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Whale-fall

Eliza­beth O’Connor
» Whale Fall

Autor:Eliza­beth O’Connor (Groß­bri­tan­nien, 2024)
Titel:Whale Fall
Aus­gabe:Pica­dor, 2024, eng­li­sche Originalfassung
Erstan­den:Ein Weih­nachts­ge­schenk von mei­ner Tochter

Whale-fall

Wali­sisch

Eine ein­same Insel in GB, eine junge Insu­la­ne­rin und eng­li­scher Besuch, das ganze ein­ge­bun­den in die hoff­nungs­lose Kolo­nial-Atti­tude der Eng­län­der, so könnte die the­ma­ti­sche Ein­ord­nung zu die­sem Buch lau­ten. So war es auch in »The colony« von Audrey Magee, hier vor gut einem Jahr rezen­siert und Ende Januar 2025 von Nicole Sei­fert über­setzt als »Die Kolo­nie« end­lich erschienen.

Spielt »The colony« vor der nord­iri­schen Küste, so ist hier der Schau­platz eine Insel vor Wales. Die Autorin weist in ihrem Nach­wort dar­auf­hin, dass ihr wali­si­scher Insel­schau­platz stell­ver­tre­tend für eine Gruppe Inseln um Groß­bri­tan­nien herum steht. Egal ob die Bard­ney Islands (Wales), St. Kilda in den Hebri­den, die Blas­ket Islands im County Kerry oder die Aran Islands in der Bucht von Gal­way. Die wur­den in den drei­ßi­gern Schau­platz eines ver­hee­rend fal­schen Films – ein Fakt, der auch zu einem wesent­li­chen Ele­ment die­ses Buchs wird.

Die Inseln haben (fast) alle eines gemein­sam: eine schrump­fende Bevöl­ke­rung, in zuneh­men­dem Maße schwie­rige Wet­ter­ver­hält­nisse, der Ver­kauf von Län­de­reien an Wohl­ha­bende und dem Exodus jun­ger Leute aufs »Fest­land«.

Der Plot

Eine Insel vor Wales, 3 Mei­len lang, 1 Meile breit, 12 Fami­lien und ein pol­ni­scher Leucht­turm­wär­ter leben dort. Genauer erklärt der Pries­ter: 15 Män­ner, 20 Frauen und 12 Kin­der, leben vom (Hum­mer) fischen, Muscheln ern­ten, ab Sep­tem­ber geht’s zum Hum­mer fischen, mit kirch­li­chem Segen. Aber »in a win­ter storm nobody could leave the island«. Und: »You could hear our neigh­bors goats through a crack in the pane.« Und: »Trees were scarce on the island, because of the winds.« Das ist die Umge­bung der 18-jäh­ri­gen Manod, die mit ihrem Vater Tad und ihrer jün­ge­ren Schwes­ter Lli­nos und dem Hund Elis dort lebt. Mit Lli­nos teilt sie sich das Bett. Es ist 1938, sie soll ans Hei­ra­ten den­ken, sie spricht her­vor­ra­gend Eng­lisch und über­setzt daher häu­fi­ger ins und aus dem wali­si­schen Gälisch. Sie liest viel,bekomt Bücher von der »head mistress«, ihre Mut­ter ist lange tot, sie, vom Fest­land, kam mit dem Insel­le­ben nicht zurecht: »I could’nt read that land, like my brot­heers did. There’s no job for a woman to get, except wife.«

Als eines Tages ein Wal auf der Insel stran­det, wird das zum gro­ßen Ereig­nis auf der Insel, wo es Zei­tun­gen nur alle 2-3 Wochen gibt, wo man deut­lich hin­ter der Zeit lebt, in der es immer mehr nach Krieg riecht. Ihre kleine Schwes­ter ist ein merk­wür­di­ges Kind, das kein Eng­lisch ler­nen will. Und die Insel völ­lig anders sieht, als einen mär­chen­haf­ten Ort, bewohnt von Sagen­we­sen. Manod tur­telt halb­her­zig mit dem gleich­alt­ri­gen Lew herum, der aber bald die Insel ver­läßt, er sucht Arbeit und Geld. Für Manod bedeu­tet das: »And so the day hap­pened, me wai­ting for some­thing to break«. »There were more empty hou­ses than inha­bi­ted ones, left behind by fami­lies gone to the main­land.« Wind und Meer reich­ten bis an ihr Haus heran um es mit Gischt zu über­sprü­hen und die Farbe vom Haus abzu­wa­schen. Am Strand wer­den immer noch »rem­nants from the great war« ange­trie­ben, das meint den ers­ten Welt­krieg. Diese Umwelt und das Leben darin bekomm­nen die Leser wie bei­läu­fig in knap­pen, aber ein­präg­sa­men Sät­zen, par­al­lel zur Hand­lung, von der Autorin erzählt.

