
Silke Kettelhake
» Renée Sintenis – Berlin, Boheme und Ringelnatz
Autor: | Silke Kettelhake (Deutschland, 2010) |
Titel: | Renée Sintenis - Berlin, Boheme und Ringelnatz |
Ausgabe: | Osburg Verlag, 8. Auflage, 2018 |
Erstanden: | Nicolaische Buchhandlung, Berlin-Friedenau |
Eine knapp 500 Seiten starke Biografie über die Berliner Bildhauerin Renée Sintenis. Kennen Sie nicht? Doch, kennen Sie, zumindestens die von ihr geschaffenen Berliner Bären, die an vielen Stadtzugängen stehen. So an der Autobahn zwischen Dreilinden und dem Zehlendorfer Kleeblatt. Und: Als Preise bei den Berliner Filmfestspielen (Berlinale), Goldene, silberne und bronzene Bären wurden von der Sintenis geschaffen. So gilt sie im englischen Sprachraum auch als »Woman behind the bear«.
Das Buch kommt aus der Grabbelkiste der Berlin-Friedenauer Nicolaischen Buchhandlung in der dortigen Rheinstrße. Und keine fünf Minuten entfernt, mitten im schönsten Friedenauer Kiez liegt der Renée-Sintenis Platz, geschmückt mit dem »Grasenden Fohlen« der Künstlerin. Die mitunter konservativen Friedenauer waren seinerzeit dabei gar nicht glücklich, als ihr »Wilmersdorfer Platz« umbenannt wurde, und »denne nach so einer Künstlerschen, mit so komische Zossen!«
Dieser eigenwillige, androgyn wirkende, 1,79 m (!) große Hugenottenabkömmling ist wahrlich eine Biografie wert. Silke Kettelhakes Werk hat aber den großen Fehler, dass die Autorin zu viel versucht zwischen die Buchdeckel zu pressen: Die Schicksale vieler befreundeter Künstler, ihres Mannes, des Typographen und Buchgestalter Rudolph Weiss und ganz besonders des von ihr so häufig gesponsorten unvergessenen Joachim Ringelnatz; nicht zu vergessen, dessen Frau mit dem wunderschönen Kosenamen »Muschelkalk«. Deren Schicksal alleine ist gut für ein Buch und leider konnte die Autorin sich vielfach nicht entscheiden, wessen Biografie sie jetzt eigentlich schreibt. Und überflutet den Leser mit einer Welle an Details, in dem häufig eine erzählende Linie untergeht. Auch der nicht eben spannende Schreibstil macht die Lektüre nicht leichter, wiewohl es sie zweifelsohne verdient hat. Und dass viele Sujets nur angerissen, aber nicht ausgeführt werden, ein Schreibstil, als wenn »Klicks« generiert werden sollen.
Die Sintenis war in jeder Hinsicht (1,79 m groß, androgyne Wirkung, Männerkleidung) das mehrfache Aushängeschild der Galerie Flechtheim, deren von den Nazis betriebenen Untergang hier ebfs. ausführlich gewürdigt wird. Die Sintenis, 1988 geboren, zunächst in Neu-Ruppin aufgewachsen, wechselt nach 3 Jahren in Stuttgart nach Berlin, die brodelnde Metropole und ihr künstlerisches Umfeld, wird ihr Leben bis 1965 bestimmen. Dass sie die Kunsthochschule nie abgeschlossen hat, was soll’s?
Deutlich wird, dass die Künstlerin zu einer zeitgenössischen Bohème, zu einer Schickeria gehörte, ein gern gesehener Promi war. Sie wendet sich mit Tierplastiken (ihr Lebenswerk) und Frauengestalten, die offen lesbisch wirken, von herkömmlichen Stilrichtungen ab, und ist – auch mit Auftragsarbeiten – schon 1923 eine der bestverdienenden Künstlerinnen der Weltstadt.
Das erste Mal in meinem Leben habe ich nach diesem Buch verstanden, was meine Eltern mir erzählen wollten, wenn sie von der »inneren Emigration« während der NS-Zeit sprachen. Die Sintenis hat sie gelebt, wie auch ihr Mann, wiewohl sie – mit jüdischen Vorfahren – eng am Abgrund lebte. Andere, wie Gottfried Benn, glänzten dagegen mit Ergebenheitsadressen an die Nazis …
Die Einsichten in das Kunst- und Künstlerleben im 1000-jährigen Reich – sehr gut. Das Buch ist aber – leider – kein Kunstbuch, nur wenige und zu kleine Abbildungen schmücken, eine Darstellung der Entwicklung der Kunst der Sintenis sucht man vergegbens. Dargestellt werden ihre Lebensstationen von den Roaring Twenties, dem Existenzkampf mit der braunen Terrorherrschaft, der Einsamkeit der Nicht-Kommunikation, was noch an Kunst im »Braunau-Land« geht, dem Ausgeliefertsein im Bombenkrieg, dem mehrfach zerstörten Atelier und dem mühsamen Nachkriegsleben in einer kleinen Schöneberger schwer bombengeschädigten Wohnung.
Eindrucksvoll, was damals (1943) Leben in Berlin hieß, kein Licht, kein Wasser, keine Kanalisation, 450.000 Obdachlose die Bevölkerung schrumpft von 1939-46 um mehr als eine Million. Kein Wunder, dass die Autorin 1945 konstatiert: Aus der attraktiven Künstlerin ist eine alte Frau geworden.
Wie sie nun im zerstörten Berlin – wie viele andere Künstler – sich auf die Suche nach den eigenen Werken machen muss, ist eines der historischen Glanzlichter des Buchs.
Ebenso wie der Fakt (S. 402): »… das Gerüst ihrer Beziehungen ist längst zusammengebrochen.«
Erste Ausstellungen, Preis der Stadtverordneten, 7 Jahre Bildhauerin-Unterricht an der HdK, Modellieren auf dem Fensterbrett in der Innsbrucker-Straßen-Wohnung, kein Atelier, beschwert sich über Nazis und Antisemiten und erhält 1952 den Orden pour le Mérite, 53 das Bundesverdienstkreuz und hier endet die Erzählung eigentlich. Ihre Erbin, mit der sie zusammengelebt hat, beziffert den Wert auf 200.000 DM und vermacht alles der Nationalgalerie.
Fazit: Allzu viele Details ohne wirklichen farbigen Faden zu einer bemerkenswerten Künstlerin.
Lohnenswert, aber nicht leicht zu goutieren.
2019 rezensiert, androgyn, Berlin, Bildhauerin, Innere Emigration, Ringelnatz, Silke Kesselhake