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Michael Baade
» Der Tod des Grenzsoldaten

Autor:Michael Baade (Deutsch­land, 2015)
Titel:Der Tod des Grenzsoldaten
Aus­gabe:Edi­tion Ber­li­ner Unter­wel­ten im Ch.Links Ver­lag, 2. erwei­terte & aktua­li­sierte Auf­lage 2015
Erstan­den:Vom Ver­lag
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Titel der ers­ten Aus­gabe des Buchs aus 2012

Der Ros­to­cker Michael Baade, des­sen Erin­ne­run­gen an Jan Voge­ler (ver­glei­che hier) mich begeis­ter­ten, hat mit »Mein Freund Egon« (Erst­auf­lage 2012) bzw. »Der Tod des Grenz­sol­da­ten« (Neu­auf­lage 2015) einen wich­ti­gen Bei­trag zur jün­ge­ren deut­schen Geschichte und zum Sün­den­re­gis­ter des Kaser­nen­hof-Sozia­lis­mus der DDR vor­ge­legt. Und wie neben­bei Schlag­lich­ter auf eine für mich schon leicht ver­schüt­tete Zeit aus Ber­li­ner bzw. West-Ber­li­ner Geschichte wirft:

Flucht­tun­nel und Fluchthelfer.

Ein Buch, das mit der Viel­zahl der per­sön­li­chen Doku­mente, der Zeit­zeu­gen­schil­de­run­gen und der stets spür­ba­ren Emo­tion des Erzäh­lers Michael Baade gegen­über dem Opfer, dem Grenz­sol­da­ten, sei­nem Freund Egon Schultz, doku­men­ta­risch eine außer­or­dent­li­che Nähe schafft.

Ein Buch, das so viel­fach betrof­fen macht:

  • Wie ver­kraf­tet es der Autor, 20 Jahre jun­ger, enga­gier­ter Päd­agoge und Frei­zeit­kor­re­spon­dent loka­ler Zei­tun­gen, wenige Jahre nach dem Mau­er­bau die Mor­gen­zei­tung auf­zu­schla­gen und zu erfah­ren, dass sein bes­ter Freund, Egon Schultz, tot ist, erschos­sen an der Ber­li­ner Grenze?
  • Wie kann man benen­nen und fas­sen, dass die Ver­ant­wort­li­chen des MfS in der DDR pro­pa­gan­dis­tisch die min­des­tens grob fahr­läs­sige Tötung des Egon Schultz durch die eige­nen Leute (nach ers­ter schwe­rer Ver­let­zung durch west­li­che Flucht­hel­fer) in einen Mord vom Wes­ten umlo­gen; und dar­auf die gesamte Pro­pa­gan­da­ma­schine der DDR ansetzten?
  • Wie gehe ich selbst, der Rezen­sent, damit um, dass ich damals und lange danach, den weni­gen vor­han­de­nen alter­na­ti­ven Medien (im Wes­ten) geglaubt habe, die ihrer­seits die MfS-Lüge trans­por­tier­ten? Und mich somit in einer ähn­li­chen Lage ver­setz­ten, wie die ob des erzählt-gelo­ge­nen Gesche­hens in ehr­li­cher Empö­rung um Egon Schultz trau­ern­den DDR-Bürger?

Bio­gra­fi­sches

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Der Titel der über­ar­bei­te­ten Neu-Auf­lage 2015

Mir ging Thema und Geschichte sehr nahe und unty­pisch für meine Rezen­sio­nen habe ich eng und umfang­reich mit dem Autor kor­re­spon­diert und kom­mu­ni­ziert. So habe ich mich gewun­dert, warum Egon Schultz, als Jung­leh­rer SED-Kan­di­dat und Unter­of­fi­ziers­schü­ler wird, aber nicht als »Genosse« in M. Baa­des Brie­fen ange­re­det wer­den möchte. Das resul­tierte wohl dar­aus, dass E. Schultz »ein ganz Lie­ber« war, nicht »nein« sagen konnte, Wer­bun­gen von NVA und Par­tei (die sehr nach­drück­lich sein konn­ten) schwer ableh­nen konnte. So berich­tet mir der Buch­au­tor im Gespräch.

So hat er nur zwei Wochen vor sei­nem Tod beim letz­ten Hei­mat­ur­laub in Ros­tock dem Autor nichts von der SED-Kan­di­da­tur erzählt. Wohl aber vom Kum­mer keine Freun­din zu haben, schüch­tern und als Uni­form­trä­ger in (Ost-)Berlin in der Damen­welt nicht unbe­dingt beliebt gewe­sen zu sein. Er war aber Leh­rer mit Leib und Seele, eigent­lich unpo­li­tisch. Als Arbei­ter­kind und ohne West­ver­wand­schaft schien er in dama­li­gen DDR-Ver­hält­nis­sen ideal für NVA und den Dienst an der Grenze, erklärt M. Baade mir: Er war ein sehr lie­ber Kerl, etwas schüch­tern ein begeis­ter­ter Päd­agoge. Dar­über berich­tet Baade in beein­dru­cken­den Sät­zen und schö­nen Doku­men­ten gerade zu Beginn sei­ner Bücher.

Fotos, Bil­der von E. Schultz mit Schü­lern, seine Beru­fung zur Leh­rer­aus­bil­dung, der Stu­den­ten­aus­weis, die Bemer­kung auf dem Abgangs­zeug­nis: »Egon Schultz hat hart an sich gear­bei­tet, und mit dem Ler­nen hat er es sehr ernst gemeint.«

Dann Bil­der aus sei­ner Leh­rer­zeit, Unter­richts­ent­würfe. Schließ­lich Briefe, Kar­ten, der Aus­tausch zwi­schen Ber­lin, wo Egon sta­tio­niert wird und Michael Baade, der in Ros­tock Leh­rer blei­ben konnte, nicht ein­be­ru­fen wurde. Ein alter ND-Arti­kel, den Baade rich­tig stel­len muss, ein Brief des »Uffz-Sch. Egon Schulz« an die Schul­klasse sei­nes Freunds. Beson­ders schön ein post­mor­tem Schrei­ben einer ehe­ma­li­gen Schü­le­rin »Erin­ne­run­gen an mei­nen Klas­sen­leh­rer Egon Schultz.« Schließ­lich zeit­ge­nös­si­sche und heu­tige Ein­bet­tun­gen in diese Ära der DDR, man­ches haut­nah, bestechend historisch.