Die Eng­län­der

Elizabeth-OConnor
Dr. Eliza­beth O’Connor | Foto: ©0Ilona Denton

Ein Paar, Edward und Joan, Anthro­po­lo­gen aus Oxford, lan­det auf der Insel, see­krank, der Mann, Edward, rei­hert vor Manod erst­mal auf den Strand. Sie möch­ten die Men­schen, ihre Spra­che, ihr Leben erfor­schen, beneh­men sich dabei lei­der wie bri­ti­sche Kolo­ni­al­her­ren in Afrika vor 100 Jah­ren. Das harte Leben auf der Insel fin­den sie »truly ama­zing«. Das Paar fragt nach einer Unter­kunft, dar­auf ant­wor­tet Man­ods Vater Tad knapp: »No hotels, but ple­nty of empty houses«

Auch mit der Post wird es spar­sam, auf die Frage von Joan, wann die Post geht, nun wohl nächs­ten Monat. Aber auf die Frage von Joan, ob Manod die Insel ver­las­sen möchte, sagt diese: »I can’t leave Llinos.«

Manod wird auf­grund ihrer schu­li­schen Leis­tun­gen und ihrer sehr guten Sprach­kennt­nis­sen von Joan für so etwas wie Sekre­tärs­ar­bei­ten her­an­ge­zo­gen: »Your Eng­lish is per­fect, you could pass as an Eng­lish woman« – völ­lig außer­ge­wöhn­lich in tiefs­ter wali­scher Pro­vinz. Manod aber träumt: »I thought about a trai­ning to be a tea­cher on the main­land. But my father needs me here for now.« ver­traut sie Joan an. Und erschrickt, wenn sie auf ihr bil­li­ges, stra­pa­zier­tes Kleid her­ab­blickt. Auch die kleine Schwes­ter wird älter, ein gleich­alt­ri­ger Junge wollte die Haare an ihren »pri­vate parts« sehen. »Don’t show it to him« wird sie von ihrer Schwes­ter kurz beschie­den, mehr sagt man dort nicht zu dem Thema Pubertät.

Als Joan ein Foto von Manod macht, ist es das erste von ihr, seit sie ein Baby war. Ein Lied, was sie singt, wird von Edward auf­ge­nom­mén. Joan wird sie die Insel zei­gen – einen Ent­gelt sieht sie dafür nie, nur die bei­den eng­li­schen For­scher. Die Leser pro­fie­ren dage­gen von den im Buch ein­ge­streu­ten Tex­ten über­lie­fer­ter wali­si­scher Volkslieder.

In Kurz­form würde ihr Leben auf der Insel »nor­ma­ler­weise« so aus­se­hen, merkt Manod an:»I’d seen girls mar­ried at six­teen, with child­ren by twenty, wido­wed by the sea at twenty-five, worn-out and lost.«

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Das Cover der deut­schen Ausgabe

Und wenn ihr Vater zu wenig Hum­mer gefan­gen hat, heißt das zu wenig zum Ver­kau­fen und zu wenig zum Essen. Was Manod deut­lich macht: »We could’nt rely on Tad any­more.« Gleich­zei­tig hat sie Angst vor einem Leben auf dem Fest­land, volle, über­be­legte Häu­ser, Lärm und Schmutz von den Koh­le­gru­ben. Die Eng­län­der notie­ren: »The uncer­taincy of get­ting to the main­lands domi­na­tes life on the island.«

Sie regis­trie­ren, dass die Kin­der am Strand spie­len, Kin­der­reime auf­sa­gen oder sin­gen, eine Rie­sen­zahl von Spie­len ken­nen, abseits des Übli­chen: »Brandy Wicket,…Crab King, Mag­pie Cat­cher, Jib Job Jere­miah, Wea­ving Needles…uvm. Am Abend, wenn die Schafe ans Ufer kom­men, wer­den sie in die Spiele hineinbezogen.

