. beobachten konnte (Wieder eine sehr persönliche Erinnerung: Ich arbeitete als West-Berliner damals für eine britische Firma in deren Büro in Ost-Berlin und fuhr – mit einem »Dienstvisum« ausgestattet – jeden Tag von West- nach Ost-Berlin, und zurück).
Insgesamt resümiert der Autor zur seinerzeitigen Berichterstattung in der DDR: »Gefühle, die aufs schwerste missbraucht wurden, unglaublich.«
Wie Egon Schultz starb
Ein besonders finsterer Abschnitt sind die eigentlichen Umstände des Todes von E. Schultz: Bemerkenswert, dass aus den von M. Baade (schon im ersten Band) veröffentlichten Unterlagen hervorgeht, wie schlecht MfS und NVA auf Fluchtversuche wie den Tunnel an der Strelitzerstr. vorbereitet waren. Ja, man bekommt sogar den Eindruck, dass sie sich nicht einmal bewaffnete Fluchthelfer vorstellen konnten – hatten sie etwa ihrer eigenen Propaganda nicht geglaubt? Das führte – nach einer Untersuchung durch das ZK der SED, auf Vorschlag von E. Honecker – zu einem Übungsgelände südlich der Stadt um, sich seitens MfS und NVA auf solche Ereignisse »besser einzustellen«.
Aus den beiden Auflagen von M. Baades Buch wird deutlich, dass die NVA-Angehörigen nahezu unvorbereitet in die Situation hinein- und von den MfS Verantwortlichen vorgeschickt wurden – E. Schultz hatte nicht einmal seinen Stahlhelm auf!
Während die MfS Angehörigen sich »vornehm« im Hintergrund hielten, forderten sie, nachdem der Fluchthelfer Zobel unbedrängt und als erster (auf die NVA’ler) geschossen hatte, die NVA auf, das Feuer zu erwidern. Aufgrund des völlig dilettantischen Ablaufs auf Seiten MfS/NVA, traf deren Feuer ihren eigenen Mann, Egon Schultz. Der wiederum aufgrund des Schusses von C. Zobel bereits schwer verwundet am Boden lag. Die neun aus der Kalaschnikow des NVA-Soldaten Maier abgegebenen Schüssen verwundeten Egon tödlich. Während nach den detailliert widergegebenen Obduktionsprotokollen des weltweit renommierten DDR Pathologen Prof. Prokop sich sofort die Frage stellte, dass dessen (Maiers) Angaben über die Art der Schussverletzungen mitnichten zu den Zeugenprotokollen von MfS und NVA passten, klärt sich dies in der Neuauflage von 2015. Durch den ehemaligen (West-)Berliner Kripobeamten Jascha Wozniak erfolgt eine Rekonstruktion der Vorgänge. Deren für mich weitgehend überzeugende Ergebnisse zeigen, dass selbst die ausführlichen Aussagen der unmittelbar am Tatort Tätigen (MfS und NVA-Angehörige) zum großen Teil den wahren Verlauf verschleiernde Lügen darstellen und dies offenbar sollten. Großartig, wie Autor Baade die sich zu (Teilbildern) zusammenfügenden, jahrelangen Puzzles – über beide Bücher – zusammenfügt.
Aber: Wieso waren all diese offensichtlichen Widersprüche für die West-Berliner Staatsanwaltschaft nicht Anlass genug, Aufklärung und Anklage zu schaffen?
Und sich allein darauf zurück zu ziehen, dass Ost-Berlin Unterlagen verweigerte?!
Und wieso ermittelte diese Staatsanwaltschaft auch nach der Wend e(von 1990-94) ergebnislos und wurde erst durch Zeitungsberichte mit der Nase auf die Wahrheit gestoßen? Um erst 1994 die Ermittlungen wieder aufzunehmen? Und um dann die Anklage gegen die Fluchthelfer wegen versuchtem Totschlag einzustellen? So dass einer von ihnen ungestört Karriere im thüringischen Finanzministerium machen konnte – Folge der »Siegerjustiz« nach der Wende?