Ich habe lange mit dem Autor gespro­chen, ihn gefragt, warum die­ses Buch: »Ich möchte, dass Egon nicht ver­ges­sen wird, ich möchte erin­nern, daher der Titel der ers­ten Aus­gabe. Ich möchte, dass mein Jugend­freund nicht ver­ges­sen wird.« Und gegen Ende unse­rer Tele­fo­nate: »Ich möchte gerne Egons Weg ent­lang gehen – mit Dir.«

Ich hoffe, mit die­sem Text Michael Baa­des Anlie­gen etwas gerecht zu werden.

Der trau­rige Anlass

Dies ist ein Buch über den bes­ten Freund des Autors, der frisch geba­cke­ner Jung­leh­rer aus Ros­tock, als NVA-Sol­dat bei der Auf­de­ckung eines Tun­nel-Flucht­un­ter­neh­mens an der Ber­li­ner Grenze im Dienst 1964 erschos­sen wurde. Und zwar durch »fri­endly fire«, also Schüsse aus der Kalasch­ni­kow eines Kame­ra­den, die Egon Schultz töd­lich tra­fen. Tra­fen, als er nach einer schwe­ren Ver­wun­dung durch den Schuss eines West-Ber­li­ner Flucht­hel­fers ver­wun­det am Boden lag. In der DDR wurde das in einen glat­ten Mord durch die Flucht­hel­fer umge­lo­gen, was – lan­des­weit – immense Trauer, Bei­leid und Ehrun­gen des Ver­stor­be­nen aus­löste. Bis 1994/2001 die Wahr­heit her­aus­kam, was Michael Baade ver­an­lasste die­ses Buch / diese Bücher zu schrei­ben und sei­nem toten Freund so ein Ehren­mal zu setzen.

Der Mensch und sein Lebensweg

Der Autor bringt dem Leser den Men­schen, den Leh­rer, den Päd­ago­gen, den Freund Egon nahe. Das macht er – wie fast im gan­zen Buch – anhand zahl­rei­cher Doku­mente, Bil­dern, Biefe, Fak­si­mi­les, die viel Zeit­geist trans­por­tie­ren. Z.B. in den Brie­fen von Egon, wo er den Stumpf­sinn beim Dienst in der NVA beklagt, oder sei­nen Freund Michael bit­tet, auf den Brie­fen, die die­ser ihm in die Kaserne nach Ber­lin schickt, nicht »Genosse« Egon Schultz zu schrei­ben. Mehr dazu im obi­gen Abschnitt »Bio­gra­fi­sches«; dazu noch ein Brief eines ehe­ma­li­gen Kame­ra­den von Egon: »Im Grunde war er Pazi­fist und hätte nie an der Grenze ein­ge­setzt wer­den dürfen.«

Ost/West

Ich muss eine erklä­rende Ent­schul­di­gung beim Autor ein­flech­ten: Ihn bewegt die Trauer um sei­nen Freund Egon und die Auf­klä­rung der vom MfS der DDR began­ge­nen gro­ben Geschichts­fäl­schung. Wie er und alle ande­ren Men­schen, die um Egon Schultz in ech­ter Anteil­nahme trau­er­ten, betro­gen wur­den und das Opfer einen zwei­ten Tod starb. Oder wie M. Baade es (1. Auf­lage, S.247) aus­drückt: »Ist Egon Schultz nicht ein drei­fa­ches Opfer? Unschul­dig mit 21 Jah­ren getö­tet, in der DDR als Held geehrt und gefei­ert, und nach der Wende wird sein Name (Stra­ßen, Schu­len, etc.)gelöscht.«

Eine Frage, die man gut ver­steht und nur mit »Ja« beant­wor­ten kann.

Mich aber bewegt mein eige­nes Erle­ben aus der Per­spek­tive eines West-Ber­li­ners aus die­ser Zeit, der sich mit der Auf­de­ckung der wah­ren Geschichte des Egon sich von eige­nen, lange erhal­te­nen Mythen und Dog­men tren­nen muss. Das kommt oft genug nicht über­ein mit dem Erle­ben des Autors. Von daher, par­don Michael Baade, wenn meine, wohl per­sön­lich gera­tene Rezen­sion, man­cher­orts Ihren Inten­tio­nen wider­spre­chen sollte.

Zeichnung-von-Egon-S17-Auflage-2Schließ­lich bewegt mich vie­les in dem Buch selbst als eigen erlebte Geschichte, nur eben von der ande­ren Seite der Mauer. So die Arti­kel über das erste Ber­li­ner Pas­sier­schein­ab­kom­men, exakt in der Ära des Tods von E. Schultz lie­gend. Ich habe selbst mit mei­ner Mut­ter und mei­nem Bru­der abwech­seln ab mor­gens um 5:00 fast 6 Std. vor dem Pas­sier­schein­büro in der Bel­zi­ger­str. in Ber­lin (West)-Schöneberg ange­stan­den, um eine Besuchs­er­laub­nis für meine in Lich­ten­berg (Ber­lin-Ost) woh­nende Groß­mutter zu erhal­ten. Oft also für mich eine andere Geschichte als die, die der Autor erzählt, eine typi­sche Ost/West Kluft. Auch eine Geschichte, die sich hier reflek­tiert, wenn ich lese, dass E. Schultz mit genau die­sem Abkom­men an der Grenze ein­ge­setzt war, ob meine Mut­ter ihn gese­hen hat? Wahr­ge­nom­men sicher nicht, für uns, von der »ande­ren Seite« blie­ben die »Kon­troll­organe« und die NVA­ler stets anonym.

