
Ellen Händler, Uta Mitsching-Viertel
» Unerhörte Ostfrauen, Lebensspuren in zwei Systemen
Autorinnen:;Ellen Händler | Uta Mitsching-Viertel |
Titel:;Unerhörte Ostfrauen | Lebensspuren in zwei Systemen |
Ausgabe:;ibidem-Verlag | Stuttgart 2019 |
Erstanden:;Pankebuch | Berlin Pankow |
»Unerhörte« Ostfrauen: ein Synonym für »außerordentlich«? Das kann man bestimmt sagen über die 37 Frauen, die 20 Jahre in der DDR berufstätig waren und nach der Wende 20 Jahre in der Bundesrepublik, interviewt von Ellen Händler und Uta Mitsching-Viertel. Vielleicht auch noch als zweites Synonym, dass diese Frauen nicht gehört wurden?
»Außerordentlich« bedeutet nicht, dass hier Frauen aus unterschiedlichen Berufszweigen vorgestellt werden, die immer leichtes Spiel im Leben hatten. Im Gegenteil, es werden Frauen porträtiert, die auf Brüche und ein erhebliches Auf und Ab in ihrem Leben zurückblicken. »Es sind starke und verletzliche Frauen, die mit ihren Partnern und Kindesvätern keineswegs nur positive Erfahrungen gemacht haben.« (S. 252). Die Frauen erzählen ihre Lebensgeschichte, sehr offen, humorvoll und auch emotional. Gemeinsam ist diesen ostdeutschen Frauen, dass alle betonen, dass sie ihre Arbeit gerne gemacht haben, sie dadurch finanziell unabhängig waren und eine hohe Wertschätzung erhielten. Das Familienleben wurde jedoch häufig von der sog. »zweiten Schicht« der Frauen geprägt. Ab 1990 haben viele ihren Arbeitsplatz verloren, an Umschulungen teilgenommen und sich weitergebildet. Häufig blieb aber der Erfolg aus. Und vielen gemeinsam ist die Aussage, dass ihre Abschlüsse im Westen nicht anerkannt wurden. Vor allem die Wissenschaftlerinnen der Humboldt Universität hatten darunter zu leiden, viele Stellen wurden gestrichen und die verbliebenen Stellen durch Wissenschaftler (!) aus der alten Bundesrepublik ersetzt. Anneliese (Jahrgang 1934) sagt im Interview: »Ich kenne keine Frau aus einer Führungspostion, die nach der Wende ihre Funktion in der Führung behielt.« (S. 87). Aber dennoch haben die interviewten Frauen die gemeinsame Auffassung, »dass sie in die Lebenswelt der Bundesrepublik viel eingebracht haben, dass sie gerade bei Gleichberechtigung und Vereinbarkeit von Beruf und Familie einen Erfahrungsvorsprung besitzen, den sie sich nicht nehmen lassen.« (S. 10). Daher war die Empörung groß über die Handlungsempfehlungen der Bundesregierung, dass die ostdeutschen Frauen ihre überzogene Erwerbsneigung reduzieren und erst mal lernen sollten, Mutter zu sein. Unglaublich!!!

Alle vorgestellten Frauen waren im Westen erfolgreich, das war jedoch vielen Frauen aus der DDR nach der Wende nicht gegeben.
Einige Lebensläufe möchte ich kurz vorstellen. Alle vorgestellten Frauen, egal welcher Bildungsgang, machen auf mich einen sehr selbstbewussten Eindruck. Ines (Jahrgang 1960, Ost: Schneiderin, Büglerin. West: Straßenbahnfahrerin, Frauenvertreterin bei der BVG, Abgeordnete der Linksfraktion im Abgeordnetenhaus) betont, dass sie sich in der DDR nie diskriminiert gefühlt habe, dass sie selbstbestimmt über ihr Leben entscheiden konnte. Voraussetzung dafür sei die Berufstätigkeit der Frau gewesen und gleicher Lohn für gleiche Arbeit! Dörthe (Jahrgang 1944, Ost: Verkäuferin, Buchhalterin, Finanzwirtin, Betriebswirtin. West: Sacharbeiterin) gibt den Leserinnen einen guten Rat mit auf den Weg. »Ich würde heute in jedem Fall allen Frauen empfehlen, arbeiten zu gehen. Das schafft Freiheit und Selbstbewusstsein.« (S. 24).