Fragen, auf die man, auch unter Berücksichtigung des Tods von C. Zobel aber – vielleicht in einem anderen Buch – auch eingehen könnte.
Horch & Guck’s Schnüffelei
Immer wieder eindrucksvoll, wie Michael Baade sich schrecklichen Wirklichkeiten nähert bzw. diese plastisch macht: Bestechend das Gespräch mit der KP (=Kontaktperson des MfS), dem Berliner Physiker Horst Lange, über den die Info über das Fluchtunternehmen an das MfS kam. Wie Baade das schreibt, offenbart es nicht dies alleine, es transportiert darüberhinaus diese miese Schnüffel- und Verratsatmosphäre, die so kennzeichnend für Mielkes »Horch-und-Guck« Armee war (»Horch-und-Guck« war eine DDR Bezeichung für die Staatssicherheit). Insofern war dieses Gespräch mit Autor Baade für die einstige MfS Kontaktperson ein erleichterndes »reinen Tisch machen«. Ein anderer MfS Zuträger hat diesen Mut nicht und verweigert dem Autor jedes Gespräch.
M. Baade fragt schließlich: »Kann ein Staatsbegräbnis den Tod eines Sohnes, Freundes, jungen Lehrers wieder gut machen?«

Für ihn – und viele andere – muss es einfach unglaublich erscheinen, wie seine Gefühle missbraucht wurden. Wie die Propagandamaschine den Tod seines Freundes umlog, nicht nur in den Medien, selbst in Kinderbüchern, NVA-Lehrmaterial und vielem mehr. Als wären die eigentlichen Umstände, die Brutalität der Teilung, der Mauer, die mitunter verzweifelten Fluchtversuche, das dilettantische Vorgehen von MfS (vor allem) und NVA nicht genug.
Um auf Baades Frage zurück zu kommen: Ich denke nicht, erst sein Buch hilft dazu.
Die Aufdeckung der Propagandalügen
Schon 1994 erfährt M. Baade aus der Rostocker Ostsee-Zeitung, dass Egon Schultz von eigenen Leuten getötet wurde. Aber der Artikel in der Ostsee-Zeitung vom 27.8.1994, der sich auf Ergebnisse der Berliner Staatsanwaltschaft stützt, kann noch nicht alles belegen, Dokumente fehlen noch. Das ergibt sich erst aus den mannigfachen Dokumenten, die dem Artikel der Superillu vom Februar 2001 zugrunde liegen. Den gab es aufgrund der Recherchen des Rostocker Journalisten Bodo Müller, vergleiche sein Buch »Faszination Freiheit«, mit dem die MfS-Legende um den Tod des E.Schultz weitestgehend aufgedeckt wurde. Ähnlich die Ostsee-Zeitung vom März d.J. und ein ausgezeichneter Artikel von Britta Wauer in der SZ aus dem August 2001 (als die SZ noch nicht im Mainstream versackt war). Von Frau Wauer stammt auch das Drehbuch des in Arte und ZDF ausgestrahlten Films »Heldentod« zu E. Schultz.
M. Baade spart aber auch Kontroversen nicht aus, so in einemLeserbrief eines ehemaligen NVA-Grenzsoldaten und zeitweiligen Stubengefährten von Egon an die Superillu: »Egon Schultz war im Grunde ein Pazifist und hätte niemals in der vordersten Front zur Grenzsicherung eingesetzt werden dürfen«. Oder die Fragen der Witwe des Schriftstellers »Kuba«, Ruth Barthel, die den Täter Zobel nunmehr in Schutz genommen sieht. Dies wird auch deutlich in der selten erwähnten Tatsache, dass E. Schultz trotz Aufforderung das Feuer der Fluchthelfer nicht erwidert hat.
Unglaublich dagegen die Reaktion eines Unbelehrbaren, die von Egon Krenz, im Jahre 2010 auf die Frage des Autors: Ja, die Verantwortlichen in der DDR wären mit den Vorgängen und Egon Schultzs Tod richtig umgegangen; gut, dass Baade auch diese Ungeheuerlichkeit notiert.
