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Morten-Haahr-Far-og-son

Mor­ten Haahr
» Far og søn

Autor:Mor­ten Haahr (Däne­mark, 2023)
Titel:Far og søn
Aus­gabe:For­la­get Ege­ris, 2023, däni­sche Originalfassung
Erstan­den:Oli­va­rius, Bog­han­del, Sva­n­eke, Bornholm

Morten-Haahr-Far-og-son

Vater und Sohn, »Erin­ne­rungs­schim­mer«, lau­tet der Titel des Buchs des Born­hol­mer Mor­ten Haahr. Es ist ein Rück­blick auf das Leben des über Sieb­zig­jäh­ri­gen, der von der klei­nen Dänen­in­sel vor der schwe­di­schen Küste in die große, inter­na­tio­nale Welt ging. Und in Lon­don in einer Zweit­welt lebte, für ihn not­wen­dig, denn er war »bøsse«, also schwul. Wie soll man das auf einer Insel mit weni­ger als 40.000 Bewoh­nern leben, einem gro­ßen Dorf, weitab vom Rest Dänemark?

In den inners­ten eth­ni­schen Kreis, der erlauch­ten gebo­re­nen Born­hol­mer mit meter­lan­ger Ahnen­reihe kam er nie. Nicht wegen sei­ner­Se­xua­li­tät, son­dern wegen der Eltern, die aus West-Jüt­land bzw. Fünen stamm­ten. Also wurde er bestän­dig klas­sí­fi­ziert »som før­der, ikke føder«, also als Zuge­reis­ter, nicht als Ein­hei­mi­scher. So wie es mir 24 Jahre im Osna­brü­cker Land ging. Und den­noch fühlt er sich bis heute als Born­hol­mer, eines der dor­ti­gen Som­mer­häu­ser blieb dem Fami­li­en­kreis erhal­ten. Dort schrieb er seine »erin­drings­glimt« nie­der, formte sie zu sei­nem Buch.

Das Auf­wach­sen sehr länd­lich, die Meie­rei im 800 See­len­dorf Kle­mens­ker, zur Tanz­part­ne­rin ging es 2 km außer­halb auf einen Bauernhof.

Kampf mit dem Vater – Kampf um sich selbst

Wie soll man das »Anders­sein« mit einem Erz­pa­tri­arch von Vater leben? Einem Lei­ter von Born­holms Andels­me­jeri, der die erfolg­rei­che Marke »Krølle Bølle Is« schuf, die inter­na­tio­nal bekannt wurde? Dem Leben, das nach sehr strik­ten Regeln erfolgte, z.B. das gemein­same Weih­nachts­fei­ern und Fest­essen mit allen Meie­rei­mit­ar­bei­tern. Für einen Vater, für den die Meie­rei eigent­lich zu klein war, die er im Streit ver­ließ, sich neue Exis­ten­zen in Flens­burg (Käse­pro­duk­tion) bzw. Lol­land (Hotel, das die Mut­ter führte) sicherte.

Sich vom Vater zu lösen, half ein von ihm gespons­or­tes Jahr in den USA, die ihm irgend­wann wegen ihrer ober­fäch­li­chen Schein­freund­lich­keit nur noch auf den Geist gin­gen. Das ame­ri­ka­ni­sche Jahr war des Vaters Idee, aber der wusste nicht, dass man 1968 aus den USA auch Flower­power, Hip­pie­geist und Kampf mit der Obrig­keit mit­brin­gen konnte. Es folgte ein Jahr Streit mit dem Patri­ar­chen nach Mor­tens Rück­kehr. Das alles in Frage stel­len, was dem wich­tig war. Dabei hatte der so viel Posi­ti­ves: Hilfs­be­reit zu sein, ver­ständ­nis­voll, erfolgreich.