Joan erzählt, dass ihre Liebe zur Natur vom Vater her­komme, der hätte Blu­men gezüch­tet und Renn­tau­ben. Nur: Das waren seine Hob­bies, die Insu­la­ner aber leben von der Natur. Für die­sen Unter­schied erscheint die Eng­län­de­rin blind. Schenkt aber Manod einen Lip­pen­stift, der hat eine Farbe, wie die Krebse am Bauch bemerkt diese. Die Erzäh­lung wird dazu gespickt von über­lie­fer­ten Geschich­ten, Volks­mär­chen, Sagen. Aber als ein Schaf­bauer eine Über­lie­fe­rung wie­der­gibt, fragt die Anthop­ro­lo­gin, was die Quelle dazu wäre.

Über­lie­fert auch die Geschich­ten von den Mee­res­ni­xen, die als See­hunde an Land kön­nen, ihre See­hunds­haut able­gen und mensch­lich aus­se­hen. Und von denen eine ihre See­hunds­haut nicht mehr fin­det und nie wie­der Nixe sein kann. Ein Motiv, das man ähn­lich von ande­ren meer­na­hen Völ­kern kennt, z.B. in Skan­di­na­vien. Der Wal wird eines Tages, auf Hin­weis von Joan von den Män­nern einer Behörde aus­ge­schlach­tet, abge­wrackt und abtrans­por­tiert. Die Insu­la­ner hat man nicht gefragt.

Zitiert wird auch ein anrüh­ren­des Bewer­bungs­schrei­ben des mit Manod gleich­alt­ri­gen Lew, »I am 18 years old and in want of a wife…« – mit Ent­set­zen sieht Manod, wie die Eng­län­der bei die­sem Schrei­ben in Lachen aus­bre­chen. Seine Job­su­che muß Lew auf­ge­ben, er geht zur (eng­li­schen) Armee, wir schrei­ben 1938/39.

Edward nutzt die Uner­fah­ren­heit Man­ods aus, um mit ihr zu schla­fen, denkt aber nicht im Traum daran, Manod wie ver­spro­chen aufs Fest­land mit zu neh­men, ein Eng­län­der gegen­über einer Wali­se­rin eben. Manod blei­ben ihre Träume: »There was so much of the world, I had not seen«.

Viel schlim­mer wird es, als die Oxfor­der einen der Fischer an einer äußerst gefähr­li­chen Stelle in den Klip­pen zum Posie­ren für Fotos brin­gen. Und etwas zei­gen soll, was mit dem, wie die Insu­la­ner fischen, nichts zu tun hat. Man­ods Ent­set­zen und Kri­tik daran wird von Joan brüsk abge­bü­gelt. Manod erkennt prä­zise: »The island that’s in your head and I don’t think its exists.«. Nach Joans Abreise fin­det Manod Noti­zen von Joan über die Insu­la­ner, abschät­zig, ver­stö­rend, Manod ist ent­setzt. Als Edward den Gesang der Insu­la­ner in der Kir­che auf­zeich­net, erträgt Manod diese kul­tu­relle Aneig­nung kaum noch.

Noch vor dem hohen wali­si­schen Brauch­tums­fest »Mari Lwyd« (zwi­schen Weih­nach­ten und Neu­jahr) ver­las­sen die Bri­ten bei Nacht und Nebel die Insel, sie könn­ten sich das Fest ja woan­ders anse­hen, schrei­ben sie. Und Manod fin­det in den auf der Insel zurück­ge­las­se­nen Unter­la­gen der Insel reich­lich Abschät­zi­ges. Über sie hat man notiert: »…mature, but unexperienced…«

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Vor der wali­si­schen Lleyn-Halb­in­sel im wali­si­schen County Gwy­nedd liegt Bard­sey Island, wali­sisch Ynys Enlli. | Eine der Inseln, die die Autorin bei ihrem Roman im Kopf hatte.