Besonders anrührend der »offene Brief« des Autors (Versuch einer Annäherung) an seinen Jugendfreund Egon Schultz. Ebenso die »Erinnerungen an meinen Klassenlehrer Egon Schultz«, von einer seiner Rostocker Schülerinnen, fast 50 Jahre danach.
Und Fragen bleiben: Wie wenig ist vom Gedenken an das Opfer, an den Menschen Egon Schultz nach der Wende, die ja erst die Aufklärung über die MfS-Lügen brachte, geblieben?!
Und wenn mal einmal vom »Verein Berliner Unterwelten« absieht, warum sind fast alle Ehrungen, Erinnerungen, Dokumentationen an Egon Schultz aus der Öffentlichkeit verschwunden? Warum wird nicht z.B. eine Bundeswehrkaserne nach ihm – statt nach einem der Wehrmachtsmörder – benannt? Warum hat Herr Gauck seinen Einfluss nicht an dieser Stelle geltend gemacht?
Verbesserungen in der Neuauflage des Buchs
Gut, dass es 2015 eine in der Reproduktion stark verbesserte Neu-Auflage gab, was der Lesbarkeit der meisten Dokumente gut tat und manche, aber noch nicht alle, offen gebliebenen Fragen löste. Gleichzeitig beinhaltet diese Auflage sehr viele zusätzliche Bilddokumente, Briefe, Fotos, Zeichnungen, die den Menschen Egon Schultz näher bringen, die oft anrühren, Trauer zeugen.
Das Buch macht deutlich, dass der junge Egon eigentlich dreifach gestorben ist, nach dem realen Tod in Berlin 1964, dem virtuellen in der Propagandalüge Mielkes und dann, als endlich die Geschichte vom Kopf zurück auf die Füße gestellt wurde. Es zeigt, dass die meisten Menschen in der DDR in ehrlicher Trauer um Egon Schultz waren, aber sie glaubten an etwas, was sich im Nachhinein größtenteils als Propagandaspektakel herausstellte, sie mussten daran glauben.
Mich hat auch interessiert, von welcher Stelle eigentlich diese Umfälschung der Wahrheit ausging, wie der Mechanismus der Propagandalügen an dieser Stelle aussah, ein Punkt, den M. Baade in seinen Büchern nicht angeht, mir aber im Gespräch sagt: Mielke!
Gut wiederum, dass in der Neuauflage des Buchs deutlich wird, dass die Fluchtaktion sogar die aktive Unterstützung der Polizei in Westberlin genoss, liegt da nicht auch ein Quentchen Mitschuld darin?

Schade, dass der Verlag dem Buch kein Stichwort- und Personenverzeichnis spendiert hat, dieses spannende Dokument wäre noch besser geworden.
Mir blieben schon nach der Lektüre der ersten Auflage viele Fragen, von denen manche, nicht alle, insbesondere durch die Ablaufrekonstruktion in der zweiten Auflage beantwortet wurden, andere erst in Gesprächen mit dem Autor.
All das macht auch deutlich, wie laienhaft der Einsatz von Seiten der DDR-Kräfte durchgeführt wurde, wie lückenhaft Erinnerungen der entscheidenden Momente sein können, eines Geschehens in Sekunden oder Bruchteilen davon.
Aber aus meiner Sicht sei betont, dass des Fluchthelfers C. Zobel Schusswaffeneinsatz völlig unmotiviert war und ihm keine unmittelbare Bedrohung von seiten des MfS bzw. der NVA voraus gegangen war.
Eine wirklich vollständige Rekonstruktion der Abläufe am 4./5. Oktober 1964 in Berlin bietet dieses Buch nicht im allerletzten Detail, selbst wenn ich es um manche Aufklärung aus den Gesprächen mit Michael Baade ergänze. Was den Rahmen einer ohnehin sehr ausführlichen Rezension vollständig sprengen könnte. Wobei Baade mir auch hat erklären können, dass es auch Menschen gab, mit denen er selbst nicht sprechen wollte, andere aber, die für sich mit der Sache abgeschlossen hatten, verweigerten hartnäckig das Gespräch, nicht nur ihm gegenüber, sondern auch der SZ-Autorin und Dokumentarfilmerin Britta Wauer gegenüber.