Zeit­ge­fühl

Ber­mer­kens­wert finde ich die Art, wie M. Baade sich der Wirk­lich­keit nähert, die Zeit­do­ku­mente, Arti­kel, Bil­der, Briefe, Zeug­nisse ech­ter Trauer. Aber auch das Ein­ge­hen auf andere Mau­er­tote wie Rein­hold Huhn, kalt­blü­tig von einem Flucht­hel­fer ermor­det und von der west­deut­schen Jus­tiz geschützt.

Dazu gehö­ren auch Zei­tungs­ar­ti­kel dama­li­ger west­li­cher Medien, die auch offen­ba­ren, dass aus den (Mord-)geschichten der Fluch­ten und ihrer Hel­fer gut bezahlte Sen­sa­ti­onssto­ries wur­den – der Stern zahlte 25.000 DM für die Publi­ka­ti­ons­rechte zur Flucht durch den Tun­nel 57, den Tun­nel, an des­sen öst­li­chem Ende Egon Schultz starb. Den Rest des Unter­neh­mens finan­zierte die schon immer mit rechts­na­tio­na­len Krei­sen gut ver­netzte Ber­li­ner CDU, die sich am Schuss­waf­fen­ge­brauch der so bezahl­ten Flucht­hel­fer wenig störte – gegen das ver­hasste »Zonen­re­gi­mer« waren im Grunde alle Mit­tel Recht.

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Der junge Leh­rer Egon Schultz

So kann sich der Rezen­sent gut daran erin­nern, dass im Wes­ten in die­ser Zeit Flucht­hel­fer – auch bewaff­nete – als Hel­den gefei­ert wur­den. Da nimmt es – mei­ner­seits – wenig Wun­der, dass es meist gegen Flucht­hel­fer im Wes­ten keine (ernst­hafte) Straf­ver­fol­gung gab. So auch im Falle des Chris­tian Zobel, des­sen erste (unpro­vo­zierte) Schüsse auf E. Schultz aus­lö­send für das Desas­ter und den Tod des Grenz­sol­da­ten waren. Zobel war zu die­sem Zeit­punkt in Beglei­tung von Rein­hard Fur­rer, dem spä­te­ren deut­schen Astro­nau­ten, der selbst aus­sagte, dass bei sei­nem Zurück­wei­chen in den Flucht­tun­nel weder von MfS noch NVA auf ihn geschos­sen wurde (2. Auf­lage, S.204). Straf­ver­fol­gung gab es übri­gens auch nicht wg. des Umstands, dass Zobel und Co. mit Pis­to­len aus den Bestän­den der West-Ber­li­ner Poli­zei aus­ge­stat­tet waren; eines der Indi­zien für die Ver­stri­ckung von Tei­len der Flucht­hel­fer in das West-Ber­li­ner kri­mi­nelle Milieu. Zu die­sem Thema bemer­kens­wert gut die Anmer­kun­gen des ehe­ma­li­gen Bür­ger­meis­ters (von West-Ber­lin) und Pas­tors Hein­rich Albertz in sei­nem Erin­ne­rungs­band »Blu­men für Stu­ken­b­rock«, (ver­glei­che hier).

Zwei­fel­los waren die Flucht­hel­fer eine »gemischte Szene«, unter die Idea­lis­ten misch­ten sich mehr und mehr pro­fes­sio­nelle, kom­mer­zi­ell Ori­en­tierte. Muss man das im Zusam­men­hang der Wür­di­gung von Leben und Ster­ben von Egon Schultz aus­wei­ten? Genauso wie die juris­ti­sche Wür­di­gung des Han­delns der Flucht­hel­fer, recht­fer­tigt das Grenz­re­gime, die rigide Ein­schrän­kung der Reise- und Bewe­gungs­frei­heit der DDR-Bür­ger wie­derum völ­ker- und straf­recht­li­ches Unrecht der dama­li­gen Flucht­hel­fer? Das hätte wohl eher Platz in einem ande­ren Buch gefun­den und die­ses, dem Andenken an E. Schultz gewid­mete gesprengt, belas­sen wir es dabei.

Zeit­ge­fühl, die Zweite

Authen­ti­sches Zeit­ge­fühl brin­gen – neben vie­len zeit­ge­nös­si­schen Doku­men­ten von M. Baade selbst ver­fasste Arti­kel als »Volks­kor­re­spon­dent« der Ost­see-Zei­tung Ros­tock. Als Volks­kor­re­spon­dent« hat er am 1.4.1964 sei­nen ers­ten Arti­kel ver­fasst, über Volks­bil­dung geschrie­ben, seine Schule, Thea­ter, Kul­tur, alles in allem 800-950 Arti­kel, ein »Schreib­fuchs« also. Volks- und Arbei­ter­kor­re­spon­den­ten waren eine DDR Ein­rich­tung, die – nur annä­hernd ähn­lich – 30 Jahre spä­ter, hono­rar­spa­rend von man­chem »Wessi-Blätt­chen« als »Leser­re­por­ter« als Novi­tät geprie­sen wurde. Ich war mit der Ein­rich­tung die­ser Kor­re­spon­den­ten (als stets neu­gie­ri­ger West­ber­li­ner) ver­traut, aber merk­wür­dig berührt, mit einem von ihnen per­sön­lich zu spre­chen. Ebenso wie über Lite­ra­tur­ver­weise (»Wir sind nicht Staub im Wind«) zu reden, Titel, die in der heu­ti­gen Buch­schwemme unter­ge­hen, die kaum ein »Wessi« kennt. Das gilt auch für viele andere erwähnte, sich his­to­risch anfüh­lende Momente der dama­li­gen Zeit, nur wur­den die vom Rezen­sen­ten eben von der »ande­ren Seite« (der Grenze) erlebt und gesehen.