Manod ist auch ein künst­le­ri­sches Talent, sie stickt ganze Bil­der, beschreibt diese den Eng­län­dern lang und aus­führ­lich, bis ihr die Hand weh­tut. Und leiht Joan schließ­lich etli­che. Die diese lei­der »ver­gisst« zurück zu geben. Selbst als Manod bei Tau und Tag am Rück­rei­se­tag der Eng­län­der am Was­ser ist, die Sti­cke­reien sind weg [embro­idery = Sti­cke­rei, wird in der deut­schen Fas­sung tw. falsch als »Stri­cke­rei« übersetzt].

Nach der über­stürz­ten Abreise der Eng­län­der, die alle Ver­spre­chun­gen Manod gegen­über »ver­ges­sen« haben, und im Aus­klang der Fest­um­züge des wali­si­schen »Mari Lwyd« schreibt sie einen Brief an ihre bereits aufs Fest­land gezo­gene Freundin:»I’m going to the main­land. Taking Lli­nos if she’ll come. I’ll find work, buy a house. And God have Mercy, never marry.«

Im Fazit

Die Insel, das rück­stän­dige, ein­same Leben ist spar­sam, aber prä­gnant dar­ge­stellt. Ein­drucks­voll wider­ge­spie­gelt die Natur und das Leben der Insu­la­ner, »who worked the sea«, wie es in einem iri­schen Lied heißt. Die junge talen­tierte und wiss­be­gie­rige Manod könnte zur Mitt­le­rin zwi­schen der alten wali­si­schen Insel­kul­tur und der moder­nen Welt wer­den. Wären da nicht die Bri­ten und ver­such­ten in typi­scher Kolo­ni­al­ma­nier die fremde Kul­tur aus­zu­sau­gen und für sich zu ver­ein­nah­men. Stell­ver­trend steht dafür der Raub der Sti­cke­reien von Manod durch die Oxfor­de­rin Joan. Und die halt­lo­sen Ver­spre­chun­gen des eng­li­schen Anthop­ro­lo­gen Edward, dem Schä­fer­stünd­chen mit der jun­gen Manod offen­bar als »Kul­tur­aus­tausch« genü­gen. Des­sen ange­lern­tes Wali­sisch so schreck­lich falsch bleibt und der die Insu­la­ner und ihre Kul­tur nie ver­ste­hen wird.

O’Connor erzählt in knap­pen Abschnit­ten und läßt den Leser mit fort­schrei­ten­der Hand­lung mit dem Insel­le­ben ver­traut wer­den. Das geschieht sehr all­mäh­lich und erzeugt eine ange­nehme Lese­span­nung, man lernt immer mehr.

Der titel­ge­bende gestran­dete Wal, der so vie­len Insel­krea­tu­ren Res­sour­cen bie­tet, steht sinn­bild­lich für das Schick­sal frem­der Kul­tu­ren und Iden­ti­tä­ten in und mit Groß­bri­tan­nien: Aus­ge­nom­men, aus­ge­raubt und ange­eig­net, fremde Iden­ti­tä­ten abge­wrackt. Egal ob Irland, Schott­land oder Wales: Brit­anna rules the waves!

Ein ein­drucks­vol­ler Erst­ling von Eliza­beth O’Connor, eine beson­dere Leis­tung für eine Autorin aus den eng­li­schen Mid­lands (Bir­ming­ham) der­art sen­si­tiv ein wali­si­sches Sze­na­rium wie­der zu geben.

Sehr lesens­wert!


Zur Autorin

Dr. Eliza­beth O’Connor hat ihren aka­de­mi­schen Grad in Eng­li­scher Lite­ra­tur an der Uni Bir­ming­ham erwor­ben. Das Buch hat sie in rund 4 Jah­ren geschrie­ben, anhand von Noti­zen, die sie wäh­rend ihrer Arbeit in einem Café gemacht hat. Der Inhalt ihres Erst­lings basiert auf Erin­ne­run­gen der Groß­el­tern. Dr. O’Connor ist dabei Wali­sisch zu ler­nen, ent­spre­chend hat sie wali­si­sche Wör­ter und Aus­drü­cke in ihren Roman geflochten.

Die Rezen­sion erfolgte anhand des eng­li­schen Ori­gi­nals »Whale Fall«, wäh­rend im Mai letz­ten Jah­res (2024) von Astrid Finke über­setzt als »Die Tage des Wals« die deut­sche Aus­gabe bei Pen­giun erfolgte.

2025 rezensiert, Elizabeth O´Connor, Fischer, Insel, kulturelle Aneignung, Wales, Überlieferung