Michael Baade aber ging es in erster Linie um eine Erinnerung an den Freund und Menschen Egon Schultz, seinen »dreifachen Tod«, die Aufdeckung der wesentlichen Lügen darüber – dem ist er gerecht geworden.
Gedenken heute
Unwohl fühle ich mich bei manchem heutigen Gedenken, so der Tafel am Haus des Tatorts, in der nur von einem »Schusswechsel zwischen Fluchthelfern und Grenzsoldaten« die Rede ist. Die damit den die Ereignisse auslösenden ersten Schuss von Christian Zobel verschweigt, der hat zuerst geschossen, nicht MfS und nicht NVA. Wird damit nicht Zobel bzw. der Fluchthelfer wesentlicher Anteil am Tod von Egon in Schutz genommen, bzw. ihr Schuldanteil kleingehalten und die Ursächlichkeit der Schüsse Zobels für den Tod des Egon Schultz bewusst verschleiert?
Wo selbst das Berliner Kammergericht (allerdings 1994) die tödlichen Schüsse durch den NVA Soldaten Volker Maier als Notwehr einstuft – was Christian Zobel eindeutig als Auslöser der Ereignisse markiert! Und die Staatsanwaltschaft 1999 den Vorwurf gegen den inzwischen verstorbenen C. Zobel des bedingt vorsätzlichen Totschlags rechtfertigt. Und wo Wolfgang Fuchs, einer der Hauptinitiatoren des Fluchttunnels 57, an dem Egon Schultz starb, in der Neuauflage des Buchs (S. 163 ff) deutlich macht, dass der Schusswaffengebrauch von Seiten der Fluchthelfer schon bei der Planung bewusst einkalkuliert wurde.
Der Autor gibt mir an dieser Stelle Recht, weist aber auch daraufhin, dass – wie auch in der Neu-Auflage auf S.98 von den Verantwortlichen für die Tafel geschrieben – »Der Text ist und bleibt ein Kompromiss«. Und M. Baade unterstreicht im Gespräch mit mir: Für ihn waren weder C. Zobel, der Fluchthelfer, noch V. Maier, der NVA-Soldat, die Mörder E. Schultz; er will nichts personalisieren, sondern die gesamten Umstände des Todes deutlich machen. Und bestätigt mir, man sollte manches verwickelte Detail des Tatgeschehens auf sich beruhen lassen.
In der Rückschau sehe ich dies als fragender Rezensent inzwischen auch so.

Und als ich M. Baade in einem unserer Gespräche die Frage stelle: »…ob diese Aufklärung, diese Abrechnung mit einer Lügenpropaganda, dieses ehrliche Gedenken an den jungen Menschen, Pädagogen hilft, das alles zu verarbeiten?« antwortet er: »Ein doppeltes Ja!« Und: Das Entscheidende bleibt, an den Menschen Egon Schultz zu erinnern.
Mein Fazit:
Für den Autor Michael Baade steht nach meinem Eindruck im Vordergrund:
- Die Verarbeitung des Todes seines besten Freundes
- Die Wahrheit über die Vorgänge dieses Todes zu publizieren
- Die Verantwortung des MfS zu zeigen
- Eine Propagandalüge der DDR aufzudecken
- Das Andenken seines Freundes zu bewahren
Während ich all das unterschreiben kann, sehe ich – neben manch »westspezifischer« Erinnerung – auch diese Aspekte: – Ausgangspunkt des Todes v. Egon Schultz war ein kriminelles Fluchtunternehmen
- Dies geschah mit Wissen und Billigung der West-Berliner Behörden.
- Das Feuer wurde durch den West-Berliner Christian Zobel – ohne zwingenden Anlass – eröffnet; wogegen der begleitende R. Furrer (der spätere Astronaut) nichts unternahm.
Gerade der letzte Punkt gerät in diesem Buch m.E. zu Unrecht außerhalb des Fokus und in offiziellen Ehrungen heute völlig in den Hintergrund.