Dies ist auch eine beson­dere Leis­tung des Autors, die »Mar­kie­rung« sol­cher Momente, der sich erfolg­reich um Bild- und Doku­men­ten­samm­lung an den unter­schied­lichs­ten Stel­len bemüht hat, sei es bei Egons Mut­ter, dem Regi­ment und der Kom­pa­nie, wo Uffz. Schultz diente. Der ver­ant­wort­li­che Major reagierte posi­tiv auf M. Baa­des Ersu­chen um Erin­ne­rungs­stü­cke, ebenso die wich­tige Samm­lung von Hagen Koch. Ein ehe­ma­li­ger Kul­tur­of­fi­zier im Wach­re­gi­ment, der viele im Wen­de­chaos auf dem Müll gelan­de­ten Doku­mente geret­tet und M. Baade zur Ver­fü­gung gestellt hat. Zu die­sem Zeit­ge­fühl gehö­ren Fak­si­mi­les von Arti­keln aus Medien der DDR, ganz beson­ders auch die, die den Mord an E. Schultz als Tor­pe­die­rung des gerade abge­schlos­se­nen Pas­sier­schein­ab­kom­mens sahen – was wirk­lich Besorg­nis auf »unse­rer«, also der West­ber­li­ner Seite weckte. Schließ­lich – gut, dass Baade auch das erwähnt – wurde die­ses Abkom­men von der (West­ber­li­ner) SPD gegen die CDU durch­ge­setzt, die in dem Abkom­men eine unzu­läs­sige Aner­ken­nung und Auf­wer­tung der DDR sah. So war er, der kalte Krieg, ein Krieg, in dem Egon Schultz starb.

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Umschlag des Briefs, den E. Schultz an die Klasse sei­nes Freunds in Ros­tock (aus Ber­lin) schrieb.

Glei­cher­ma­ßen ein­drucks­voll die vie­len (Zeit-)Zeugnisse der Betrof­fen­heit und Trauer über Egons Tod, Trau­er­feier und Bestat­tung, Gedenk­stein, die zahl­lo­sen Bekun­dun­gen, Fotos, Arti­kel, Reden, Briefe, Ehren­bri­ga­den, Texte in Schul­bü­chern und Pio­nier­ka­len­dern und Kol­lek­tive, sehr ein­drucks­voll und bewe­gend. Zum Bei­spiel die Kom­pa­nie »Egon Schultz«, deren Antre­ten ich in der Fried­richs-Engels-Kaserne in Ber­lin aus mei­nem Büro im 12. Stock des IHZ in der Ber­li­ner Fried­richstr. beob­ach­ten konnte (Wie­der eine sehr per­sön­li­che Erin­ne­rung: Ich arbei­tete als West-Ber­li­ner damals für eine bri­ti­sche Firma in deren Büro in Ost-Ber­lin und fuhr – mit einem »Dienst­vi­sum« aus­ge­stat­tet – jeden Tag von West- nach Ost-Ber­lin, und zurück).

Ins­ge­samt resü­miert der Autor zur sei­ner­zei­ti­gen Bericht­erstat­tung in der DDR: »Gefühle, die aufs schwerste miss­braucht wur­den, unglaublich.«

Wie Egon Schultz starb

Ein beson­ders fins­te­rer Abschnitt sind die eigent­li­chen Umstände des Todes von E. Schultz: Bemer­kens­wert, dass aus den von M. Baade (schon im ers­ten Band) ver­öf­fent­lich­ten Unter­la­gen her­vor­geht, wie schlecht MfS und NVA auf Flucht­ver­su­che wie den Tun­nel an der Stre­lit­zer­str. vor­be­rei­tet waren. Ja, man bekommt sogar den Ein­druck, dass sie sich nicht ein­mal bewaff­nete Flucht­hel­fer vor­stel­len konn­ten – hat­ten sie etwa ihrer eige­nen Pro­pa­ganda nicht geglaubt? Das führte – nach einer Unter­su­chung durch das ZK der SED, auf Vor­schlag von E. Hon­ecker – zu einem Übungs­ge­lände süd­lich der Stadt um, sich sei­tens MfS und NVA auf sol­che Ereig­nisse »bes­ser einzustellen«.

Aus den bei­den Auf­la­gen von M. Baa­des Buch wird deut­lich, dass die NVA-Ange­hö­ri­gen nahezu unvor­be­rei­tet in die Situa­tion hin­ein- und von den MfS Ver­ant­wort­li­chen vor­ge­schickt wur­den – E. Schultz hatte nicht ein­mal sei­nen Stahl­helm auf!

Todesanzeige-s59Wäh­rend die MfS Ange­hö­ri­gen sich »vor­nehm« im Hin­ter­grund hiel­ten, for­der­ten sie, nach­dem der Flucht­hel­fer Zobel unbe­drängt und als ers­ter (auf die NVA’ler) geschos­sen hatte, die NVA auf, das Feuer zu erwi­dern. Auf­grund des völ­lig dilet­tan­ti­schen Ablaufs auf Sei­ten MfS/NVA, traf deren Feuer ihren eige­nen Mann, Egon Schultz. Der wie­derum auf­grund des Schus­ses von C. Zobel bereits schwer ver­wun­det am Boden lag. Die neun aus der Kalasch­ni­kow des NVA-Sol­da­ten Maier abge­ge­be­nen Schüs­sen ver­wun­de­ten Egon töd­lich. Wäh­rend nach den detail­liert wider­ge­ge­be­nen Obduk­ti­ons­pro­to­kol­len des welt­weit renom­mier­ten DDR Patho­lo­gen Prof. Prokop sich sofort die Frage stellte, dass des­sen (Mai­ers) Anga­ben über die Art der Schuss­ver­let­zun­gen mit­nich­ten zu den Zeu­gen­pro­to­kol­len von MfS und NVA pass­ten, klärt sich dies in der Neu­auf­lage von 2015. Durch den ehe­ma­li­gen (West-)Berliner Kri­po­be­am­ten Jascha Woz­niak erfolgt eine Rekon­struk­tion der Vor­gänge. Deren für mich weit­ge­hend über­zeu­gende Ergeb­nisse zei­gen, dass selbst die aus­führ­li­chen Aus­sa­gen der unmit­tel­bar am Tat­ort Täti­gen (MfS und NVA-Ange­hö­rige) zum gro­ßen Teil den wah­ren Ver­lauf ver­schlei­ernde Lügen dar­stel­len und dies offen­bar soll­ten. Groß­ar­tig, wie Autor Baade die sich zu (Teil­bil­dern) zusam­men­fü­gen­den, jah­re­lan­gen Puz­zles – über beide Bücher – zusammenfügt.

