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alexijewitsch

Swet­lana Ale­xi­je­witsch
» Second­hand-Zeit

Autor:Swet­lana Ale­xi­je­witsch (Bje­lo­russ­land, 2013)
Titel:Second­hand-Zeit
Über­set­zung:Ganna-Maria Braun­gardt
Aus­gabe:Han­ser, Ber­lin, 2015
Erstan­den:Buch­hand­lung Volk, Recke

alexijewitsch

Kein ein­fa­ches aber ein wich­ti­ges Buch der weiß­rus­si­schen Litera­tur­nobelpreisträgerin, die drei Dinge transportiert:

  • Die unend­li­che Trauer vie­ler um den uner­setz­li­chen Ver­lust des sowje­ti­schen Lebens, das sind die ent­täusch­ten »Sowki«, was aus 70 Jah­ren geblie­ben ist: Der »homo sovieticus«.
  • Die min­des­tens so große Erleich­te­rung beson­ders von Opfern von NKWD und sta­lin­schem Ter­ror über die Befrei­ung von der Sowjet­macht, ihre Abrech­nung mit den ver­gan­ge­nen Verbrechen.
  • Die ein­drucks­vol­len Bil­der der Befind­lich­keit der Men­schen einer eins­ti­gen Welt­macht, die einem his­to­risch sel­ten rasan­ten Wan­del unter­wor­fen wur­den, was man hier ver­ste­hen lernt

Die Inter­view­ten des Buchs geben ihre erlebte Geschichte mit all ihren Unter­schieden – je nach eige­nem Stand­punkt – ein­drucks­voll wie­der: Vier Gene­ra­tio­nen (über­lebt): Sta­lin / Chrust­schow / Bre­sch­new / Gor­bat­schow – nur wo blieb dabei 1917/18?

Der Ale­xi­je­witsch gelingt es vor­treff­lich, Spu­ren einer Zivi­li­sa­tion fest­zu­hal­ten, ihr Buch ist dabei auch ein Reflex auf etwas, was vor­her nicht mög­lich war. Immer wie­der stößt man auf wirk­lich bemer­kens­werte Zitate aus ihren Gesprä­chen: »Das Bewusst­sein vom Unrecht des Gel­des ist in der rus­si­schen Seele unaus­rott­bar.« Oder: »Kei­ner von uns lebte in der UdSSR, jeder lebte in sei­nem Kreis« (was ex-DDR’lern bekannt vor­kom­men dürfte). Ebenso wich­tig: »Aber unser gan­zes Unglück ist doch, dass Hen­ker und Opfer bei uns die glei­chen Leute sind« – aus dem Volk sind, Nach­barn, Kollegen …

Die Schocks der Jel­zin Zeit, die Intel­li­genz ver­armte völ­lig, nur noch Geld zählte, Reichtums­protz statt Bil­dung, die Freundschaft(en) war(en) das erste Opfer. Teils unfass­ba­res Leben in die­ser Zeit, die Woh­nung von der Mafia geraubt, Leben im Heim, obdach­los – damals kein Grund für Sanktionen….

Gor­bat­schow? Das waren »Pere­stroika und Lebens­mit­tel­mar­ken!« Er galt als schwa­cher Prä­si­dent, Russ­land brau­che aber einen »Zaren«. – Sagt der eine: Wir leben heute ohne Ideen, kon­tert der andere »Die Sowjet­union (SU), ein gro­ßes Land- ohne Klo­pa­pier!« Und der eine wie­der: Wir haben eine Herr­schaft der Diebe bekom­men.« Und: Unser sowje­ti­sches Leben war der Ver­such einer alter­na­ti­ven Zivi­li­sa­tion; der andere: Die Par­tei war eine büro­kra­ti­sche Maschine, nach Sta­lins Tod haben die Leute ange­fan­gen zu lächeln. Dage­gen (heute): Gutes Fres­sen hat gesiegt und Mer­ce­des Benz – mehr braucht der Mensch nicht. Dann erschüt­ternde Berichte von Opfern und Ange­hö­ri­gen von Opfern von NKWD Ter­ror und Ver­fol­gung – bis zum Tod, der Mann, der unter der Fol­ter den Ver­stand ver­liert, von Ver­bann­ten, deren Kin­der im Heim auf­wuch­sen und den­noch »Sowoks« wur­den. Dage­gen wie­der das völ­lige Unver­ständ­nis gegen­über dem Umschwung zum abso­lu­ten Konsumismus.