Und mir fällt nach den Gesprächen mit dem Autor auf, dass er nicht die aufgeheizte Situation in West-Berlin in den sechziger Jahren kannte, ich habe sie erlebt und sie war mit prägend für mich und meine Politisierung. Ich kannte diese Stimmung, die Atmosphäre, geradezu Progromstimmung z.B. in Kundgebungen vor dem Schöneberger Rathaus. Das Feiern von Fluchthelfern und Aktionen auch aus dem kriminellen Milieu, gegen die verhasste »Zone« schien alles erlaubt. So auch die Unterstützung des Fluchtunternehmens durch West-Berliner Polizisten, vgl. 2. Auflage, S. 193f. Oder auch die Mitgliedschaft des schießenden Fluchthelfers Zobel in der schlagenden Verbindung Corps Marchia (oft rechts bis rechtsextrem), was dem Buchautor entgangen ist, ihm als (ehemaligen) DDR-Bürger auch nicht viel bedeuten konnte. Mir als engagiertem 68er im besonderen Biotop Westberlin allerdings umso mehr.

Und es war eben diese Stimmung, in der es jahrelang zu jedem Andersdenkenden und jedem Demonstranten hieß: »Geh` doch rüber« und die mit dazu führte, dass der Bildzeitungsleser Bachmann 1968 auf Rudi Dutscke schoss und der West-Berliner Polizist Kurras Benno Ohnsorge ermordete. Und C. Zobel dazu brachte, dass er unprovoziert, offenbar ohne Hemmungen, das Feuer eröffnete und E. Schultz schwer verletzte.
So würde ich dem Schlussabschnitt des Artikels von Britta Wauer (Regie beim Dokumentarfilm »Heldentod« auf Arte/ZDF über den Tod von Egon Schultz) in der SZ vom 8.8.2001 zustimmen: »Die Geschichte des Grenzsoldaten Egon Schultz ist die Geschichte einer Propagandalüge. Es ist vor allem aber eine Tragödie aus der Zeit des Kalten Krieges, in der Berlin die Nahtstelle zweier Weltsysteme war. Das Schicksal von Egon Schultz hat eine Parallele: den Tod des Grenzsoldaten Reinhold Huhn. Auch er starb an der Mauer an einem Tunneleinstieg Richtung West-Berlin. Es war im Sommer 1962, zwei Jahre vor dem Tod von Egon Schultz. Der Flüchtling, den Reinhold Huhn ertappte, schoss ihn einfach nieder. Im Westen angekommen, erzählte der, drüben hätten sich die Grenzer gegenseitig totgeschossen. Eine Lüge, der man zu jener Zeit im Westen gerne Glauben schenkte.«
Zum Schluss
Dies ist ein Buch, über das, was die deutsche Grenze 1964 in Berlin bedeuten konnte, über Mauer, Flucht, Tod. Und wie dies in »offiziöser« Darstellung verfälscht wurde. Was deutlich macht, dass man – damals wie heute – gut beraten ist, »offiziösen« Stellen keineswegs unbesehen Glauben zu schenken.
Ein Buch, das Geschichte lebendig macht und sich dabei wie ein Krimi liest. Es ist auch ein sehr emotionales Buch, dass die Unfassbarkeit der Vorgänge 1964, als wären sie heute, deutlich macht! Ein außergewöhnliches »Geschichtsbuch«, das über die Erinnerung an einen jungen Menschen, Freund, Lehrer, Soldaten und seinen Tod an der Mauer hinaus viel Authentizät aus den sechziger Jahren Berlins bietet.

Es ist auch eine äußerst lebendige Geschichte, die ich – trotz mancher Kritik – insbesondere den Nachgeborenen, denen dieser Teil deutscher Geschichte erspart geblieben ist, sehr ans Herz legen möchte.
Besonders lesenswert
Nachtrag: Alle Abbildungen im Blogbeitrag mit Genehmigung des Autors aus der Neuauflage seines Buchs.
Zu den beiden Büchern Baades ist dieser Artikel aus der Märkischen Allgemeinen vom 16.5.2016 eine aktualisierte Zusammenfassung:
Ebenfalls lesenswert.

Zum Autor gibt es einen Wikipedia-Eintrag, der in erster Linie eine Bibliografie bringt.