Aber: Wieso waren all diese offen­sicht­li­chen Wider­sprü­che für die West-Ber­li­ner Staats­an­walt­schaft nicht Anlass genug, Auf­klä­rung und Anklage zu schaffen?

Und sich allein dar­auf zurück zu zie­hen, dass Ost-Ber­lin Unter­la­gen verweigerte?!

Und wieso ermit­telte diese Staats­an­walt­schaft auch nach der Wend e(von 1990-94) ergeb­nis­los und wurde erst durch Zei­tungs­be­richte mit der Nase auf die Wahr­heit gesto­ßen? Um erst 1994 die Ermitt­lun­gen wie­der auf­zu­neh­men? Und um dann die Anklage gegen die Flucht­hel­fer wegen ver­such­tem Tot­schlag ein­zu­stel­len? So dass einer von ihnen unge­stört Kar­riere im thü­rin­gi­schen Finanz­mi­nis­te­rium machen konnte – Folge der »Sie­ger­jus­tiz« nach der Wende?

Fra­gen, auf die man, auch unter Berück­sich­ti­gung des Tods von C. Zobel aber – viel­leicht in einem ande­ren Buch – auch ein­ge­hen könnte.

Horch & Guck’s Schnüffelei

Immer wie­der ein­drucks­voll, wie Michael Baade sich schreck­li­chen Wirk­lich­kei­ten nähert bzw. diese plas­tisch macht: Bestechend das Gespräch mit der KP (=Kon­takt­per­son des MfS), dem Ber­li­ner Phy­si­ker Horst Lange, über den die Info über das Flucht­un­ter­neh­men an das MfS kam. Wie Baade das schreibt, offen­bart es nicht dies alleine, es trans­por­tiert dar­über­hin­aus diese miese Schnüf­fel- und Ver­rats­at­mo­sphäre, die so kenn­zeich­nend für Miel­kes »Horch-und-Guck« Armee war (»Horch-und-Guck« war eine DDR Bezei­chung für die Staats­si­cher­heit). Inso­fern war die­ses Gespräch mit Autor Baade für die eins­tige MfS Kon­takt­per­son ein erleich­tern­des »rei­nen Tisch machen«. Ein ande­rer MfS Zuträ­ger hat die­sen Mut nicht und ver­wei­gert dem Autor jedes Gespräch.

M. Baade fragt schließ­lich: »Kann ein Staats­be­gräb­nis den Tod eines Soh­nes, Freun­des, jun­gen Leh­rers wie­der gut machen?«

Mahnwache-S77
DDR Mahn­wa­che vor der Gedenk­ta­fel an dem Haus, in des­sen Hof Egon Schultz getö­tet wurde.

Für ihn – und viele andere – muss es ein­fach unglaub­lich erschei­nen, wie seine Gefühle miss­braucht wur­den. Wie die Pro­pa­gan­da­ma­schine den Tod sei­nes Freun­des umlog, nicht nur in den Medien, selbst in Kin­der­bü­chern, NVA-Lehr­ma­te­rial und vie­lem mehr. Als wären die eigent­li­chen Umstände, die Bru­ta­li­tät der Tei­lung, der Mauer, die mit­un­ter ver­zwei­fel­ten Flucht­ver­su­che, das dilet­tan­ti­sche Vor­ge­hen von MfS (vor allem) und NVA nicht genug.

Um auf Baa­des Frage zurück zu kom­men: Ich denke nicht, erst sein Buch hilft dazu.

Die Auf­de­ckung der Propagandalügen

Schon 1994 erfährt M. Baade aus der Ros­to­cker Ost­see-Zei­tung, dass Egon Schultz von eige­nen Leu­ten getö­tet wurde. Aber der Arti­kel in der Ost­see-Zei­tung vom 27.8.1994, der sich auf Ergeb­nisse der Ber­li­ner Staats­an­walt­schaft stützt, kann noch nicht alles bele­gen, Doku­mente feh­len noch. Das ergibt sich erst aus den man­nig­fa­chen Doku­men­ten, die dem Arti­kel der Superillu vom Februar 2001 zugrunde lie­gen. Den gab es auf­grund der Recher­chen des Ros­to­cker Jour­na­lis­ten Bodo Mül­ler, ver­glei­che sein Buch »Fas­zi­na­tion Frei­heit«, mit dem die MfS-Legende um den Tod des E.Schultz wei­test­ge­hend auf­ge­deckt wurde. Ähn­lich die Ost­see-Zei­tung vom März d.J. und ein aus­ge­zeich­ne­ter Arti­kel von Britta Wauer in der SZ aus dem August 2001 (als die SZ noch nicht im Main­stream ver­sackt war). Von Frau Wauer stammt auch das Dreh­buch des in Arte und ZDF aus­ge­strahl­ten Films »Hel­den­tod« zu E. Schultz.