Das Arbeitsleben wird miteinander verglichen, wenn Marianne (Jahrgang 1948, Ost: Köchin, Küchenleiterin. West: Bankangestellte) sagt: »Das Arbeitsleben war zu DDR-Zeiten viel positiver. Wir haben uns untereinander geholfen, es war kollegial, einfach rundherum anders, obwohl wir körperlich schwerer arbeiten mussten als heute.« (S. 41). Ähnlich sieht das Edeltraut (Jahrgang 1953, Ost: Verkehrskauffrau. West: Angestellte im Callcenter). »Im Osten war es nicht so stressig wie heute, die Kollegen haben sich gut verstanden, auch mal Blödsinn zwischendurch gemacht. Hier im Westen, da hat man die Arbeit, aber keinen Zusammenhalt.« (S. 58). Karriere zu machen als Frau, scheint in der DDR einfacher gewesen zu sein. »Es war einfach möglich, aufgrund der sehr guten Kinderbetreuungsmöglichkeiten, aber auch weil ostdeutsche Führungskräfte in der Regel Verständnis für berufstätige Mütter mit Kleinkindern hatten.« (S. 117). So die Einschätzung von Ingrid (Jahrgang 1948. Ost: Großhandelskaufmann, Dr. der Wirtschaftswissenschaften. West: Unterabteilungsleiterin im Ministerium für Regionale und Kommunale Angelegenheiten). Einschränkungen bzgl. der Gleichberechtigung kommen von fast allen Frauen, wenn von der sog. »zweiten Schicht« gesprochen wird. »Gleichberechtigung ist schon was sehr Schönes und Wichtiges. Das ist aber schwierig und muss von den Frauen in der Familie oft selbst erkämpft werden. Gleichstellung im Beruf ist einfacher.« (S. 168). So die Einschätzung von Sieglinde (Jahrgang 1951, Ost: Betonarbeiterin mit Abitur, Sektorenleiterin Informations-, Dokumentationsstelle. West: Leiterin Druckerei). Frauen haben aber auch Gehässigkeiten und persönliche Verletzungen erfahren. So Ilse (Jahrgang 1940), die in der DDR Oberstufenlehrerin war und dann in der Bundesrepublik Lehrerin für Mathe und Physik an einem Gymnasium. Gott sei dank nicht politisch vorbelastete Fächer wie Geschichte oder Deutsch. Anhören musste sie sich von den neuen Kollegen und Kolleginnen dennoch: »Sie können sich ja drehen, wie Sie wollen. Wir haben nun einmal gesiegt, und wir sagen, wie es gemacht wird.« (S. 147).

Nun eine kurze Quintessenz von Renate (Jahrgang 1937, Ost: Pfarrerin, Ehe- und Familienberaterin. West: Ehe- und Familienberaterin): »Ich würde sagen, dass die Frauen in der DDR im Vergleich zu westdeutschen Frauen emanzipierter waren, in Bezug auf die Arbeit, die Selbstständigkeit und vielleicht auch die Unabhängigkeit vom Mann.« (S. 212). Und zum Schluss Wünsche von Christa (Jahrgang 1947, Ost: Chemiefacharbeiterin, Regisseurin, Drehbuchautorin. West: Regisseurin, Drehbuchautorin, Schriftstellerin): »Durch die DDR-Frauen sind in die Einheit kleine Pflänzchen zur Gleichberechtigung eingebracht worden Ich habe die Hoffnung, dass sich die neuen Generationen wieder für das interessieren, was wir aus der Zeit der DDR lernen können.« (S. 250).
Der Leser und die Leserin haben hier die Rolle des Lebensbetrachters und sind gezwungen, sich direkt und ausschließlich auf das zu konzentrieren, was die Befragten sagen. Da es Lebensprotokolle sind, sind sie auch ehrlich und wir können Erfahrungsbereiche erschließen, die außerhalb der Möglichkeit eigener Anschauung und persönlicher Erfahrungen liegen. Das macht die Sache so spannend! Mich haben diese Lebensprotokolle an Sarah Kirsch, »Die Pantherfrau « (1975) und Maxie Wander, »Guten Morgen, du Schöne« (1977) erinnert. Sarah Kirsch hat das Thema »Arbeit« in den Vordergrund gestellt, Maxie Wander eher das persönliche Erleben, Geschlechterbeziehung, Sexualität, Freundschaften und Eltern-Kind-Beziehung. Hier nachzulesen. Die vorliegende Veröffentlichung hat das Ziel »Lebensspuren in zwei Systemen« aufzuzeigen. Alle drei Veröffentlichungen aus unterschiedlichen Jahrzehnten ergänzen sich fantastisch, vor allem wenn ich aus dem Vorwort von Christa Wolf zu »Guten Morgen, du Schöne« zitiere: »Wie können wir Frauen »befreit« sein, solange nicht alle Menschen es sind?«
In diesem Sinne: unbedingt lesen!
Margret Hövermann-Mittelhaus
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