 

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Mor­ten Haahr | Foto: Pri­vat | Quelle

Sich lösen, hieß mit 20 in die Metro­pole Kopen­ha­gen zum Stu­dium von Eng­lisch und Dänisch zu gehen, der erste Aka­de­mi­ker in der Fami­lie. Wegen hoher Leh­rer­ar­beits­lo­sig­keit kam eine jour­na­lis­ti­sche Aus­bil­dung hinzu. Schon mit dem USA Jahr began­nen Strei­te­reien mit dem Vater, wur­den mit Aus­bil­dung und Beruf des Sohns nicht bes­ser, auch nicht in wie­der­keh­ren­den Rück­zü­gen nach Bornholm.

Auf dem Weg zu sich selbst

Die Arbeit führt ihn nach Lon­don, ein neues Uni­ver­sum tat sich für Mor­ten auf. Ein Uni­ver­sum, in dem er sein Anders­sein immer bes­ser ver­stand, sich in Män­ner- bzw. Schwu­len­grup­pen enga­gierte. Der erste Sex mit einem Mann (einem alten Bekann­ten), der Schwur nie wie­der zu ver­su­chen, mit einer Frau zu schla­fen, die Unter­stüt­zung vom eben­falls schwu­len gro­ßen Bru­der führte ihn end­lich zum Selbst­be­wusst­sein: So bin ich, so lebe ich. Einer 100%igen Ver­än­de­rung sei­nes Gefühls­le­bens, nie mehr etwas unter­drü­cken. Was auch dazu führte, dass er sich rein phy­sisch so gut fühlte wie noch nie.

Es sind unglaub­lich intime, bewe­gende Zeug­nisse, wenn er den Brief an seine Eltern über sein Coming out publi­ziert, ihnen end­lich offen als er selbst gegen­über­ste­hen will. Dia­me­tral ver­schie­den die Ant­wort der Eltern. Dem Vater zer­bricht alles, was zu sei­ner Welt gehört, Grund­werte, Moral, Ziele, Hoff­nun­gen auf den Sohn, die Zukunft. Was wird als nächs­tes kom­men? »Nu har vi jo ikke mere at arbeijde og kæmpe for. Vores vær­den lig­ger i grus«; S.94. Seine ganze Welt liegt am Boden, in Scher­ben. Mor­ten soll nicht nach Born­holm zum Tref­fen, zur Aus­spra­che kom­men. Die Mut­ter bringt ihm lie­bes­vol­les Ver­ständ­nis ent­ge­gen, sie bleibt ihm nahe, der Vater nicht, nie mehr.

BornholmEin zusätz­li­ches Schrei­ben des Vaters bleibt lange im ver­schlos­se­nen Umschlag. Auch heute, 46 Jahre spä­ter, bricht er in Trä­nen aus, wenn er die­ses, des Vaters Schrei­ben liest. Dabei ist es ein wich­ti­ger Bau­stein in dem Puz­zle sei­ner selbst.

Erst einige Jahre spä­ter, an einem Som­mer­tag in Sømar­ken, fin­det ein Zusam­men­tref­fen von Mor­tens Freun­den mit sei­nem Vater und des­sen bes­ten Born­hol­mer Freun­den statt. Man sitzt zusam­men, obwohl sie wuss­ten, dass da eine ganze »Herde« an Homos im Haus war…Selbst über AIDS und HIV konnte man spre­chen. Mor­ten fühlte sich das erste Mal so akzep­tiert, wie er war und »…der er noget om det, når man siger at tiden læger alle sår«. Doch, es ist etwas daran, wenn man sagt, dass die Zeit alle Wun­den heilt.

Leben in zwei Welten

Mor­ten Haahr ver­steht es, die Eck­pfei­ler von Lebens­er­in­ne­run­gen zu beleuch­ten: Die Woh­nun­gen, die Möbel, die Tele­fone mit­samt gewal­ti­ger Kul­tur­ver­än­de­run­gen. Er ist auch einer die­ser heu­ti­gen Noma­den, USA, China, Lon­don, Argen­ti­nien, Nepal, Mexiko. An die Aus­wir­kun­gen auf die Umwelt denkt er keine Sekunde, wel­chen Wert solch Ober­flä­chen­tou­ris­mus hat, lei­der auch nicht.