M. Baade spart aber auch Kon­tro­ver­sen nicht aus, so in einem­Le­ser­brief eines ehe­ma­li­gen NVA-Grenz­sol­da­ten und zeit­wei­li­gen Stu­ben­ge­fähr­ten von Egon an die Superillu: »Egon Schultz war im Grunde ein Pazi­fist und hätte nie­mals in der vor­ders­ten Front zur Grenz­si­che­rung ein­ge­setzt wer­den dür­fen«. Oder die Fra­gen der Witwe des Schrift­stel­lers »Kuba«, Ruth Bart­hel, die den Täter Zobel nun­mehr in Schutz genom­men sieht. Dies wird auch deut­lich in der sel­ten erwähn­ten Tat­sa­che, dass E. Schultz trotz Auf­for­de­rung das Feuer der Flucht­hel­fer nicht erwi­dert hat.

Unglaub­lich dage­gen die Reak­tion eines Unbe­lehr­ba­ren, die von Egon Krenz, im Jahre 2010 auf die Frage des Autors: Ja, die Ver­ant­wort­li­chen in der DDR wären mit den Vor­gän­gen und Egon Schultzs Tod rich­tig umge­gan­gen; gut, dass Baade auch diese Unge­heu­er­lich­keit notiert.

Beson­ders anrüh­rend der »offene Brief« des Autors (Ver­such einer Annä­he­rung) an sei­nen Jugend­freund Egon Schultz. Ebenso die »Erin­ne­run­gen an mei­nen Klas­sen­leh­rer Egon Schultz«, von einer sei­ner Ros­to­cker Schü­le­rin­nen, fast 50 Jahre danach.

Foto-und-Todesanzeige-S77Und Fra­gen blei­ben: Wie wenig ist vom Geden­ken an das Opfer, an den Men­schen Egon Schultz nach der Wende, die ja erst die Auf­klä­rung über die MfS-Lügen brachte, geblieben?!

Und wenn mal ein­mal vom »Ver­ein Ber­li­ner Unter­wel­ten« absieht, warum sind fast alle Ehrun­gen, Erin­ne­run­gen, Doku­men­ta­tio­nen an Egon Schultz aus der Öffent­lich­keit ver­schwun­den? Warum wird nicht z.B. eine Bun­des­wehr­ka­serne nach ihm – statt nach einem der Wehr­machts­mör­der – benannt? Warum hat Herr Gauck sei­nen Ein­fluss nicht an die­ser Stelle gel­tend gemacht?

Ver­bes­se­run­gen in der Neu­auf­lage des Buchs

Gut, dass es 2015 eine in der Repro­duk­tion stark ver­bes­serte Neu-Auf­lage gab, was der Les­bar­keit der meis­ten Doku­mente gut tat und man­che, aber noch nicht alle, offen geblie­be­nen Fra­gen löste. Gleich­zei­tig beinhal­tet diese Auf­lage sehr viele zusätz­li­che Bild­do­ku­mente, Briefe, Fotos, Zeich­nun­gen, die den Men­schen Egon Schultz näher brin­gen, die oft anrüh­ren, Trauer zeugen.

Das Buch macht deut­lich, dass der junge Egon eigent­lich drei­fach gestor­ben ist, nach dem rea­len Tod in Ber­lin 1964, dem vir­tu­el­len in der Pro­pa­gan­da­lüge Miel­kes und dann, als end­lich die Geschichte vom Kopf zurück auf die Füße gestellt wurde. Es zeigt, dass die meis­ten Men­schen in der DDR in ehr­li­cher Trauer um Egon Schultz waren, aber sie glaub­ten an etwas, was sich im Nach­hin­ein größ­ten­teils als Pro­pa­gan­daspek­ta­kel her­aus­stellte, sie muss­ten daran glauben.

Mich hat auch inter­es­siert, von wel­cher Stelle eigent­lich diese Umfäl­schung der Wahr­heit aus­ging, wie der Mecha­nis­mus der Pro­pa­gan­da­lü­gen an die­ser Stelle aus­sah, ein Punkt, den M. Baade in sei­nen Büchern nicht angeht, mir aber im Gespräch sagt: Mielke!

Gut wie­derum, dass in der Neu­auf­lage des Buchs deut­lich wird, dass die Flucht­ak­tion sogar die aktive Unter­stüt­zung der Poli­zei in West­ber­lin genoss, liegt da nicht auch ein Quent­chen Mit­schuld darin?

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Ber­li­ner Denk­mal der Grenz­trup­pen (alte Ansichts­karte der DDR aus den 70ern). Unter den dort an der Grenze getö­te­ten Grenz­sol­da­ten wurde E.Schultz an 5. Stelle genannt. Das Denk­mal befand sich nahe des Gebäu­des des Sprin­ger-Ver­lags und wurde 1994 ersatz­los beseitigt.

Schade, dass der Ver­lag dem Buch kein Stich­wort- und Per­so­nen­ver­zeich­nis spen­diert hat, die­ses span­nende Doku­ment wäre noch bes­ser geworden.

Mir blie­ben schon nach der Lek­türe der ers­ten Auf­lage viele Fra­gen, von denen man­che, nicht alle, ins­be­son­dere durch die Ablauf­re­kon­struk­tion in der zwei­ten Auf­lage beant­wor­tet wur­den, andere erst in Gesprä­chen mit dem Autor.

All das macht auch deut­lich, wie lai­en­haft der Ein­satz von Sei­ten der DDR-Kräfte durch­ge­führt wurde, wie lücken­haft Erin­ne­run­gen der ent­schei­den­den Momente sein kön­nen, eines Gesche­hens in Sekun­den oder Bruch­tei­len davon.

Aber aus mei­ner Sicht sei betont, dass des Flucht­hel­fers C. Zobel Schuss­waf­fen­ein­satz völ­lig unmo­ti­viert war und ihm keine unmit­tel­bare Bedro­hung von sei­ten des MfS bzw. der NVA vor­aus gegan­gen war.