Die abso­lute Bit­ter­keit von Kriegs­ve­te­ra­nen, die sehen, wie die Gau­ner ihr Erbe ver­pras­sen; denen die Autorin vor­hält, sie hät­ten für eine Uto­pie gelebt: »Der Kom­mu­nis­mus ist wie das Alko­hol­ver­bot: Eine gute Idee, aber sie funk­tio­niert nicht.«

Portrait Swetlana Alexijewitsch
Swet­lana Ale­xi­je­witsch – Bild: Br​.de

Mehr­fach stellt die Ale­xi­je­witsch jedoch fest, dass die Erfah­run­gen einer jun­gen Gene­ra­tion ein neues Bedürf­nis nach der Sowjet­union auf­kom­men las­sen, daher der Begriff 2nd-hand Zeit. – Man merkt, wie die unge­heu­ren Ver­än­de­run­gen viele Men­schen über­for­dern, »die­ses Land ist mir fremd«. Es gibt keine Werte mehr, außer dem Geld­sack, Inge­nieure, Leh­rer, Aka­demiker, alle wer­den zu Krä­mern, die Museen sind heute leer, die Kir­chen voll. Der 59-jäh­rige, Ex-Major ver­misst das Gefühl der SU, zu einem gro­ßen Land zu gehö­ren. Der Ver­lust der nati­onalen Iden­ti­tät, die Größe des Vater­lan­des, der Stolz dar­auf, das alles fehlt – aber dazu gibt es heute Putin! Umge­kehrt: Viele junge Leute wol­len von der Ver­gan­gen­heit nichts wis­sen und fra­gen schlicht: Warum seid Ihr 1993 nicht reich gewor­den? Die Toch­ter des Kom­mu­nisten, Wer­be­ma­na­ge­rin, begeis­tert für Kon­sum und rei­che Män­ner. Dage­gen die unend­li­che Trauer einer armen Rent­ne­rin um ihre Toch­ter, die der Armut wegen zur Miliz musste (in der sehr viele trau­ma­ti­sierte Sol­da­ten sind) und in Tsche­tsche­nien umkam.

Und so notiert der Rezen­sent an einer Stelle: Diese Samm­lung aus den tiefs­ten Kel­lern der Ver­brech­en der Sowjet­zeit, sub­jek­tiv gefärbt und weit­ge­hend unge­fil­tert, ist schwer zu ertragen.

Aber immer wie­der sind die Men­schen tief mit ihrer Lite­ra­tur ver­wo­ben, gibt es Zitate von Dos­to­jew­ski, Tschechow, Tolstoi.

Dann die Ver­wun­de­rung über die natio­na­len Kriege der SU-Nach­fol­ge­staa­ten: Bis ’88 leb­ten alle fried­lich zusam­men, Geor­gier, Rus­sen, Arme­nier, Aser­bei­dscha­ner. Das Lei­den der »Schwarz­­­füße« genann­ten Bewoh­ner der Kau­ka­sus- und asia­ti­schen Repu­bli­ken: Halb dort und halb in Russ­land. Die Tadschi­ken und Usbe­ken, die dor­ti­gen »Gast­ar­bei­ter, arbei­ten in Mos­kau, bauen die Woh­nun­gen der Rei­chen und leben sel­ber in Kellern.

Das Buch schafft durch die Wie­der­gabe sehr pri­va­ter Erin­ne­run­gen eine sel­ten dicht erlebte Geschichte der Men­schen der SU. Man lernt hier sehr viel über Russ­land, was in einer Zeit der extre­men »Anti-Putin-Hetze« äußerst hilf­reich ist. Und sei es das rus­si­schen Sprich­wort: »Der Tod ist eine Alte mit Sense«, das rus­si­sche Wort für Tod ist weiblich!

Die Autorin hat eine sel­tene Art ihre Gesprächs­part­ner zum Reden zu brin­gen und so ein­drucks­volle Geschichte aus pri­va­tem Blick­win­kel zu erzäh­len. Viel Span­nung ent­steht aus den häu­fig völ­lig kon­trä­ren Aus­sa­gen. Das hat aber seine Gren­zen, da es nir­gends in einen his­torischen Rah­men ein­ge­bet­tet ist, nir­gends Ana­lyse ver­sucht und die Aspekte der Aus­wahl der Inter­views erläu­tert wer­den, hier scheint ein gutes Stück Sub­jek­ti­vi­tät zu wal­ten. Die wirt­schaft­li­chen und poli­ti­schen Nutz­nie­ßer des Umbruchs blei­ben nahezu völ­lig aus­sen vor, letzt­lich ein ver­blüf­fend unpo­li­ti­sches Buch. Für Nicht-Sowjet­bür­ger wären drin­gend einige geschicht­li­che Rah­men­daten zum Ver­ständ­nis erfor­der­lich gewe­sen. Und für Nicht-His­to­ri­ker der Hin­weis, dass nur münd­li­che Zeug­nisse von Pri­vat­per­so­nen begrenzt als Quelle die­nen – eher als Stimmungsbilder.

Letz­te­res ist der Autorin groß­ar­tig, ja ein­zig­ar­tig gelun­gen mit einem Werk, das zwi­schen Sach-, Geschichts­buch und Novel­len­samm­lung changiert.

Sehr emp­feh­lens­wert

2017 rezensiert, Hanser, Historisch, KPdSU, Sowjetunion, Sozialismus, Swetlana Alexijewitsch