
Hans Jaeger
» Bibel der Anarchie
Autor: | Hans Jaeger (Norwegen, 1906) |
Titel: | Bibel der Anarchie |
Ausgabe: | Merlin, 1997 |
Erstanden: | Antiquarisch erworben |
Nach Hans Jaegers »Christiania Bohème« (1885) habe ich lange gesucht und erst später gefunden; es ist das Buch der kulturellen Befreiung der Skandinavier zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Es war Jaeger, der einer künstlerischen Elite, die Stimme gab, sich von der Sittenstrenge und Moralenge des viktorianischen Zeitalters zu befreien. Es war Jaeger, der das in Worte brachte, was die Skagengruppe norwegischer und dänischer Künstler in Gedanken und Bildern bewegte. Eine Bohème, zu der die Muse Dagny Juel (vgl. »Gelesen im April 2019«) ebenso gehörte wie Maler Christian Krohg, und (im weiteren Sinne) der große Edvard Munch. Jaeger musste teuer bezahlen für seine Worte, das Buch, nur unter einem Tarnnamen erschienen, wurde sofort verboten, Jaeger landete für 160 Tage im Zuchthaus. Nicht das erste und nicht das letzte Mal, mit störrischen Geistern gingen die damaligen Monarchien ruppig um.
Da die »Bohème« seinerzeit trotz aller Bemühungen in deutscher Sprache unauffindbar blieb, gönnte ich mir nun als Ersatz seine Bibel der Anarchie, es ist übrigens die deutsche Erstveröffentlichung. Doch oh je, Jaeger glänzt zwar mit unkonventionellen Ideen, denkt Wirtschaft und Eigentum »quer«, ruft zur Befreiung der Arbeiter vom Joch des Kapitals auf. »Das Eigentumsrecht und das Geld lässt die Menschheit seit vielen Jahrtausenden auf der Stelle treten«. Oder, besonders hübsch: »Das Wohl der Arbeiter ist das Werk des Kapitals singt Gott Mammon«. Ebenfalls ansprechend seine Gleichnisse und Anspielungen aus der maritimen Welt, der Autor ist lange zur See gefahren. Seine historischen »Analysen« beschreiben manches richtig, lassen in den Schlussfolgerungen aber grundlegende Kenntnisse insbes. von Marx/Engels schmerzlich vermissen. Der Charme des Buchs besteht darin, Wirtschaft und Produktion einmal völlig anders zu denken, das ist immer wieder erfrischend. Durch seine eigenen Wissensmängel kreiert er einen völlig überflüssigen »Mythos Mammon« und die »Geldpeitschen« – schlag nach bei Marx, sagt man dazu nur. Das gilt auch für seine (mangelhafte) Begrifflichkeit wie der Unterscheidung in »Grundbedarfs- und Luxusproduktion. Dagen stehen spannende Ansätze wie ab S. 333: Was wäre, wenn alle Besitzer von Produktionsmitteln enteignet und die gesamte Produktion im Interesse aller genossenschaftlich organisiert wäre?
Ob diese Produktion wirklich alle Konsumwünsche der Massen befriedigen würde? Aber klar und einleuchtend, warum seinerzeit die Sklaverei abgeschafft wurde. Und, was er wirklich kann (S. 386f): Sprachlich schöne Darlegungen über die Liebe, die körperliche Liebe – und mehr als das. Und er kommt – ganz am Ende – zu einigen wirklich schönen Utopien. Insgesamt aber ist diese »Bibel« aufgrund des Autors mangelhaften Verständnisses von Wirtschaft + Politik sehr schwer genießbar, der Autor verrennt sich penetrant in völlig verkehrte Denk- und Rechenmodelle. Gelegentlich blitzen spannende Utopien auf, die jedoch leicht im ökonomischen Unsinn Jagers untergehen. Ein gutes Nachwort von Henning Boetius (Germanist & Autor) versöhnt mit dem harten Werk der Lektüre.
Es fällt schwer, die vorhandenen Perlen im Buch zu finden
2019 rezensiert, Anarchie, Hans Jaeger, Norwegen, Politik, Verlag Merlin, Wirtschaft