Eine wirk­lich voll­stän­dige Rekon­struk­tion der Abläufe am 4./5. Okto­ber 1964 in Ber­lin bie­tet die­ses Buch nicht im aller­letz­ten Detail, selbst wenn ich es um man­che Auf­klä­rung aus den Gesprä­chen mit Michael Baade ergänze. Was den Rah­men einer ohne­hin sehr aus­führ­li­chen Rezen­sion voll­stän­dig spren­gen könnte. Wobei Baade mir auch hat erklä­ren kön­nen, dass es auch Men­schen gab, mit denen er selbst nicht spre­chen wollte, andere aber, die für sich mit der Sache abge­schlos­sen hat­ten, ver­wei­ger­ten hart­nä­ckig das Gespräch, nicht nur ihm gegen­über, son­dern auch der SZ-Autorin und Doku­men­tar­fil­me­rin Britta Wauer gegenüber.

Michael Baade aber ging es in ers­ter Linie um eine Erin­ne­rung an den Freund und Men­schen Egon Schultz, sei­nen »drei­fa­chen Tod«, die Auf­de­ckung der wesent­li­chen Lügen dar­über – dem ist er gerecht geworden.

Geden­ken heute

Unwohl fühle ich mich bei man­chem heu­ti­gen Geden­ken, so der Tafel am Haus des Tat­orts, in der nur von einem »Schuss­wech­sel zwi­schen Flucht­hel­fern und Grenz­sol­da­ten« die Rede ist. Die damit den die Ereig­nisse aus­lö­sen­den ers­ten Schuss von Chris­tian Zobel ver­schweigt, der hat zuerst geschos­sen, nicht MfS und nicht NVA. Wird damit nicht Zobel bzw. der Flucht­hel­fer wesent­li­cher Anteil am Tod von Egon in Schutz genom­men, bzw. ihr Schuld­an­teil klein­ge­hal­ten und die Ursäch­lich­keit der Schüsse Zobels für den Tod des Egon Schultz bewusst verschleiert?

Wo selbst das Ber­li­ner Kam­mer­ge­richt (aller­dings 1994) die töd­li­chen Schüsse durch den NVA Sol­da­ten Vol­ker Maier als Not­wehr ein­stuft – was Chris­tian Zobel ein­deu­tig als Aus­lö­ser der Ereig­nisse mar­kiert! Und die Staats­an­walt­schaft 1999 den Vor­wurf gegen den inzwi­schen ver­stor­be­nen C. Zobel des bedingt vor­sätz­li­chen Tot­schlags recht­fer­tigt. Und wo Wolf­gang Fuchs, einer der Haupt­in­itia­to­ren des Flucht­tun­nels 57, an dem Egon Schultz starb, in der Neu­auf­lage des Buchs (S. 163 ff) deut­lich macht, dass der Schuss­waf­fen­ge­brauch von Sei­ten der Flucht­hel­fer schon bei der Pla­nung bewusst ein­kal­ku­liert wurde.

Der Autor gibt mir an die­ser Stelle Recht, weist aber auch dar­auf­hin, dass – wie auch in der Neu-Auf­lage auf S.98 von den Ver­ant­wort­li­chen für die Tafel geschrie­ben – »Der Text ist und bleibt ein Kom­pro­miss«. Und M. Baade unter­streicht im Gespräch mit mir: Für ihn waren weder C. Zobel, der Flucht­hel­fer, noch V. Maier, der NVA-Sol­dat, die Mör­der E. Schultz; er will nichts per­so­na­li­sie­ren, son­dern die gesam­ten Umstände des Todes deut­lich machen. Und bestä­tigt mir, man sollte man­ches ver­wi­ckelte Detail des Tat­ge­sche­hens auf sich beru­hen lassen.

In der Rück­schau sehe ich dies als fra­gen­der Rezen­sent inzwi­schen auch so.

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1966 errich­tete Gedenk­ta­fel in Put­bus, heute noch zu sehen.

Und als ich M. Baade in einem unse­rer Gesprä­che die Frage stelle: »…ob diese Auf­klä­rung, diese Abrech­nung mit einer Lügen­pro­pa­ganda, die­ses ehr­li­che Geden­ken an den jun­gen Men­schen, Päd­ago­gen hilft, das alles zu ver­ar­bei­ten?« ant­wor­tet er: »Ein dop­pel­tes Ja!« Und: Das Ent­schei­dende bleibt, an den Men­schen Egon Schultz zu erinnern.

Mein Fazit:

Für den Autor Michael Baade steht nach mei­nem Ein­druck im Vordergrund:

  • Die Ver­ar­bei­tung des Todes sei­nes bes­ten Freundes
  • Die Wahr­heit über die Vor­gänge die­ses Todes zu publizieren
  • Die Ver­ant­wor­tung des MfS zu zeigen
  • Eine Pro­pa­gan­da­lüge der DDR aufzudecken
  • Das Andenken sei­nes Freun­des zu bewahren

Wäh­rend ich all das unter­schrei­ben kann, sehe ich – neben manch »west­spe­zi­fi­scher« Erin­ne­rung – auch diese Aspekte: – Aus­gangs­punkt des Todes v. Egon Schultz war ein kri­mi­nel­les Fluchtunternehmen

  • Dies geschah mit Wis­sen und Bil­li­gung der West-Ber­li­ner Behörden.
  • Das Feuer wurde durch den West-Ber­li­ner Chris­tian Zobel – ohne zwin­gen­den Anlass – eröff­net; woge­gen der beglei­tende R. Fur­rer (der spä­tere Astro­naut) nichts unternahm.

Gerade der letzte Punkt gerät in die­sem Buch m.E. zu Unrecht außer­halb des Fokus und in offi­zi­el­len Ehrun­gen heute völ­lig in den Hintergrund.