So sind es viel­leicht 3 oder vier rote Fäden, die sein Erin­ne­rungs­buch aus­zeich­nen, die Born­hol­mer Wur­zeln, das Erbe und die Aus­ein­an­der­set­zung mit dem Vater, sein lan­ger Weg, seine Sexua­li­tät bewusst zu leben, seine Arbeit ua. für Amnesty Inter­na­tio­nal, das Kom­mit­tee zur Unter­stüt­zung von Sal­man Rush­die. Zu schwe­ren Auf­ga­ben als Regie­rungs­be­ra­ter und Con­sul­ter für Ene­gie­be­triebe. Neue, harte Jobs, die er erst mit 50 (!) annimmt. Das Leben, das er sich Jahr­zehnte lang ein­rich­tet, mit einer WG mit einer Freun­din und ihrem Sohn in Fredriksberg/Kopenhagen. Und immer wie­der Auf­ent­halte in Lon­don, das Leben in der Metro­pole mit so vie­len Men­schen, die sind wie er. Ein Leben als Kul­tur-Kor­re­spon­dent für eine wich­tige däni­sche Tages­zei­tung. Was aber Gren­zen hat, denn ein Arti­kel von ihm über Kin­der­ar­beit erscheint nicht, Ende der Korrespondentenzeit.

Store-slem
Das Feri­en­haus »Store Slem« im Kie­fern­wald von Sømar­ken, gebaut von Mor­ten Haahrs Vater in den Fünf­zi­gern. Spä­ter kauf­ten es Men­schen mit »mehr Geld als Geschmack«, ris­sen Store Slem ab und ersetz­ten es durch ein gesichts­lo­ses Etwas aus dem Bau­markt­ka­ta­log. Foto: Privat

Zum »Coming out« ver­hal­fen ihm auch stark die Bücher des däni­schen Autors Chris­tian Kamp­mann, einem ver­hei­ra­te­ten Bise­xu­el­len, der 1988 von sei­nem Mit­be­woh­ner und Lieb­ha­ber auf der Insel Læsø ermor­det wurde. 1978 grün­det Mor­ten seine eigene »bøsse« (Schwulen-)gruppe, via Kon­takt­an­zeige. Er schil­dert sein Leben im »Rosa Win­kel«, einem schwu­len Kol­lek­tiv, die sich iro­nisch nach dem Kenn­zei­chen für Schwule in Nazi-KZs benann­ten. Er erzählt über einige sei­ner Lie­bes­ver­hält­nisse, die eigent­lich nicht so viel anders als bei Hete­ros ver­lau­fen. Sieht man vom gesell­schaft­li­chen Druck auf bøsse und ihre com­mu­ni­ties ab…

Aber auch ein Leben in das HIV und AIDS ein­bre­chen, in das der Tod in aller Härte kracht. Wo Mor­ten sei­nen ers­ten Toten bewusst sieht, sich von Freun­den ver­ab­schie­den muss, sich ent­schei­det, einen Men­schen bis zum Tode zu pflegen.

Er weiß, dass er Glück hatte, in einer Zeit zu leben, in der er keine hier­ar­chi­sche, auto­ri­täts­ba­sie­rende Lei­tungs­po­si­tion aus­üben musste und im Job immer sein eige­ner Chef war. »Ald­rig i livet, om jeg skulle gøre kar­riere på den klas­siske måde, og ende i en leder­stil­ling med magt og stor pres­tige«. [Nie im Leben hätte ich eine Kar­riere in klas­si­scher Weise machen kön­nen, die in einem Leder­ses­sel mit Macht und Pres­tige aus­ge­stat­tet, geen­det hätte.]

Dann kommt die Sehn­sucht nach einem (eige­nen) Kind, er spielt den Onkel für Git­tes Sohn Jakob. Gitte, die noch in Grön­land lebt, der Vater hat kein Inter­esse an sei­nem Sohn. Das Glück einer »hoch­herr­schaft­li­chen« gemein­sa­men Woh­nung mit Gitte und Sohn, in Fre­de­riks­berg, mit­ten in der Haupt­stadt Kopen­ha­gen. Aber trotz 30 Jah­ren die­ser Wohn­ge­mein­schaft bleibt Mor­ten immer hin- und her­ge­ris­sen zwi­schen die­sem Fami­li­en­le­ben und der auf­re­gen­den Szene Lon­dons. Jakob, längst erwach­sen, mit eige­nen Kin­dern, so wird Mor­ten auch Großvater.