Und mir fällt nach den Gesprä­chen mit dem Autor auf, dass er nicht die auf­ge­heizte Situa­tion in West-Ber­lin in den sech­zi­ger Jah­ren kannte, ich habe sie erlebt und sie war mit prä­gend für mich und meine Poli­ti­sie­rung. Ich kannte diese Stim­mung, die Atmo­sphäre, gera­dezu Pro­grom­stim­mung z.B. in Kund­ge­bun­gen vor dem Schö­ne­ber­ger Rat­haus. Das Fei­ern von Flucht­hel­fern und Aktio­nen auch aus dem kri­mi­nel­len Milieu, gegen die ver­hasste »Zone« schien alles erlaubt. So auch die Unter­stüt­zung des Flucht­un­ter­neh­mens durch West-Ber­li­ner Poli­zis­ten, vgl. 2. Auf­lage, S. 193f. Oder auch die Mit­glied­schaft des schie­ßen­den Flucht­hel­fers Zobel in der schla­gen­den Ver­bin­dung Corps Mar­chia (oft rechts bis rechts­extrem), was dem Buch­au­tor ent­gan­gen ist, ihm als (ehe­ma­li­gen) DDR-Bür­ger auch nicht viel bedeu­ten konnte. Mir als enga­gier­tem 68er im beson­de­ren Bio­top West­ber­lin aller­dings umso mehr.

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Ost­see-Zei­tung, 22.3.2001 | Autor M. Baade im obe­ren Bild am Grab sei­nes Freundes

Und es war eben diese Stim­mung, in der es jah­re­lang zu jedem Anders­den­ken­den und jedem Demons­tran­ten hieß: »Geh` doch rüber« und die mit dazu führte, dass der Bild­zei­tungs­le­ser Bach­mann 1968 auf Rudi Dut­s­cke schoss und der West-Ber­li­ner Poli­zist Kur­ras Benno Ohn­sorge ermor­dete. Und C. Zobel dazu brachte, dass er unpro­vo­ziert, offen­bar ohne Hem­mun­gen, das Feuer eröff­nete und E. Schultz schwer verletzte.

So würde ich dem Schluss­ab­schnitt des Arti­kels von Britta Wauer (Regie beim Doku­men­tar­film »Hel­den­tod« auf Arte/ZDF über den Tod von Egon Schultz) in der SZ vom 8.8.2001 zustim­men: »Die Geschichte des Grenz­sol­da­ten Egon Schultz ist die Geschichte einer Pro­pa­gan­da­lüge. Es ist vor allem aber eine Tra­gö­die aus der Zeit des Kal­ten Krie­ges, in der Ber­lin die Naht­stelle zweier Welt­sys­teme war. Das Schick­sal von Egon Schultz hat eine Par­al­lele: den Tod des Grenz­sol­da­ten Rein­hold Huhn. Auch er starb an der Mauer an einem Tun­nel­ein­stieg Rich­tung West-Ber­lin. Es war im Som­mer 1962, zwei Jahre vor dem Tod von Egon Schultz. Der Flücht­ling, den Rein­hold Huhn ertappte, schoss ihn ein­fach nie­der. Im Wes­ten ange­kom­men, erzählte der, drü­ben hät­ten sich die Gren­zer gegen­sei­tig tot­ge­schos­sen. Eine Lüge, der man zu jener Zeit im Wes­ten gerne Glau­ben schenkte.«

Zum Schluss

Dies ist ein Buch, über das, was die deut­sche Grenze 1964 in Ber­lin bedeu­ten konnte, über Mauer, Flucht, Tod. Und wie dies in »offi­ziö­ser« Dar­stel­lung ver­fälscht wurde. Was deut­lich macht, dass man – damals wie heute – gut bera­ten ist, »offi­ziö­sen« Stel­len kei­nes­wegs unbe­se­hen Glau­ben zu schenken.

Ein Buch, das Geschichte leben­dig macht und sich dabei wie ein Krimi liest. Es ist auch ein sehr emo­tio­na­les Buch, dass die Unfass­bar­keit der Vor­gänge 1964, als wären sie heute, deut­lich macht! Ein außer­ge­wöhn­li­ches »Geschichts­buch«, das über die Erin­ne­rung an einen jun­gen Men­schen, Freund, Leh­rer, Sol­da­ten und sei­nen Tod an der Mauer hin­aus viel Authen­tizät aus den sech­zi­ger Jah­ren Ber­lins bietet.

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Ein Orts­bild

Es ist auch eine äußerst leben­dige Geschichte, die ich – trotz man­cher Kri­tik – ins­be­son­dere den Nach­ge­bo­re­nen, denen die­ser Teil deut­scher Geschichte erspart geblie­ben ist, sehr ans Herz legen möchte.

S162-Schnitt-TunnelBeson­ders lesenswert


Nach­trag: Alle Abbil­dun­gen im Blog­bei­trag mit Geneh­mi­gung des Autors aus der Neu­auf­lage sei­nes Buchs.

Zu den bei­den Büchern Baa­des ist die­ser Arti­kel aus der Mär­ki­schen All­ge­mei­nen vom 16.5.2016 eine aktua­li­sierte Zusammenfassung:

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Baade-80
Im Februar 2024 ist der Ros­to­cker Schrift­stel­ler Michael Baade 80 Jahre alt gewor­den. Die Ost­see-Zei­tung gra­tu­liert mit die­sem Artikel.

Zum Autor gibt es einen Wiki­pe­dia-Ein­trag, der in ers­ter Linie eine Biblio­gra­fie bringt.

ES-Teil-1
Ein Update des Blog­bei­trags 60 Jahre nach dem Tod des Grenz­sol­da­ten Egon Schultz mit einem Arti­kel aus der Ost­see-Zei­tung vom 4. Okto­ber 2024.Wie schon im Blog­bei­trag bemerkt, klagt auch die Ost­see-Zei­tung über man­geln­des Geden­ken an Egon Schultz. Der Man­gel an Geden­ken begann aller­dings direkt nach dem Mau­er­fall, wie manch ande­res Elend auch.

2017 rezensiert, 2024 rezensiert