Mor­ten spricht über auf­re­gende Syl­ves­ter­abende, deren hohe Erwar­tun­gen heute so nicht mehr exis­tie­ren, ver­schweigt seine Par­kin­son Dia­gnose nicht, die sein Ver­hält­nis zum Alko­hol kom­plett veränderté,

Den­noch: »Sømar­ken er mit cen­trum. Det er her, jegt hen­ter energi og fin­der ro, og sodan har det været altid. [Sømar­ken ist mein Zen­trum, hier hole ich mir Ener­gie und finde Ruhe. So ist es immer gewe­sen.] Ein unver­zicht­ba­res (Doppel-)leben, bis er sich aus Alters­grün­den für eines in DK ent­schei­den muss. Dabei gehö­ren die Born­hol­mer Wur­zeln, gehört Sømar­ken immer dazu. Und eine Hom­mage an das Meer, die Dünen, den Strand, Baden im Meer. Ein wich­ti­ger Teil Sømar­kens, wo Som­mer­häu­ser oft nur wenige Minu­ten vom Meer ent­fernt stehen.

Über­ra­schen­des

Strand
5 Minu­ten zu Fuß von Store Slem ent­fernt, ein Strand von Sømar­ken. Foto: Privat

Eine Ode von Mor­ten an sein Smart­phone, sein Ein- und Alles, den Kommuni­kationsmittelpunkt sei­nes Lebens über­rascht in sei­ner Ein­sei­tig­keit. Die enor­men Schat­ten­sei­ten der Smrt­phones wer­den zu wenig beleuch­tet. Ande­rer­seits – es ist sein Leben, ein ande­res als meins. Und er ver­weist mit vol­lem Recht dar­auf, wie lange das Tele­fon das meist­ge­nutzte Kom­mu­ni­ka­ti­ons­mit­tel zwi­schen Eltern und Kin­dern (in den Sieb­zi­gern) war – völ­lig egal ob »smart« oder nicht.

Mor­ten Haahr lebte ein Leben mit dem ich so viele Berüh­rungs­punkte habe, dass es schon weh­mü­tig macht. Er nennt sich »einen Men­schen für drau­ßen« – exakt so fühle ich. Geschrie­ben hat er seine Erin­ne­rungs­schim­mer in Sømar­ken, jener groß­zü­gi­gen, träu­men­den Heide im Süden der Sol­skinsø, wo er auf­ge­wach­sen ist und so viel gelebt hat. Und wo sein umtrie­bi­ger Vater, ein Som­mer­haus hatte, das wir zwei­mal mie­ten durf­ten. Und des­sen Name »Store slem« selbst mein däni­scher Freund Jan nicht erklä­ren konnte. Das im Kie­fern­wald, in Mee­res­rau­schen-Nähe gele­gen auch uns natur­in­ten­sive Momente bot, das dem Ver­fas­ser Leben- und Erin­ne­rungs­wur­zeln gab, für ein gan­zes Leben. Zwar nicht im spä­ter ver­kauf­ten und abge­ris­se­nen »Store Slem« son­dern im nicht weit ent­fernte »Søfryd«, das bis heute in der Fami­lie ver­blieb. Die mit und durch die­ses Som­mer­haus ent­stand. »At slappe af« – sich ent­span­nen, so kann man den Sinn eines däni­schen Som­mer­hau­ses beschreiben.

Lesens­wer­ter Lebens­rück­blick eines Born­hol­mer Menschen


Nach­trag: Ein sehr ein­fühl­sa­mes Inter­view mit dem Buch­au­tor fin­det man auf der Seite der (ein­zi­gen) Born­hol­mer Tages­zei­tung, der Born­holms Tidende:

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